Die Fahrt in den Abgrund - Ken Hughes (1957)

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Maulwurf
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Die Fahrt in den Abgrund - Ken Hughes (1957)

Beitrag von Maulwurf »

 
Die Fahrt in den Abgrund
The long haul
Großbritannien 1957
Regie: Ken Hughes
Victor Mature, Gene Anderson, Patrick Allen, Diana Dors, Liam Redmond, Michael Wade, Dervis Ward, Murray Kash, Jameson Clark, Roland Brand, Barry Raymond, John Welsh, Susan Campbell, John Harvey, Stanley Rose, Peter Reynolds, Meier Tzelniker


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OFDB

Robert Zion definiert in seinem Text zu DIE FARM DER GEHETZTEN den Film Noir wie folgt: „ … das Leben [ist] ein unerbittlicher Abstieg, getrieben von machtvollen äußeren Umständen, die alle Sehnsüchte und Hoffnungen in einen persönlichen Albtraum verwandeln.“ Und fast scheint es, als ob er DIE FAHRT IN DEN ABGRUND beschreibt …

Der Film beginnt in Starnberg(!), wo der US-Soldat Harry Miller seinen Dienst quittiert um endlich wieder nach Hause zurückkehren zu können. Aber seine Frau Connie, eine gebürtige Engländerin, will nicht in die USA, sie möchte mitsamt Harry und Sohn Butch zu ihrer Familie nach Liverpool. Und Harry könnte dort sogar einen Job bekommen. Um des lieben Friedens willen gibt Harry nach und landet also in England, wo er bei Onkel George einen Job als Fernfahrer bekommt. Das Geschäft ist einfach: Wer am meisten fährt und am wenigsten schläft bekommt das meiste Geld. Man kann sich aber auch mit dem organisierten Verbrechen arrangieren, wie Harrys Kumpel Casey es tut. Casey verhökert einen Teil seiner Fracht, und als Harry bei einer Pause zufällig beobachtet, wie Gauner Caseys LKW ausrauben, ohne das Wissen um Caseys Geschäfte, da geht er mit seinen harten Fäusten dazwischen – Und schafft sich eine Menge Probleme! Denn derjenige, der die Rückfrachten organisiert, Joe Easy, ist der Drahtzieher der Gangster, und der findet Störenfriede wie Harry zum Kotzen. Harry wiederum sieht in Easys Büro eine aufregende Blondine: Lynn, Easys Geliebte. Und die wiederum merkt schnell, dass Harry nicht so ein Brutalinski ist wie ihr Joe, sondern eigentlich ein nach Liebe suchender. Und während sich Harry und Lynn immer näher kommen, und Harry sich gleichzeitig seiner Familie immer mehr entfremdet, kommt er dabei zunehmend in die Situation, dass er genau das machen muss was Joe will: Gefährliche Fahrten übernehmen, bei Raubzügen aufpassen … Und dann gibt es einen Toten: Casey …

Harry mag vielleicht nicht der Erfolgreichste oder der Ambitionierteste sein, aber er hat seine kleine Familie, die er sehr liebt, und er hat den Traum, bei seinem Kumpel Al in den USA groß ins Geschäft einzusteigen. Aber stattdessen fährt er LKWs von Liverpool nach Glasgow, und selbst das findet ein jähes Ende, als er auf die Abschussliste der Gangster gerät. Harry wird arbeitslos und muss sich mit den Drecksjobs zufriedengeben, die Joe Easy ihm zuschustert. Und die alle nicht so ganz sauber sind. Lynn? Die Liebesnacht mit Lynn führte dazu, dass ihm sein LKW unter der Nase gestohlen wurde, und er bezichtigt natürlich Lynn der Komplizenschaft mit Joe Easy. Nein, so hatte sich Harry das Leben nicht vorgestellt - Dass alle seine Sehnsüchte und Hoffnungen sich so schnell in einen persönlichen Albtraum verwandeln.

Und je tiefer Harry sinkt, desto schwärzer wird der Film. Fast alle Szenen spielen bei Nacht, oft regnet es, als ob der Himmel die Menschen noch stärker ins Elend pressen will, und die einzigen Momente die längere Zeit im Tageslicht spielen sind gegen Ende zu sehen, wenn Harry einen LKW mit geklauter Ware mitten durch das schottische Hochland bugsiert, und sich nicht nur der äußerst widerborstigen Natur erwehren muss, sondern auch noch einen knüppelharten Kampf mit Joe Easy ausfechten muss. Hier wird DIE FAHRT IN DEN ABGRUND mit einem Mal zum Western, wenn sich Männer, die nichts mehr zu verlieren haben, rücksichtlos und bis auf den Tod mit Fäusten beharken und versuchen, sich gegenseitig in einem Fluss zu ertränken. Das Archaische der Kontrahenten und das Wilde und Unbeherrschte kann hier, inmitten der Wildnis, raus; all die Frustrationen und der aufgestaute Druck werden am Gegenüber ausgelassen und nur einer kann übrigbleiben.

Dies funktioniert vor allem deswegen so gut und ist deswegen so außerordentlich spannend, weil Victor Mature als Harry im Laufe des Filmes immer mehr in den Hintergrund rückt. Zwar wird die Geschichte konsequent aus seiner Sicht erzählt, aber die eigentliche Hauptfigur wird zunehmend und immer mehr Joe Easy, der stahlharte und rücksichtlose Spediteur und Gangsterboss. Joe Easy hat in Bezug auf Brutalität und Skrupellosigkeit viel Ähnlichkeit mit den Gangstern aus den italienischen Polizeifilmen, und seine Opfer sind genauso wehrlos wie es die Opfer in den Poliziotti so oft sind. Mit seinen harten Augen und der kantigen Visage, den ausufernden Bewegungen und seiner rastlosen Bosheit zeichnet Patrick Allen als Joe Easy das düstere Bild einer Welt, die nur noch von Habgier und Mordlust beherrscht wird, und die kleine und schwache Gestalten wie Harry Miller einfach hinwegfegt, was den Film auf eine unangenehme Weise geradezu modern wirken lässt.. Dazu passt auch der Schluss des Filmes, in dem niemand mehr etwas gewonnen hat. Harry, Connie, Lynn, alle haben verloren, und niemandem wird ein richtiges Happyend gegönnt. Das Böse in Gestalt von Joe Easy (Allein die Namenswahl: Wie leicht es doch ist, Gangster zu sein und damit zu Reichtum und Macht zu kommen) hat über alle braven und anständigen Menschen gewonnen. Gerade dass es in diesem Moment ausnahmsweise mal nicht regnet …

Und die Liebe? Liebe ist nur ein Wort! In der Ehe zwischen Harry und Connie kriselt es schon seit langem, und ohne den Sohn Butch wäre die Beziehung schon lange vorbei. Das Gangsterliebchen Lynn? Die sucht die Liebe, die sie in ihrem früheren Job als Animiermädchen nie gesehen hat, und sie blieb nur bei Joe, weil der sie aus diesen Schweineläden (Originalton) rausgeholt hat. Und weil Joe Easy ihren Bruder beschäftigt, einen Vorbestraften, dem niemand jemals wieder einen Job geben würde. Lynns inbrünstig beschworene Liebe zu Harry ist in Wirklichkeit die Verzweiflung einer älter werdenden Frau, genauso wie die Angst vor der Einsamkeit. Nichts, was etwas mit Liebe zu tun hat. In dieser Welt gibt es keine Liebe. Nur zweckmäßige Beziehungen, die am Ende dann doch niemandem nützen. Und vor allem kein Glück bringen.

DIE FAHRT IN DEN ABGRUND ist in Wort und Ton genauso düster wie sich das hier liest. Ein Noir, ein ausgesprochener und in allen seinen Facetten zutiefst pessimistischer Noir, der mit tollen Bildern und einer sehr spannenden Umsetzung punktgenau erzählt ist und absolut keine Gefangenen macht. Große Empfehlung!

8/10
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