Cinema Ritrovato - 23.06.-1.07.2018

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Salvatore Baccaro
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Cinema Ritrovato - 23.06.-1.07.2018

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Neues Jahr, neues Glück...
Mein persönliches Festival-Tagebuch:

Sabato 23 Guigno

La fortuna di essere donna (Alessandro Blasetti, Italien 1955), 96‘
Gleich der erste Film des Festivals, den ich sehe, entpuppt sich als wandelnden Anachronismus und Produkt seiner Zeit, an dem ich kaum ein gutes Haar lassen kann: Sophia Loren und Marcello Mastroianni verknallen sich ineinander. Sie ist Sekretärin, die als Model großrauskommen will. Er ist Photograph, der sie als Model großrausbringen will. Da sie einander ihre Liebe nicht einfach gestehen, und den Film damit frühzeitig zu Ende bringen, gibt es turbulente Verwickelungen, alberne Gags und intellektueller Leerlauf en masse. Das (italienische) Publikum grölt, während ich mich in Krämpfen winde.

Alien (Ridley Scott, USA/GB 1979), 116’
Mir zuvor freilich nicht unbekannte Mixtur aus dem künstlerischen Ansatz von Kubricks 2001 und reinrassigem B-Movie-Science-Fiction-Horror. Auf der großen Leinwand reicht schon die Vorspannsequenz mit ihrem Düster-Ambient und einem Kameraschwenk durch die schwarzen Weiten des Alls, um mir eine Gänsehaut zu bescheren. Ansonsten fährt die Kamera elegisch durch ellenlange Raumschiffflure, erkundet die verschwitzten, verängstigten Gesichter seiner Helden und vor allem Heldinnen, und erinnert mich mit Großaufnahmen von Jones daran, wie toll es ist, wenn in einem Film entweder Affen oder Katzen vorkommen.

Domencia 24 Guigno

Chapaev (Sergey Vasilev, Georgi Vasilyev, UDSSR 1934), 95’
Biopic über einen tatsächlich existierenden Rote-Armee-Kommandanten, der 1919 im Russischen Bürgerkrieg fiel. Grob-schlächtig ist vielleicht das Wort, das auf diesen linientreuen, seine Protagonisten reihenweise für Lenin ins Kreuzfeuer der gegnerischen Truppen schleudernde Propagandastreifen passt wie die Faust aufs Auge. Eine primitive Liebesgeschichte, viel Schlachtenlärm und ein Loblied auf den Bauern- und Arbeiterstand runden diese vergnügliche Reise in eine Zeit ab, als an öffentlichen Gebäuden das Konterfei Stalin überlebensgroß prangte.

General Allenby’s Entry into Jerusalem (Thomas Lowell, Großbritannien 1918), 2’
Der britische Kommandeur der alliierten Truppen auf dem Sinai und in Palästina reitet in diesem Newesreel-Fetzen in Jerusalem ein. Die Armee tut das ihrige, um die Ankunft Allenbys gebührend mit Fanfaren zu feiern.

Gerusalemme liberate (Enrico Guazzoni, Italien 1918), 63‘
Ein Film, den ich immer schon einmal sehen wollte: Guazzonis Remake seines eigenen, auf einem Versepos Torquato Tassos basierenden Kreuzfahrerabenteuers von 1911, das randvoll ist mit all dem naiven Kram, den ich an diesen frühen Monumentalfilmen so liebe: Eine muslimische Heerführerin verliebt sich in einen Kreuzritter der Gegenseite. Ein un-schuldiges Christenpärchen wird von den islamischen Horden bei lebendigem Leib verbrannt. Die Plastikschwerter zittern oft und gerne im Wind. Am Ende erscheint Jesus höchstpersönlich, um die Befreiung Jerusalems abzusegnen.

Victimas Del Pecado (Emilio Fernández, Mexiko 1951), 90’
Ein mexikanischer Rumba-Film wie aus dem Bilderbuch: Wenn der von in Mülltonnen geworfenen Säuglingen, von Macho-Zuhältern, die zulangen, wenn man ihnen nur einen schiefen Blick zuwirft, und von Nachtclubtänzerinnen, die unter vollem Körpersatz die Freuden des Sexus zelebrieren, bevölkerte Plot andauernd von himmelschreiender Komik zu bitterem Ernst wechselt, sprich, von Slapstick-Einlagen unbekümmert zu expliziten Gewaltszenen gegenüber Frauen und Kindern um-schaltet, oder von melodramatischen Momenten zu anzüglichen Gesangsnummern kippt, bin ich in meinem Element wie ein Fisch im Wasser.

Rosauro Castro (Roberto Gavaldón, Mexiko 1950), 83’
Noch einmal Mexiko, nun eindeutig mit dem Pegel auf der ernsten Seite: Titelheld Rosauro Castro ist ein übler Macho, der aufgrund seines politischen Einflusses ein ganzes Dorf in seiner Gewalt hält. Gezeigt wird ausnahmslos der Fall dieses schlimmen Zeitgenossen, der spätestens, wenn er versehentlich den eigenen kleinen Sohn erschießt, zur tragischen Held mutiert. Laut Filmeinführung hat Regisseur Gavaldón seinen mit sachten film-noir- und Western-Tendenzen umkränzten Film durchaus als Statement zur politischen Situation im Nachbürgerkriegs-Mexiko verstanden wissen wollen.

Malchik i devochka (Yuliy Fayt, UDSSR 1966), 70’
Eine der Überraschungen des Festivals: Weder von Film noch Regisseur habe ich zuvor jemals etwas gehört. In der Einfüh-rung wird von einem der seltenen Beispiele für die sowjetische Nouvelle Vague gesprochen. Mit Godard und Truffaut hat die berührende, teilweise sehr witzige, in tollen Farbbildern erzählte coming-of-age-Geschichte einer ungewollten Schwan-gerschaft und des Erwachsenwerdens der titelgebenden Eltern wider Willen wenig zu tun, sondern ist ernster, realistischer, wenn auch nicht ohne metareflexives Augenzwinkern. Die Projektion erfolgte in Anwesenheit des Regisseurs.

The Birds (Alfred Hitchcock, USA 1963), 120’
Was anfängt wie eine etwas behäbige und unwahrscheinliche Liebesgeschichte verwandelt sich sukzessive in einen Terror-film über Vögel, die ohne ersichtlichen Grund damit beginnen, die Einwohner eines Küstenorts nahe Los Angeles um Leib und Leben zu bringen. Einige logische Schnitzer und einige Langatmigkeiten des Drehbuchs mindern zwar den Gesamtein-druck. Wenn die Suspense greifen soll, tut sie das allerdings mit vollzupackenden Händen. Die Tonspur, angefüllt von künstlich verzerrtem Vogelgekreisch, verfolgt mich bis in den wohlverdienten Schlaf.

Lunedì 25 Guigno

Fiume 1918 (Luca Comerio, Italien 1918), 8’
Ansichten des ehemaligen italienischen Küstenstädtchens Fiume, das heute Rijeka heißt und in der Kvarner-Bucht in Kroatien liegt.

Mariute (Italien 1918, Edoardo Bencivenga, Italien 1918), 9’
Meta-Film mit Italo-Diva Francesca Bertini, von dem allerdings nur noch wenige Minuten überliefert sind: Bertini spielt sich selbst am Set eines Films, wo sie dann aber der Schlaf übermannt, und sie davon träumen lässt, sie müsse die Schrecken des tobenden Weltkriegs am eigenen Leibe in Gestalt einer Vergewaltigung erfahren, und, wieder erwacht, ihr Publikum dazu aufruft, sofort zur Waffe oder wenigstens zur Kriegsanleihe zu greifen.

Tosca (Alfredo De Antoni, Italien 1918), 10
Nur unvollständig erhaltene Verfilmung der gleichnamigen Verdi-Oper, namentlich: nur des dritten, auf der Engelsburg angesiedelten Aktes, wo Tosca, erneut gespielt von Bertini, ihren toten Geliebten Calvaradossi in die Arme schließt.

Skids and Scalawags (Larry Semon, USA 1918), 9’
Wie diese US-amerikanische Slapstick-Orgie in ein Programm zu italienischen Filmen von 1918 geraten ist? Keine Ahnung. Aber mein Bauch hüpft sehr, während er dabei zusieht, wie der Versuch, die Geliebte vor der Zwangsehe mit einem Tölpel zu erretten, für den Liebenden und das komplette Umfeld in einer Zerstörungsarie mündet, bei dem Fäuste und Fahrvehi-kel und was weiß ich noch alles nur so durch die Lüfte fliegen.

Leggenda di Santa Barbara (Anonymus, Italien 1918), 11’
Oder: Wie die Heilige Barbara das Feuerwerk erfindet, um sich und ihre christlichen Schwestern und Brüder vor den an-stürmenden Heiden schadlos zu halten. Man kann sich das, wenn man auf blauäugige Hagiographien mit kindlichen Ef-fekten steht, gerne anschauen, muss man aber nicht.

Carnevalesca - V atto (Amleto Palermi, Italien 1918), 17’
Auch von CARNEVALESCA liegt heute leider nur noch der letzte Akt vor – in diesem Fall: der fünfte, wo ich relativ kon-textlos zusehe, wie eine Frau einen Mann umbringt, den sie für den Mörder ihres Vaters hält, obwohl der wahre Mörder jemand ganz anderes ist, der ihr daraufhin ins Gesicht lacht, und anschließend aber ebenso nicht ohne Strafe auskommt.

Kinonedelja no.4 (Dziga Vertov, Russland 1918), 6’
Vertov vor seiner Zeit als Ikonoklast: Wenig unterscheiden sich die Ansichten von russischer Stadtarchitektur, Alltagsleben und Straßenumzügen von dem, was man sonst in Wochenschauen dieser Zeit findet. Würde nicht Vertov draufstehen, ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass er drinsteckt.

Baryshyna I Chuligan (Yevgeni Slavinsky, Vladimir Mayakovsky, Russland 1918), 49’
Möglicherweise mein persönlicher Festival-Höhepunkt: Mayakovsky war nicht nur Dichter, sondern hat auch ein paar Ausflüge in die Kinematographie unternommen. Vorliegendes Werk, wo er nicht nur das Drehbuch verfasste, Co-Regie führte, sondern auch eine der Hauptrollen verkörpert, zeigt ihn uns als einen ungehobelten Rüpel, der einer zierlichen Lehre-rin nachstellt. Verdient hat er seinen Ehrensockel in meinem Pantheon für abwegige Filmstreifen allein wegen eines Statisten – den Lümmel in der ersten Bank! -, der es keine zwei Sekunden aushält, nicht irgendwelche Grimassen zu schneiden oder sonstige Faxen zu machen. Ich LIEBE diesen Film!

Carita de Cielo (José Díaz Morales, Mexiko 1947), 69’
Früher Rumbera, der – im Gegensatz zu VICTIMAS DEL PECADO vom Vortrag – eher auf den Schienen „Telenovela“ und „schwachsinnige Komik“ fährt, d.h., sich daran erfreut, seine allesamt psychologisch komplett unglaubwürdigen Figuren in allerhand wahnwitzige Situationen und Liebeskonstellationen zu versetzen, und den bunten Reigen nur unter-bricht, um unmotiviert Tanz- und Gesangs-Szenen einzustreuen. Allerdings müsste ich lügen, würde ich behaupten, ich hätte da meinen Gefallen nicht dran, da mögen die Menschen um mich herum noch so sehr stöhnen und vor Scham die Hände vorm Gesicht zusammenschlagen.

Sōshun (Yasujirō Ozu, Japan 1956), 144’
Für manche Filme muss man in der rechten Stimmung sein. Dieser typische Ozu, der sich von dem, was ich von dem japa-nischen Regisseur bislang kenne, höchstens durch die exorbitante Laufzeit und dadurch unterscheidet, dass er das Ehe-glück bzw. -unglück mehrerer Pärchen verhandelt, und die Beziehungen zwischen den Generationen, sonst Ozus Lieblings-thema, kaum auch nur mit der Fingerspitze antippt, hat mich bedauerlicherweise auf dem falschen Fuß erwischt. Obwohl sicherlich ein großartiger Film, schweifen meine Gedanken dauernd ab. Ich schlafe mit offenen Augen.

Prisioneros de la Tierra (Mario Scoffici, Argentinien 1939), 85’
Wichtig für die argentinische Filmgeschichte, da hier erstmals harsche Themen wie Alkoholismus, Arbeitslosigkeit und Klassen- bzw. Rassenunterschiede so harsch behandelt werden wie sie es verdienen. Der Einstieg ist ein bisschen müßig, doch mit zunehmender Laufzeit saugt mich die Spirale düsterer Verkettung immer weiter auf, und das Finale mit Tod und Freitod hätte man kaum deprimierender gestalten können. Kinematographisch/ästhetisch gehört das Ganze durchaus in den Sektor „Proto-Neorealismus.“


Martedì 26 Guigno

Porucik Kize (Aleksandr Fajncimmer, UDSSR 1934), 86’
Man kann also auch aus mit einem einzigen Gag – ein Leutnant, der gar nicht existiert, und für alle Beteiligten daher not-gedrungen unsichtbar bleibt, wird vom Zaren in die höchsten Amtsränge gehievt, verehelicht sich, fällt in Ungnade usw. –, einen kompletten neunzigminütigen Film bestreiten. Dass unter Stalin überhaupt derartig groteske, teilweise regelrecht surreale Gesellschaftssatiren auf das weggewischte Zarenreich gedreht worden sind, hätte ich bis vor Kurzem nicht mal zu träumen gewagt.

A Deusa Negra (Ola Balogun, Nigeria/Brasilien 1980), 95’
Ein junger Brasilianer auf der spirituellen Reise in die Vergangenheit: Mittels Magie versetzt er sich in die Haut seines Stammvaters zurück, der einst von Portugiesen aus Nigeria über den Atlantik verschleppt worden ist. Ein fiebriger Afro-Funk-Soundtrack treibt uns durch die Jahrhunderte, und steht in Opposition zu der weitgehend meditativen Bildsprache und Montageleistung, die man wohl entweder ermüdend oder als sedativen Sog empfinden kann. Die Projektion erfolgte in Anwesenheit des Regisseurs.

Xiaocheng zhi chun (Fei Mu, China 1948), 98‘
Wäre dieser Film nicht im China des Jahres 1948 gedreht worden, sondern in Hollywood zur gleichen Zeit, würde heute wohl kein Hahn mehr danach krähen: Unfassbar statisch, fernab jeder Dynamik, verhandelt Fei Mu eine Dreiecks-Groschenroman-Beziehung zwischen junger Ehefrau, kränklichem Gatten und vor Vitalität strotzendem Hausfreund, die so ausgeht wie sie beginnt: Sang- und klanglos mit einem Understatement, gegen das Ozu sich wie Tarantino gebärdet.

Voyage au Congo (Marc Allégret, André Gide, Frankreich 1927), 117‘
Die Anti-These zu jedem Mondo-Film: Ehrlich an den Gebräuchen und Sitten der Volksstämme interessiert, die Gide und Allégret während ihrer Kongofahrt besuchen, hält der Film Abstand von jedwedem rassistischem oder kolonialistischem Klischee, und begnügt sich damit, seine Studienobjekte minutenlang beim Brotbacken zu zeigen, sich an der exotischen Flora und Fauna zu ergötzen, und mit Rousseau’schem Unterton vom Paradies auf Erden zu schwärmen, in dem diese Naturstand-Menschen noch verhaftet seien. Ausgedehnt auf zwei Stunden Laufzeit nicht unbedingt das, was man kurz-weilig nennt.

C’era una volta il West (Sergio Leone, Italien/USA 1968), 165‘
Genre-Apothese und -Requiem in einem, großspurig gefeiert mittels nahezu barocker Bildkompositionen, die man sich gerahmt ins Boudoir hängen möchte. Auf der großen Open-Air-Leinwand auf der Piazza Maggiore mitten in der Bologne-ser Altstadt wird mir das, was ich bislang immer als visuell überzeugenden, aber letztlich doch nicht mein Herz wirklich zum Klopfen bringenden Italo-Western empfunden habe, schon eher so nahegebracht, dass ich anfange zu verstehen, weshalb so viele Leute diesen Film so sehr verehren.


Mercoledì 27 Guigno

Pesnya o shchastye (Mark Donskoj, Vladimir Legošin, UDSSR 1934), 85‘
Ein junger Mann vom Volk der Mari hält sich des Totschlags für schuldig, wird zum Landstreicher und Dieb, landet im Gefängnis, wo man allerdings sein Potential als Musiker erkennt. Zur Rehabilitierung wird er an eine Musikhochschule geschickt und zum Flötisten ausgebildet. Als ihn seine Jugendliebe besuchen kommt, holt ihn die Vergangenheit ein. Putzi-ges Filmchen mit folkloristischen Obertönen, einer unschuldigen Liebesgeschichte und wenigen Momenten, in denen die sowjetische Staatspropaganda sich über die narrative Dynamik erhebt.

Pixote: A Lei do Mais Fraco (Hector Babenco, Brasilien 1981), 128’
Erschüttert saß ich da, zwei Stunden später: Hector Babenco, ein Regisseur, von dem ich nie zuvor auch nur den Namen hörte, illustriert das hoffnungsleere Leben eines zehnjährigen Buben namens Pixote, der im Jugendknast und später auf den Straßen Brasiliens mit Prostitution, Homosexualität, Drogen, Kriminalität und gesetzesfernen Polizisten konfrontiert wird. Zärtliche Augenblicke stehen winzig klein der dominierenden, teilweise äußerst expliziten Schlüssellochblicke in eine Welt der Gewalt und Korruption gegenüber. Eine wahre Entdeckung!

None Shall Escape (André de Toth, USA 1944), 86’
Jedes Mal, wenn sie ihn sehe, sei sie immer wieder aufs Neue ergriffen, erklärt die den Film einführenden Dame. Ich bin eher befremdet davon, wie prätentiös der Film mit NS-Deutschland ins Gericht geht. Konzipiert als Blick sowohl in die Zukunft wie in die Vergangenheit – nach Ende des Kriegs werden einer (fiktiven) Nazi-Größe namens Wilhelm Grimm (sic!) die Leviten gelesen, was de Toth per zahlloser Rückblenden aushandelt –, ist er letztlich dann vor allem ein (ungewollter) Blick darauf, wie seinerzeit auch auf der gegenüberliegenden Atlantikseite mit Holzhammer-Propaganda nicht sparsam umgegangen wurde.

Durch die Vogesen. Von Münster im Elsass durch die Schlucht Hoheneck nach Geradmer (Deutschland 1918), 6‘
Da sagt der Titel schon alles. Wir fahren mit der Bummelbahn von Münster nach Frankreich rüber. Historisch interessant wegen des zurückliegenden Weltkriegs, sagt die Filmeinführung.

L’Oubli par l’alcool (Jean Comandon, Marius O’Galop, Frankreich 1918), 2’
Ein Warnschuss gegen alle, die dem Alkohol zu verfallen drohen. Aufgemacht als minimalistischer Animationsfilm, ist die Message umso plakativer: Wenn Du einmal Liebeskummer hast, greife bloß nicht zur Weinflasche, denn aus einer werden schnell zwei, und dann drei, usw. Ich habe sofort meinen Perroni-Vorrat ins Klo geschüttet.

Vendémiarie 1-2 Prologue. La Vigne (Louis Feuillade, Frankreich 1918), 75’
Da weiß man, was man an Abel Gances J’ACCUSE hat: Auch Louis Feuillade dreht für Gaumont etwa zeitgleich eine verzwickte Erster-Weltkriegs-Geschichte, nur ist der noch immer im eher statischen Serial-Stil der frühen 1910er verhaftete Film seinem französischen Konkurrenten haushoch unterlegen. Zwei als Saisonarbeiter verkleidete deutsche Soldaten ver-dingen sich in einem Weinbaugebiet weit hinter der Front, und planen schlimme Dinge wie, sich die Schätze eines Weinbau-ern anzueignen, einer alleinerziehenden Mutter die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben, und ein Attentat zu begehen, das dem Erzfeind die Trümmer seiner Kultur um die Ohren fliegen lassen soll. Zum Glück ist der hehre, mit Kriegsabzei-chen bedeckte Held zur Stelle, um dies alles zu vereiteln.

Âmes de fous (Germaine Dulac, Frankreich 1918), 30’
Originelle Idee, diesen weitgehend verschollenen frühen Film Dulacs doch irgendwie auf die Leinwand zu bringen. Zu den wenigen Fragmenten - insgesamt nicht mehr als eine Minute Laufzeit -, sowie einer Unmenge an Produktionsphotos lesen ein Herr und eine Dame von der Cinematheque Francaise das Originaldrehbuch vor.

The Bond (Charles Chaplin USA 1918), 10’
Charlie Chaplin auf Propagandistenfüßen: Nachdem er uns gezeigt hat, was es alles für unterschiedliche zwischenmensch-liche Banden gibt – das Band der Freundschaft, das Band der Liebe, das Band der Ehe -, kulminieren die pointierten Slap-stick-Gags in anti-deutschen Ressentiments – der Kaiser höchstselbst kommt von Charlie eins auf den Deckel -, und dem Aufruf ans Publikum, sich auf dem schnellsten Wege Kriegsanleihen zu besorgen. Nun ja.

Vendémiaire 3-4. La Cuve. Le Vin nouveau (Louis Feuillade, Frankreich 1918), 75‘
Neuer Wein in alten Schläuchen: Eine umständliche Rückblende streckt Feuillades Mini-Serial noch weiter in die Länge als es hätte sein müssen. Immerhin, die bitterbösen Deutschen werden dingfest gemacht, und am Ende klingt das Spektakel in einer symbolträchtigen Szene aus: Mit dem gerade gekelterten Wein betrinkt man sich, berauscht vom Traubensaft wie vom endlich einsetzenden Frieden.

Hyènes (Djibril Diop Mambéty, Senegal 1992), 110’
Mambéty, der mit TOUKI BOUKI einen meiner liebsten Filme überhaupt gedreht hat, kehrt nach fast zwanzig Jahren mit seinem zweiten Spielfilm zurück, einer Adaption des Friedrich-Dürrenmatt-Stücks BESUCH DER ALTEN DAME, verlagert indes in die 90er Jahre und in seinen Heimatort Colobane im Senegal. Obwohl das Ergebnis stilistisch nicht halb so wild ist wie TOUKI BOUKI, kann es sich sehen lassen – wenn man allerdings auch das zugrundeliegende Bühnenwerk kennen sollte, um die Story in allen Feinheiten zu verstehen.

Giovedì 28 Guigno

Garmon‘ (Igor’ Savcˇenko, UDSSR 1934), 56‘
Dass die Montage-Kunststücke von Vertov oder Eisenstein mit Beginn der Stalin-Ära nicht einfach spurlos aus dem sowjetischen Kino verschwinden, sondern sich durchaus ihre Nische suchen, um dort subversiv gegen allzu schnöde Systemproduktionen vorzugehen, beweist dieses Kleinod irgendwo zwischen Spiel-, Dokumentar- und Experimentalfilm – laut Untertitel eine „romantische Musikkomödie“ -, die mit Leichtigkeit alles in den Schatten stellt, was Hollywood seinerzeit an Paraden tanzender und trällernder Schauspieler ins Feld geführt hat.

Central Do Brasil (Walter Salles, Brasilien 1998), 113’
Eine pensionierte Grundschullehrerin und ein kleiner Bub, der vor Kurzem seine Mutter verloren hat, begeben sich auf die Suche nach dem Vater des letzteren, und damit auf eine Reise quer durch Brasilien, die genauso sehr über anrührende Momente, stille Komik und feinfühlige Charakterzeichnungen verfügt wie über ein gehöriges Maß sentimentaler Szenen, bei denen der Score mir exakt diktiert, wann mir die Tränchen kullern sollen. Die Projektion erfolgte in Anwesenheit des Regisseurs.

Deliverance (John Boorman, USA 1972), 122’
Blaupause für jeden Backwood-Slasher, und doch so viel mehr: Schon allein wie durch die zurückhaltende Kameraarbeit Spannung erzeugt wird, wenn vier Stadtmenschen mit ihrem Kanu flussabwärts durch eine (noch) unberührte Wildnis rauschen, worauf sie es mit zwei Kretins zu tun bekommen, die nur Schlimmes im Schilde führen, ist schon erstklassig und kommt bei der ebenso erstklassigen 35mm-Kopie genauso zur Geltung wie mein Herz bei der mit Abstand unangenehmsten Szene des Films aus dem Takt.

1898 - Science and Science Fiction
Kurzfilmprogramm, bei dem, unter anderem, einige hypnotisierte Frauen von ihren Hypnotiseuren vorgeführt werden, Docteur Doyen uns eine authentische Tumoraufnahme vorführt, bei dessen graphischen Einblicke in das Innenleben eines Frauenunterleibs die Hälfte des Publikums das Schnaufen anfing, und außerdem die Vorstellung eines Gynäkologiestuhls nebst auf diesem drapierter nackten Frau nur haarscharf an der Grenze zur Pornographie vorbeischrammt.

1898 - Scene fantastiche: Méliès e l’arte del meraviglioso
Zum hunderttausendsten Mal hebt sich der Filmmagier den eigenen Kopf von den Schultern, lässt Pygmalion sich in eine von ihm selbst erschaffene Statue verknallen, und Teufel auftreten, um einen armen Rittersmann zu drangsalieren.

1898 – Le più belle vedute Lumière del 1898
Explosionen im Meer. Tanzenden Hunde. Panoramaaufnahmen aus fahrenden Zügen heraus. Ich könnte mir all das stundenlang anschauen.

Detour (Edgar G. Ulmer, USA 1945), 67‘
Angeblich in zehn Tagen für das Budget eines Schnürsenkels heruntergekurbelt, und nicht zuletzt aufgrund seiner knackigen Laufzeit völlig auf den Punkt genau erzählt: Ann Savage als die wohl biestigste Frauenfigur des gesamten noir-Genres, die unseren bemitleidenswerten Helden Tom Neal herumkommandiert wie ein Feldwebel und den originellsten Filmtod stirbt, den ich seit langem gesehen habe, lohnt allein schon die Wiederentdeckung dieses kleinen, feinen Stücks Spannungskinos.

Suspiria (Dario Argento, Italien 1977), 97‘
Die Welt der Narration wird von grünen, roten, blauen Farbschwämmen aufgefressen. Muss man mehr über den besten italienischen Horrorfilm aller Zeiten sagen? Die Projektion erfolgte in Anwesenheit des Kameramanns.

Venerdì 29 Giugno

Ahdat sanawovach el-djamr (Mohammed Lakhdar-Hamina, Algerien 1975), 177’
Beinahe dreistündiges Epos über die Zeit zwischen 1939 und dem Beginn des algerischen Unabhängigkeitskriegs, erzählt aus der Sicht des Bauern Ahmed, der mit seiner Familie das Hinterland verlässt, um in der Stadt sein Glück zu versuchen, Frau und Kinder bei einer Typhusepidemie verliert, während des Zweiten Weltkriegs zur Armee eingezogen wird, und schließlich sein Leben im anti-imperialistischen Widerstand lässt. Großartige Cinemascope-Bilder und lyrische Momente, aber auch gerade durch die betont nüchtern-distanzierte Erzählweise reichlich mühsame Passagen.

Raggio di sole (Arrigo Frusta, Italien 1912), 15’
Zuckersüßes Kunstmärchen über einen Prinzen, der in Schwermut vor sich hindämmert, und dem als Spiegelbild seiner betrübten Seele die gesamte Flora und Fauna im Ewigen Eis erstarrt ist, der dann aber, auf Initiative seines königlichen Papas, die Liebe in Form eines (weiblichen) Sonnenstrahls findet: Die Statisten in Pinguinkostümen ziehen sich zurück, der Schnee schmilzt, und wenn sie nicht gestorben sind…

La madre e la morte (Arrigo Frusta, Italien 1911), 12‘
Noch mehr Märchenhaftes von Frusta: Eine Mutter begibt sich auf die beschwerliche Reise ins Reich des Todes, um von diesem ihren verstorbenen Säugling zurückzufordern. Als der Gevatter ihr allerdings vor Augen stellt, dass aus ihrem Zögling in späteren Jahren ein Rabauke, Spieler, Säufer und letztlich Mörder geworden wäre, hätte er ihm nicht das Lebens-licht ausgeblasen, stimmt sie der Sentenz zu: Besser ein früher Tod als ein Leben in Schande.

Una partita a scacchi (Luigi Maggi, Italien 1912), 9’
Ein prototypischer Psychopath entfleucht aus dem Tollhaus, eilt zum Bahnhof, und zwingt im nächstbesten Zugabteil einen unbescholtenen Bürger, mit ihm eine Schachpartie auf Leben und Tod zu spielen. Was genau nun die Pointe dieses völlig überdrehten, im besten Sinne sinnbefreiten Spektakels sein soll, kann ich nicht sagen; unterhalten bin ich indes vorzüglich.

La ribalta (Mario Caserini, Italien 1912), 4’
Fragment aus dem Schlussakt eines eigentlich viel längeren Films, aus dem ich nun beim besten Willen nicht zu rekonstruieren vermag, wie das Gesamtwerk ausgeschaut haben könnte.

Buon anno! (Arrigo Frusta, Italien 1909), 6’
Eine weitere Groteske aus der Feder Frustas, in der diesmal ein Bürger am Neujahrstag eine nicht näher erklärte Antipathie dagegen hegt, dass man ihm ein Frohes Neues wünscht. Durch die ständigen Beglückwünschungen gerät er derart in Rage, dass er zu randalieren beginnt, was ihn wiederum ins Zuchthaus bringt, wo er im Delirium Kalenderblätter um sich herumtanzen sieht. Ich bin sehr befriedigt.

La tratta dei fanciulli (Anonymus, Italien 1913), 25’
Ein intriganter Erbschleicher schafft sich ein Kind vom Halse, das ihm und dem Vermögen eines Verwandten im Wege steht, indem er es entführen und anschließend an eine Organisation verschachern lässt, die sich mit dem Handel von Kindern eine goldene Nase verdient. Natürlich bleibt die Rettung genauso wenig aus wie viele melodramatischen Szenen, die dem Filmchen den Eindruck verleihen, man habe es mit einer verwässerten Version der Finalepisode eines klassischen Feuillade-Serials zu tun.

Il ragno (Edoardo Bencivenga, Italien 1913), 17’
Die wunderschöne Live-Klavier-Musik von Antonio Coppola, der all diese frühen Stummfilme begleitet, hat mich bei diesem Filmfragment derart berührt, dass es mir schwerfiel, auf die Bilder zu achten, die wohl die titelgebende Spinne mit einem Zinssystem gleichsetzen, unter dessen Räder eine arglose Dame gerät, als sie beim örtlichen Pfandleiher einen Kredit aufnimmt.

Barbe-Bleue (Gaston Bretau, Frankreich 1898), 1’
Hätte ich nicht gewusst, dass das die Geschichte von Blaubart sein soll, hätte ich es wohl kaum aus den Bildern selbst herausgelesen. Eine Frau öffnet eine Tür im Szenenhintergrund, und erschrickt über das, was sie sieht. Eine zweite tröstet die Panische daraufhin. Ein bärtiger Mann tritt ungestüm hinzu. Fin.

Exécution de Jeanne d’Arc (Gaston Breteau, Frankreich 1898), 1’
Auch Johanna zu erkennen, hätte mir Mühe bereitet, hätte ich nicht den Titel der kurzen Szene gekannt, die uns zeigt, wie eine Frau zum Scheiterhaufen geführt wird, nachdem einige Kirchenleute sie mit drohenden Gebärden dorthin verwiesen haben.

La Vie et la Passion de Jésus-Christ (Georges Hatot, Frankreich 1898), 13’
Lumieres Leben und Leiden Jesus Christus in ausgewählten Tableaus. Meine katholische Seele mag das.

La Tentation de Saint Antoine (Georges Méliès, Frankreich 1898), 1‘
Die Versuchung des Heiligen Antonius als Zirkusnummer: Vor einem stilisierten Kruzifix will der Kirchenvater eigentlich nur in Ruhe beten und Gott huldigen, doch ein paar vom Teufel geschickte Dirnen mühen sich, ihn auf die böse Seite zu zerren. Nicht Méliès bester Film.

Mishima: A Life In Four Chapters (Paul Schrader, Japan/USA 1985), 120’
Produziert von Lucas und Coppola; ausgeführt von einem fast ausschließlich japanischen Team. Paul Schrader will nicht so sehr das Leben des titelgebenden Schriftstellers und politischen Aktivisten auf die Leinwand bringen, sondern entwirft stattdessen ein völlig überladendes Kaleidoskop aus biographischen Ereignissen, Szenen aus Romanen und Theaterstücken Mishimas, und surrealen Traumsequenzen, die sich zu einem Konglomerat verdichten, das jeden, der wohl nie eine Zeile des Japaners gelesen hat, heillos überfordern, wenn auch visuell verzücken wird.

The Godfather (Francis Ford Coppola, USA 1972), 175’
Einer der besten Filme aller Zeiten? Ich hege da meine Zweifel. Aber ein spannendes, dramaturgisch ausgefeiltes, von groß-artigen Darstellern getragenes Mafia-Drama ist Coppolas GODFATHER dann doch geworden. Ich wusste gar nicht mehr, dass Franco Citti darin eine Nebenrolle bekleidet, und habe mich sehr gefreut, ihn zu sehen. Auch wusste ich nicht mehr, wie genial Brando aufspielt, und wie herzzerreißend seine Sterbeszene ist. Auf 35mm ein Erlebnis.
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jogiwan
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Re: Cinema Ritrovato - 23.06.-1.07.2018

Beitrag von jogiwan »

Ein Kessel Buntes und anscheinend dicht gedrängtes Programm. "Pixote" ist natürlich toll, der hat mich auch schon ziemlich mitgenommen. Die Kurzfilme tönen auch interessant und Klassiker auf großer Leinwand gehen sowieso immer. Schön! :nick:
it´s fun to stay at the YMCA!!!



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Salvatore Baccaro
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Re: Cinema Ritrovato - 23.06.-1.07.2018

Beitrag von Salvatore Baccaro »

jogiwan hat geschrieben:"Pixote" ist natürlich toll, der hat mich auch schon ziemlich mitgenommen.
Ach, den kennst Du sogar? Ich hatte nie von ihm gehört, und ihn auch beinahe nicht geschaut, da in den drei anderen Kinos parallel auch sehr interessante Dinge liefen. Wirklich aufwühlendes Stück Kino, das es, wie ich gerade sehe, hierzulande unter dem eigenartigen Titel ASPHALT-HAIE sogar auf DVD zu geben scheint. Kaufempfehlung!
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Arkadin
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Re: Cinema Ritrovato - 23.06.-1.07.2018

Beitrag von Arkadin »

Danke für den tollen Bericht, den ich wieder mit höchstem Entzücken gelesen habe.
Früher war mehr Lametta
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