
Originaltitel: Mondo Candido
Alternativtitel: Blutiges Märchen
Land: Italien
Jahr: 1975
Genre: Ähh…Mondo???
Regie: Gualtiero Jacopetti, Franco Prosperi
Handlung:
Candide, ein naiver und weltfremder aber gleichsam gutmütiger und freundlicher junger Mann, lebt in einer idealistischen Welt. Doch die verbotene Liebe zu Kunigunde, der Tochter des Herrschers, zwingt ihn zur Flucht. Aus dem Idyll vertrieben durchstreift er die Welt, stets auf der Suche nach seiner Geliebten, kommt dabei in diverse Abenteuer und trifft diverse Charaktere, die bei ihm selbst eine Entwicklung zu einem erfahrenen Mann bewirken…
Kritik:
Als Vorlage für das Drehbuch diente die Novelle „Candide oder der Optimismus“, die im 18. Jahrhundert von niemand anderem als dem berühmten Aufklärer Voltaire verfasst wurde. Prosperi und vor allem Jacopetti, welcher schon länger eine Filmadaption dieses Stoffes im Sinn hatte, gehen, trotz dem Beibehalten einiger Passagen, recht frei mit ihrer Vorlage um, fügen neue Schlüsselstellen und Aussagen ebenso häufig hinzu wie sie alte weglassen.
Einige Ereignisse lassen sie dabei in der Zeit Voltaires, während sie andere in die heutige Zeit versetzen. So wird in ihrem Film beispielsweise das ideale Land Eldorado durch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, Amerika, ersetzt und zeitgenössische Ereignisse wie der Krieg in Palästina oder der Konflikt in Nordirland werden zu Stationen auf den Reisen des Candide.
Sie schaffen es jedoch diese gewagte Mischung der Epochen gekonnt umzusetzen, ohne dass sie allzu befremdlich wirken würde. Einerseits hat die Anfangsszene, wie der deutsche Alternativtitel andeutet, stark den Charakter eines Märchens, einer Gattung, in der Zeit und Raum ja ebenfalls nicht deutlich festgelegt sind. Andererseits weisen die Regisseure darauf hin, dass die behandelten Themen in mehreren Epochen Gültigkeit besitzen, indem sie klare Parallelen darstellen. So begegnen uns bestimmte Charaktere in verschiedenen Stationen, wie beispielsweise die preußischen Offiziere, die wir später als irische Soldaten wiedersehen.
Was den Film meiner Meinung nach besonders auszeichnet ist der Dualismus zwischen einer farbenfrohen, ästhetischen, humoristischen Inszenierung und einem durch und durch pessimistischen Weltbild, das sich meiner Meinung nach in drei großen desillusionierenden Thesen, die der Film vermittelt, präsentiert:
Erstens: Optimisten sind Idioten! Dies war schon in Voltaires Original ein Hauptthema, welches besonders durch die Figur des Doktor Pangloss vermittelt wird. Voltaire war ein großer Gegner von Leibnitz Theorie, dass wir in der Besten aller möglichen Welten leben würden, also erschuf er den Charakter Pangloss, den Hofphilosophen des Barons, bei dem Candide aufwächst. Dieser predigt unaufhörlich die These von der Besten aller möglichen Welten, wird aber dabei als eine einfältige und recht negative Figur dargestellt.
Im Film wird er von Jacques Herlin gespielt, der eine grandiose Performance abgibt. Stets von der besten aller möglichen Welten predigend, wird er von dem ganzen Hofstaat bewundert, der ihm, ohne seine Lehren in Frage zu stellen, aufmerksam zuhört und alles was er sagt für bare Münze nimmt. Herlin schafft es jedoch diesen Philosophen ins Lächerliche zu ziehen, ihn wie einen Narren erscheinen zu lassen, wodurch Jacopetti und Prosperi ganz im Sinn Voltaires die Unrichtigkeit seiner Lehren andeuten. Pangloss benimmt sich während er gebildet spricht stets animalisch, frisst wie ein Schwein und ist ununterbrochen hinter Frauen her.
Einen Gipfel erhält die Dreistigkeit des Pangloss als eine feindliche Macht das Schloss des Herzogs angreift. In seinem naiven Aberglauben, dass alles was geschieht, auf die bestmögliche Weise geschieht, feuert er die wilden Feinde bei ihren Vergewaltigungen und dem Zerstören des Idylls an. Auch die Szene in der er durch das erschreckende Nordirland fährt und angesichts all dieses Leidens immer noch davon schwärmt, dass diese Welt, die Beste aller möglichen ist, spricht für sich.
Sollten immer noch Zweifel daran bestehen, dass Pangloss’ Figur als Negativbild, wie ein Philosoph NICHT verfahren sollte, zu verstehen ist, machen es die Regisseure in einer der letzten Szenen überdeutlich. Eine Reihe von Menschen, darunter Candide und Pangloss, versammeln sich um den „Derwisch“ zu sprechen, eine sagenhafte Gestalt, die gottgleich verehrt wird. Während der Derwisch auf Candides Fragen eingeht, reagiert er auf Pangloss abweisend und erbost.
Zweitens: Die Welt ist wunderschön, aber die Menschen machen sie schrecklich! Die Filme von Jacopetti und Prosperi haben stets einen zynischen Unterton und bemühen sich die Verbrechen der Gesellschaft aufzudecken. Gleichzeitig zeigt sich in den Werken der beiden reisebegeisterten Abenteurern eine hingebungsvolle Liebe zur Natur. Ähnliches können wir auch in „Mondo Candido“ beobachten: Die Bilder die sie kreieren sind atemberaubend, es wundert nicht, dass der Kameramann Giuseppe Ruzzolini unter Größen wie Sergio Leone oder Roman Polanski gearbeitet hat. Und wir wollen auch nicht vergessen, was Candide sagt, als ihm eine lebende Statue des Atlas die Weltkugel für eine Weile zum halten gibt: Als er die ganze symbolisierte Welt vor sich sieht meint er inbrünstig „Schön bist du!“.
Alles Furchtbare des Filmes geht ausnahmslos von menschlichen Handlungen aus. So verwandeln sich atemberaubende Settings durch menschliches Verschulden in angsteinflößende Horrorvisionen.
Am besten sieht man dies meiner Meinung nach in der wohl berühmtesten Szene des Filmes, der Schießerei im Mohnfeld. In dieser Szene greifen palästinensische Soldaten israelische Soldatinnen in einem blühenden Mohnfeld an, was zu einem Massaker führt, infolgedessen sich beide Gruppierungen in blutigen Bildern gegenseitig vollkommen auslöschen. Die Regisseure vereinen hier einige wunderschöne Elemente, wie das in warmen Rot gehaltene Feld oder die Mädchen, für welche man außerordentliche Schönheiten gecastet hat. Doch all die ästhetischen Vorraussetzungen, werden durch die menschliche Natur mit grausamer Härte vernichtet. Die Effekte in dieser Szene sind ausgesprochen gut und lassen das Grauen erschreckend real erscheinen. Richtig tragisch wird es jedoch erst, wenn Jacopetti und Prosperi mit den Großaufnahmen rausrücken. Der detaillierte Blick auf die sympathischen Gesichter zweier Sterbender lässt den Zuseher automatisch an eine handvoll schönerer Dinge denken, die diese beiden im Mohnfeld hätten machen können, anstatt sich umzubringen.
Drittens: Der Mensch kann sich ändern, die Menschheit jedoch nicht! Die Quintessenz eines Entwicklungsromans, und als solchen würde ich „Candide“ durchaus betrachten, ist, wie der Name schon sagt, die Entwicklung des Protagonisten von einem naiven zu einem erfahrenen Mann zu zeigen, er geht also davon aus, dass sich Menschen ändern können…und eben dies geschieht ja schließlich auch in „Mondo Candido“. Am Ende hat Candide seine Lektion gelernt, weiß, dass Pangloss mit seiner Besten aller möglichen Welten nicht recht hat und verfügt durch all seine Abenteuer über eine gewisse Menschenkenntnis. So endet zumindest Voltaires Novelle, doch Jacopetti und Prosperi mussten diesen doch recht positiven Ausgang ein wenig versauern: Sie formulieren die These, dass sich Individuen zwar bessern können und aus ihren Fehlern lernen, die Menschheit im Allgemeinen aber niemals besser werden wird, immer die gleichen Fehler machen wird und nie etwas dazulernt. Dies drücken sie neben den schon erwähnten Parallelen in den einzelnen Epochen (Krieg und fanatische Geistliche wird es immer geben) durch die allerletzte Szene des ganzen Filmes aus. Am Ende sieht Candide, mittlerweile geläutert, wie eine Gruppe alter Leute eine Reihe übergroße Symbole, darunter christliche Kreuze und Hakenkreuze, in einen Fluss werfen. Am selben Fluss pflückt eine Gruppe jüngerer Ausgaben Candides Blumen. Ich verstand diese Szene so, dass alte Leute dazu neigen, die Ideale ihrer Jugend zu verwerfen, zu entsorgen, also in einen Fluss werfen. Doch dort werden diese Ideale der Alten von jungen Leuten gefunden, die sie aufnehmen. Damit wollen die Regisseure meiner Meinung nach ausdrücken, dass, obwohl sich Menschen von gefährlichen Welteinstellungen lösen können, die Jugend trotzdem noch von diesen Einstellungen beeinflusst wird; und betrachtet man einige historische Entwicklungen wird man sich Bedauernswerterweise eingestehen müssen, dass Jacopetti und Prosperi mit dieser Theorie gar nicht mal so falsch liegen.
Neben diesen großen pessimistischen Aussagen finden wir in „Mondo Candido“ noch Dutzende kleinere sozialkritische Ansätze, wie Kirchenkritik (übrigens ein Priester, der ein Bildnis Jesus Christi ans Kreuz nagelt, während er die Juden für die Kreuzigung Jesu verantwortlich macht, ist eine wunderschöne Metapher) oder Kritik an der respektlosen und ausnützenden Werbeindustrie – zu sehen in der Szene in denen berühmte amerikanische Identifikationsfiguren wie Columbus oder Amerigo Vespucci (der Typ nach dem Waldseemüller den neuen Kontinent „Amerika“ genannt hat) für typisch amerikanische Produkte zu werben haben – nebst einigen anderen zynischen und desillusionierendsten Behauptungen, die in „Mondo Candido“ zu finden sind.
Damit haben es Jacopetti und Prosperi geschafft selbst Voltaires Vorlage an Pessimismus zu überbieten. Bedenkt man das, könnte man meinen „Mondo Candido“ sei hart anzusehen oder würde allzu sehr deprimieren, aber nein, er ist, trotz all der total negativen Aussagen, für die er steht, überraschend unterhaltsam. Der Film ist so ungeheuer bildgewaltig, so unfassbar Farbenfroh, so absurd, so verrückt und verfügt gleichzeitig über so viele witzige humoristische Szenen, dass er den Zuseher einerseits vergnügt und andererseits zum Nachdenken bringt und das ist für mich das Beste was ein Film überhaupt machen kann.
Der Grund dafür, dass dies überhaupt funktioniert ist zweifellos das Talent der ganzen Crew. Jacopetti und Prosperi wissen ganz genau, wann es Zeit für verrückte Albernheiten und wann es Zeit für ernste Tragik ist, sowohl ihre Regie, als auch die Kameraarbeit Ruzzolinis und die Musik Riz Ortolanis passen sich stets meisterhaft den abwechslungsreichen Stimmungen der einzelnen Szenen an.
Fazit: „Mondo Candido“ vollbringt durch das unfassbare Talent der ganzen Crew das Meisterwerk sowohl mit atemberaubenden Bildern und witzigen Späßen bestens zu unterhalten, als auch durch eine pessimistische und desillusionierende Weltsicht zu bewegen und dafür hat er die Höchstnote verdient. 10/10