Was vom Tage übrigblieb ...

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

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Maulwurf
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Zwei Herren im Anzug (Josef Bierbichler, 2018) 5/10

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts aus Sicht eines Menschen, der auf einem bayerischen Bauernhof aufwächst. Die Kindheit auf dem Hof im Chiemgau, der ältere Bruder, der geistig derangiert aus dem ersten Weltkrieg zurückkehrt, die Karriere als Opernsänger, welche für den heimatlichen Hof aufgegeben wurde, Russland, die Nachkriegszeit …

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Alles sehr schön und gut, und es hat einige wirklich starke Momente. Der Höhepunkt ist eindeutig der Striptease des weiblichen Adolf Hitler im Nachkriegsfasching, aber auch und gerade die Zeit bis zum Ende des zweiten Weltkrieges ist interessant und überzeugend, wenngleich auch in einem furchtbaren Schweinsgalopp abgehandelt. Da hätte ich gerne noch mehr gesehen, Details erfahren, die Geschichte des patriarchalischen Vaters miterlebt, mehr von den frömmelnden Schwestern gehört.
Stattdessen konzentriert sich der Film aber zunehmend auf die Jahre nach dem Krieg und das Ende der Familie, doch ohne dass dabei ein wirklich interessanter Aspekt herausgearbeitet wird. Die Geschichte kreist zunehmend um das Nebeneinanderherleben der alternden Eheleute, genauso wie um die Schwierigkeiten des schüchternen Jungen im Klosterinternat Ettal. Wirklich spannend ist das nicht mehr, vor allem, weil mit Ausnahme des Missbrauchsskandals jegliche Zeitbezüge ausgeklammert werden. Das Ende des Wirtschaftswunders, dargestellt durch die Pfändung nicht abbezahlter Luxusartikel, ist das Letzte, was man von der Welt da draußen noch sieht, anschließend wird die Story immer düsterer und privater. Aber eben auch uninteressanter.

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Als Schauspieler ist Josef Bierbichler erstklassig, genauso wie viele andere im Film. Aber als Regisseur zeigt er uns, warum so viele Menschen abwinken wenn es um den deutschen Film geht. Anspruchsvoll, durchgeistigt, mühsam, artifiziell – Das Zauberwort heißt verschwurbelt, und das trifft leider auf viele Episoden hier zu. Der Geist des deutschen Kunstfilms aus den kopflastigen70er-Jahren schwebt mehr als einmal durch die Szenerie und tötet jeden Bezug zur Realität, oder zu Dingen, die man letzten Endes erleben möchte wenn man sich einen Film anschaut: Spaß, Abwechslung, Spannung. Eine anspruchsvolle Geschichte zu erzählen bedeutet ja nicht, dass man alle packenden Elemente über Bord werfen müsste, oder etwa doch? Das ist nämlich genau das was hier fehlt: Das Packende, das als Klammer die kleinen und großen Dramen zusammenhält. Der (bayerische) Mutterwitz, der sich eben nicht nur im Dialekt darstellt, sondern auch und gerade in einer derben und volkstümlichen Urwüchsigkeit. Wenn selbst ein Vollblutkomödiant wie Andreas Geibel in einer prinzipiell relativ recht leichten Szene wie einer Schlachtung mit Hindernissen nicht sprühen kann, sondern seinen Text abspult wie bestellt und nicht abgeholt, dann stimmt da etwas nicht. Dann fällt nämlich auf, was diesem ambitionierten und sehr wohl intelligenten Film grundsätzlich fehlt: Der Charme. Schade drum, denn die Idee ist hervorragend, nur die Umsetzung ist eben leider so hölzern, wie man es außerhalb von Liebhaberforen mit dem deutschen Film so oft assoziiert …

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Maulwurf
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The Assault (Julien Leclercq, 2010) 7/10

Am Weihnachtstag 1994 stürmen Terroristen ein Flugzeug auf dem Flughafen von Algier. Fast sofort beginnen sie, Geiseln zu erschießen, um zu zeigen wie ernst es ihnen ist. In Frankreich macht sich eine Antiterroreinheit, die GIGN, bereit einzugreifen, unter ihnen der junge Offizier Thierry, der an Weihnachten, wie alle, lieber bei Frau und Kind wäre. Irgendwann fliegt das Flugzeug nach Marseille, wo ein erbitterter Kamp gegen die Terroristen beginnt, während die Daheimgeblieben, die Angehörigen und die Familien, in Frankreich vor dem Fernseher sitzen und einfach nur noch hoffen können, dass ihre Männer lebend nach Hause kommen.

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Denn die Männer, die in Marseille das Flugzeug stürmen, sind keine heroischen Superhelden. Sie sind auch keine glorreichen Einzelkämpfer mit Bruce Willis-Duktus, sondern eine ununterscheidbare Menge ängstlicher Männer. Thierry ist der einzige von ihnen der ein wenig Profil bekommt, und Thierry ist auch derjenige der als erster in das Flugzeug geht – und als erster schwer verwundet auf dem Boden liegt. Und liegt. Und liegt. Und blutet …
Die Abkehr vom Heldenmythos amerikanischer Provenienz führt zu einem unprätentiösen und pragmatischen Actionthriller mit einer etwas anderen Vorgehensweise. Nicht Bombast und Heldenverehrung bestimmen hier das Bild, unterlegt von martialischer Musik und kernigen „Mister President“-Sprüchen. Stattdessen beschränkt sich die Handlung auf das Allernötigste: In Paris wird von Bürokraten hinter den Kulissen gearbeitet, in Marseille stehen die Männer der GIGN bereit, und die Terroristen im Flugzeug sind gewaltbereite Fanatiker. Punkt. Keine Charakterisierungen, bis auf Thierry keine Einführungen von Personen, der Zuschauer wird ins kalte Wasser der Situation geworfen und kann schauen wie er sich freischwimmt. Wer der Mann am Kopfende des Tisches ist? Uninteressant. Welche Funktion der Glatzkopf hat? Wer will das wissen? Selbst den Namen Thierrys erfahren wir erst durch die Schrifttafel am Ende des Films.

Julien Leclercq kommt also praktisch sofort auf den Punkt. Er verzichtet auf das meiste unnötige Beiwerk und konzentriert sich auf den Überfall, die Terroristen und die Polizisten. Zusammen mit der monochromen Farbgebung, die fast wie ein schmutziges Schwarzweiss wirkt, erzeugt diese rudimentäre Inszenierung einen unglaublichen Druck. Einen Realismus und eine Härte, die nicht aus einer künstlich aufgesetzten Action kommt, sondern aus der Härte der Situation an sich. Die Erstürmung des Flugzeugs ist dann natürlich schon ein „Action-Feuerwerk“, aber eben nicht im Stil eines, sagen wir, DELTA FORCE, sondern kalt und nüchtern. Die unübersichtliche und brandgefährliche Situation in der Enge der Kabine und mit den wild schießenden Männern überwältigt und beängstigt zugleich, und die parallel eingeschnitten Originalbilder der Befreiung einerseits, und die Bilder von Thierrys Frau, die es vor Angst fast zerreißt andererseits, sorgen für Dynamik und Bedrückung gleichzeitig. Und beides unerhört intensiv.

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THE ASSAULT ist nicht für Zuschauer, denen alles erklärt werden muss. Die Charakterisierungen und Vertiefungen benötigen, die irgendwelche Hintergründe ausloten wollen und noch mal eine Erläuterung der Erläuterung benötigen. THE ASSAULT ist hartes und pragmatisches Kino der schmutzig-realistischen Art. Ohne Schnörkel und ohne unnötigen Kitsch, aber dafür ungeheuer eindringlich. Und spannend!
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Hot fantasies (a.k.a. Black candles) (José Ramón Larraz, 1980) 6/10

Nach dem Tod ihres Schwagers besuchen Carol und Gatte Robert ihre Schwester Fiona in dem einsamen Landhaus außerhalb Londons. Zwar sind alle furchtbar nett zu ihr, aber irgendwas ist nicht ganz koscher: Überall stehen schwarze Kerzen, an den Wänden hängen Bilder von Dämonen und vom Teufel, und Fionas Tee stinkt ganz entsetzlich und macht immer so schwindelig. Als Robert nach Schwefel stinkt und Carol mit Gewalt penetriert wird ihr klar, dass da etwas nicht so ist wie es sein sollte …

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Und anscheinend war Carol nie im Kino, denn sonst müsste ihr die Geschichte schon längst bekannt vorkommen. Seltsame Gestalten die das Haus und seine Umgebung bevölkern, ein vom Glauben abgefallener Priester, eine diebische Hausangestellte, und allenthalben Hinweise auf einen praktizierten Satanismus mit ihr als einziger Nicht-Satanistin im Mittelpunkt. Wieso kommt einem das nur so bekannt vor …?

Also für die Story bekommt Regisseur und Drehbuchautor Larraz bestimmt keinen Innovationspreis. Macht aber nichts, weil er dafür mit wunderschönen Bildern, gut aufspielenden Schauspielern und einer herrlich kranken Atmosphäre aufwarten kann. Zwar lange nicht so mysteriös und morbide wie in seinen Meisterwerken VAMPYRES und WHIRLPOOL, aber zum einen sind diese beiden zu einer ganz anderen Zeit und mit einem ganz anderen Budget entstanden, und zum anderen kommt man dann eben doch nicht so ganz an dem Umstand vorbei, dass die Story selber nicht mehr so sehr viel Neues hergibt. Es passiert nicht wirklich Überraschendes, und es ist Larraz sehr hoch anzurechnen, dass das Interesse des Zuschauers trotzdem geweckt bleibt. Wie er das macht? Ganz einfach: Mit viel Sex! Außer dem Rechtsanwalt ist absolut jeder Schauspieler in BLACK CANDLES früher oder später nackt zu sehen, die sehr attraktiven Damen naturgemäß etwas häufiger, und der dicke Mann wiederum hat eine Sexszene im Gepäck, die sich unweigerlich in das Gedächtnis eingraben wird. Aber abgesehen von dieser rektalen Absonderlichkeit, und auch abgesehen von dem perfekt in den Film geschnittenen Ziegenbock, reden wir hier prinzipiell von einem lustigen Ringelreihen zwischen Liebenden, Schmachtenden, Mensch und Tier, sowie einer schwarzen Messe, in der Paola Matos vom Priester geweiht wird. Es wird sehr viel gepoppt, und die Kamera fängt dazu wunderschöne und niemals schmierige Bilder ein, die vor Wollust schier überquellen. Ich gebe zu, dass ich auch gerne mehr von der Art gehabt hätte, wenn Carol und Fiona auf den alten Kirchhof gehen – Da kommt sofort wieder dieses spezielle VAMPYRES-Flair hoch: Eine alte englische Dorfkirche, verfallene Grabsteine, schlechtes Wetter, sinistere Frauengestalten …

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Aber auch so ist die Mischung in Ordnung, auch wenn es die Sache mit den Begriffen Horror oder auch nur Grusel eher weniger trifft. BLACK CANDLES kann an einem trüben Herbsttag und mit einer stinkigen Tasse Tee sehr wohl eine Menge Spaß machen, und die Gedanken an Helga Liné noch viel mehr …

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Zuletzt geändert von Maulwurf am Mi 18. Aug 2021, 05:40, insgesamt 1-mal geändert.
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Mannaja – A man called Blade (Sergio Martino, 1977) 7/10

Kopfgeldjäger Mannaja tötet nicht nur mit dem Sechsschüsser, nein, sein Lieblingsspielzeug ist eine Axt, mit der er verdammt gut umgehen kann. Zum Beispiel, indem er den Festgenommenen die rechte Hand im Flugmodus abhackt! Aber eigentlich sucht Mannaja ganz etwas anderes, nämlich Rache für den Tod seines Vaters. Im hübschen Ort Suttonville findet er endlich Befriedigung, auch wenn der Weg dorthin lang, blutig und verdammt schlammig ist …

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Und immer wenn man denkt, man hat alles gesehen … Ein Rachewestern, schön. Hauptfigur reitet ein, findet Objekt seiner Begierde, hat Anfangserfolge, verliebt sich, böser Antagonist bekommt Oberwasser und tötet die Geliebte des Helden, dieser erlebt seine Apotheose und schlussendlich darf er sich dann auch endlich rächen. Kennt man, liebt man, ist nicht neu, aber in den allermeisten (Western-) Fällen verdammt gut.

Und dann kommt MANNAJA. Prinzipiell ist der sowieso erstmal ein Ripoff von KEOMA, bis hin zum fast identischen Titeltrack, und was gegenüber KEOMA an Intensität und Gänsehaut fehlt, das wird mit Unmengen von Dreck wettgemacht, auch und gerade im psychischen Sinne. Die Niedertracht der Bösewichter übersteigt diejenige der Schurken aus den zeitgenössischen Poliziotti um einiges, und selbst beim schlimmsten Streik sind die Straßen von Rom niemals so versaut gewesen wie diejenigen von Suttonville.

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Aber das Besondere an MANNAJA ist, dass er es schafft, öfters einmal die Richtung zu wechseln, und mit Ideen zu überraschen die man so einfach nicht erwartet hat, trotzdem aber gradlinig und voll auf die schlammige Zwölf daherzukommen. Klar gewinnt die Story an sich keinen Blumentopf mehr, was soll denn im Jahre 1977 an neuartigen Westernstories schon noch erzählt werden? Die Umsetzung ist das Entscheidende, und da ist Sergio Martino der Glücksgriff gelungen, die Atmosphäre der düstereren Polizei- und Mafiafilme gekonnt in den Western zu transferieren und zusätzlich noch mit einer gehörigen Portion Nihilismus anzureichern. Zusammen mit KEOMA (1976) und DER MANN AUS VIRGINIA (1977) ist MANNAJA somit der perfekt-dreckige Abgesang auf die einstmals so glorreichen Westernmythen. (Fulcis SILBERSATTEL nehme ich jetzt mal bewusst aus, den kann man ja eh nicht ernstnehmen, höchstens in der Preisklasse von UNSERE KLEINE FARM.) Hier wird so gekonnt und schmutzig gestorben wie selten, und der Höhepunkt ist erreicht, wenn die lustige Saloonmusik, zu der die Tanzmäuse die Beine schwingen, das Massaker an der Postkutsche unterlegt. Hier fällt ein Toter vom Kutschbock, und dort applaudiert die Menge. Das Humptata läuft dann zum Tode eines Mannes, und dieser stirbt mit Bewegungen, als ob er tanzt. Ein Todesballett. Eine böse und gemeine Parallelmontage, die im Magen des Zuschauers kein gutes Gefühl hinterlässt. So stelle ich mir Krieg vor …
Die Strafe für die heitere Musik und das Vergnügen folgt übrigens auf den Fuße: Die Tänzerinnen werden ausgepeitscht, und selbst das Love Interest des Helden bekommt einiges ab. Ja, das was uns da vom Herrscher dieses heimeligen Ortes namens Himmel als Elysium verkauft wird hat in Wahrheit wesentliche Züge der Hölle. Was sich Sergio Martino bei dieser Sequenz wohl gedacht haben mag …?

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A propos Mythen: Interessant zu sehen, dass Maurizio Merli den Film in Nebelschwaden betritt, und im Nebel auch schlussendlich verschwindet.
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Ein mythischer Rächer, der nicht von dieser Welt zu sein scheint, so könnte man den Eindruck gewinnen. Die (giftigen) Nebelschwaden, die durch die Silbermine ziehen, erwecken wiederum den Eindruck dass wir im Hades gelandet sind, und Mannaja, der dort gehörig aufräumen wird, eine gottgleiche Rache an einem verfluchten Ort ausüben will. Wenn aber dieser Ort bereits verflucht ist, so ist die stattfindende Revolte der Arbeiter gleich doppelt interessant: Ist die Mine vielleicht das heutige System, und wir Arbeiter sollten trotz drohender Verluste gegen die Herrschenden revoltieren? Aus der Hölle versuchen auszubrechen, nur um zu sterben? In diesem Zusammenhang nochmals der Hinweis auf die Auspeitschung der Huren an einem Ort, der mit dem Himmel gleichgesetzt wird, und so für die Beteiligten zur Hölle mutiert …

In erster Linie ist MANNAJA ein verdammt schmutziger und düsterer Western. Ein Zeit- und Sittenbild mit einem extrem Pessimismus und der, für den Spätwestern üblichen, Aussage „Wer zuerst tötet lebt länger“. Doch hinter dem ganzen Dreck und der Gewalt verstecken sich ein paar interessante Ideen die beweisen, dass selbst im vielgeschmähten Italo-Western sehr viel mehr möglich war als man auf den ersten Blick denkt. Gerade wegen seines späten Entstehungsdatums einer der interessantesten Western, den ich jemals gesehen habe.

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Maulwurf
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Beitrag von Maulwurf »

Sombre (Philippe Grandrieux, 1998) 6/10

Alone in a darkened room …

Ein Mann fährt durch Frankreich. Er ermordet Frauen, weil dies für ihn der einzige Weg ist, Nähe zu spüren. Wahrscheinlich auch, sich selbst zu spüren. Das einzige Mal, dass ein Liebesakt nicht zum Tod der Frau führt, endet mit seiner Flucht in die Nacht. Der Mann, Jean, nimmt irgendwann die beiden Schwestern Claire und Christine im Auto mit. Warum? Warum nicht. Christine sucht das Abenteuer, will ihren Hunger nach Aufregung und ihren Trieb ausleben. Durch das Land fahren, frei sein, Unfug treiben. THELMA & LOUISE, und so. Claire hingegen fühlt sich zu Jean tatsächlich hingezogen. Sie erkennt in ihm eine Art Seelenverwandten, auch und gerade nachdem sie gemerkt hat dass Jean Frauen ermordet. Dass er damit seine ganz private Einsamkeit versucht zu füllen. Aber Mensch, die so einsam sind wie Jean und Claire, die können diese Einsamkeit auch nicht mal eben so überwinden.

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1994 erschien der Roman Ausweitung der Kampfzone von Michel Houellebecq, und auch wenn dieser Roman 1999 auch unter diesem Titel verfilmt wurde, die meines Erachtens vom Roman tatsächlich inspirierte Verfilmung, die den Geist des Romans auch trifft, ist SOMBRE. Ein Mann, fast namenlos und fast ohne Eigenschaften, und somit ein alltäglicher Mann, mordet, um die Leere in seinem Inneren zu füllen. Um das Leben erträglicher zu machen. Um sich zu spüren.

Wer wissen will, wie sich Leere anfühlt, der sollte SOMBRE seine Aufmerksamkeit schenken. Durch assoziative Bilder, durch Kameratechniken, die ich eher in der Malerei verortet hätte, durch wackelige Handkamera und übergroße Nähe zu seinen Schauspielern schafft Regisseur Grandrieux das Kunststück, seelische Leere für den Zuschauer sichtbar zu machen. Erfahrbar. Wir, das heißt die Kamera, sitzen mit Jean im Auto und fahren über monotone Autobahnen. Durch öde Landschaften. Das, was seitlich an uns vorbeihuscht, verwischt mit zunehmendem Tempo, und wird zu einem Hintergrundrauschen der Aufmerksamkeit. Zu einer visuellen und rezeptiven Begleitmusik des Augenblicks. Nichts ist mehr wichtig. Leben und Gefühle, so beides überhaupt noch existiert, werden in einem Reigen aus Alkohol und Tod dahingewischt. Die Fortführung eines, sagen wir, ASPHALTRENNEN in den materialistischen 90ern. Eine Vakuumisierung des Lebens. Das, was RP Kahl in seinem unsagbaren A THOUGHT OF ECSTASY nicht einmal ansatzweise ausdrücken konnte, und darum versuchte mit provokativen Sexszenen die vorhandene Bedeutungslosigkeit zu übertünchen, das schafft Grandrieux hier mit ganz einfachen technischen Mitteln: Die Farben Grau und Schwarz als grundsätzliche Bestandteile des Lebens zu manifestieren. Gefühle sichtbar zu machen, die die allermeisten Menschen tief in ihrem Inneren begraben. Dem Wort Leere Bilder zuzuordnen.

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SOMBRE ist definitiv kein Film für einen gemütlichen Sonntagnachmittag mit der Liebsten, und er ist auch entschieden etwas zu lang geraten. Aber die Gefühlswelt, die hier auf den Zuschauer einstürzt, sowie das Vergnügen, die großartige Elina Löwensohn bei einer Reise in ihr tiefstes Inneres zu begleiten, diese Dinge machen SOMBRE zu einem kleinen Juwel des ultra-depressiven Arthouse-Kinos. Und so ganz nebenbei übertrifft der Einsatz von Bauhaus‘ Bela Lugosi’s dead den in Tony Scotts BEGIERDE ganz locker …
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Maulwurf
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Beitrag von Maulwurf »

Straßensperre (Gilles Grangier, 1955) 6/10

Jean Gabin pendelt als französischer Fernfahrer Chape übers Land und genießt das Leben, trotz Aufstehen um 5 Uhr früh und trotz seines Disponenten Felix, der ihn manchmal ganz schön nervt. Aber Chape hat nebenher was mit der schnieken Lehrerin Alice laufen, und eigentlich ist das ganze Leben recht locker. Arbeitsreich, aber schön. Bis er eines Morgens auf der Landstraße einen Mann überfährt. Ab diesem Tag verfolgt ihn eine Limousine, die mit drei Gangstern besetzt ist. Der Tote war ein Kumpel dieser Gangster, der seine Komplizen um 50 Millionen Francs betrogen hat. Das Geld ist fort, und die Schurken wollen das Geld nun von Chape wiederhaben, denn der muss es ja eindeutig haben. Hat er aber nicht, und allmählich nerven die Typen gewaltig …

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1955 drehte Jean Gabin noch einen weiteren Film in dem er einen Fernfahrer darstellte, nämlich den schwermütigen DER WEG INS VERDERBEN unter der Regie von Henri Verneuil. Aber ein Vergleich der beiden Filme führt ins Leere. Wo DER WEG INS VERDERBEN ein dunkles und realistisches Drama um eine Liebe ist, die nicht sein darf, da ist STRASSENSPERRE mit viel Leichtigkeit und Humor durchsetzt, und inszeniert die fast gleiche Liebe, nämlich eine ehelose Beziehung zwischen einem Trucker und einer Dorfschullehrerin, lakonisch und augenzwinkernd. Die Geschichte selber lässt sich viel Zeit, und schweift immer wieder in kleine Nebenhandlungen ab, die zwar narrativ nichts bringen, dafür aber viel Spaß machen. Der Krimianteil wächst erst im letzten Drittel, wenn Chape und seine Freunde mit ihren LKWs Jagd machen auf die Gangster. Das ist sehr spannend anzuschauen, aber trotz einiger Schußwechsel, kleinerer Blessuren und sogar einem Schwerverletzten bleibt der Grundton heiter-versöhnlich. Wir fahren mit Jean Gabin im Zentralmassiv durch die Provinz, genießen die französische Lebensart und freuen uns unseres Lebens. Gangster? Mühsal? Die von Chape angesprochenen Schulden? Pah, alles weit weg. STRASSENSPERRE ist Wohlfühlkino. Ein Film fürs Gemüt, für leichte Stunden und ohne großen Anspruch, der ein Lächeln auf das Gesicht zaubert. Was will man mehr?

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Beitrag von Maulwurf »

Leberkäsjunkie (Ed Herzog, 2019) 6/10

Bei der Mooshammerin hat es gebrannt, und im Haus wird eine Leiche gefunden. Das kann nur ein Mord sein, und der Täter kann nur der örtliche Schwarze Buengo sein, weil der mit der Toten ein Verhältnis hatte. Also wie sie noch gelebt hat natürlich. Nun ist der Buengo aber die Hoffnung des örtlichen Fußballvereins, also gewissermaßen der Fuß Gottes, und sowieso viel zu verpeilt um einen Mord zu begehen, also muss der Eberhofer Franz seine kleinen grauen Zellen anstrengen. Müsste er zumindest, aber andere Dinge sind viel wichtiger: Dass er seinen kleinen Sohn Pauli für eine Woche mitnehmen muss, weil die Susi für eine Prüfung paukt. Dass seine Cholesterinwerte erschreckend hoch sind, er die Fitness eines 70-jährigen hat, und Diät zu halten hat! Dass die Mooshammerin jetzt bei ihm zuhause eingezogen ist. Und dass der Vater sich verliebt hat. In eine Mordverdächtige …!

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Man muss dem Team um Ed Herzog ja zugute halten, dass sie sehr darauf achten, dass sich die Serie nicht in Endloswiederholungen zu Tode läuft. Meine Frau meinte nach LEBERKÄSJUNKIE, dass sie es schade finde, dass dieses Mal keine Party im Wirtshaus stattfand. Ja, sicher schade, aber nach den ersten drei Teilen kam an dieser Stelle bereits immer weniger, womit der Effekt der Endloswiederholung vermieden wird.
Auf der anderen Seite finde ich persönlich es schade, dass die Krimihandlungen immer mehr in den Hintergrund rücken, und die Serie immer mehr zur Nummernrevue eines niederbayerischen Slapstickhumors verkommt. SCHWEINSKOPF AL DENTE, und das ist eine rein persönliche Meinung, war der bislang stärkste Teil der Serie, gerade weil der Krimi im Film so stark und spannend war. Was sich aber im SAUERKRAUTKOMA bereits gezeigt hat und im LEBERKÄSJUNKIE fortgeführt wird, ist, dass die Handlung an sich kaum noch wichtig ist, sondern die Erlebnisse rund um die Beziehung vom Eberhofer Franz im Vordergrund sind. Nur kommen wir damit dann irgendwann in die Richtung einer x-beliebigen bayerischen Fernsehserie, und der Unterschied zu ZWEI AM GROSSEN SEE ist dann nur noch, dass der Humoranteil höher und vor allem derber ist.

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Man merkt schon, der LEBERKÄSJUNKIE hat mich nicht so richtig glücklich gemacht. Der Flötzinger Ignaz und der Simmerl haben zunehmend weniger Screentime (und werden gleichzeitig immer mehr zu Abziehbildern ohne richtigen Charakter), dafür kommt mit der Liebesgeschichte vom Vater eine weitere Nebenhandlung ins Spiel, von der ich mir nicht sicher bin, ob sie die Serie wirklich weiterbringt. Die Fitness vom Eberhofer hat einige wirklich komische Szenen im Gepäck, Eva Mattes spielt die Mooshammerin mit Hingabe und voller Bos- und Wildheit, und die beiden Auftritte von Klaus Augenthaler(!) sind einfach nur herzallerliebst.

Aber insgesamt fehlt ein wenig das Fleisch zum Unterfüttern der Soap-Opera. Besser als das sehr durchwachsene SAUERKRAUTKOMA punkt der LEBERKÄSJUNKIE durch ein hohes Tempo.
Aber so richtig glücklich macht die soundsovielte Leberkässemmel irgendwann einfach nicht mehr. Es fehlt ein wenig der würzige Senf …

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Beitrag von Maulwurf »

Chatos Land (Michael Winner, 1972) 8/10

Chato erschießt den Sheriff. In Notwehr, was aber keinen interessiert. Denn Chato ist ein Halbblut, also fast ein verschissener Apache, und Apachen sind das Letzte. „Nur Gott weiß was Er sich dachte, als Er die Apachen machte.“ Also wird eine Posse zusammengestellt, die Chato jagt. Eine Handvoll weißer Arschlöcher, die denken sie seien Halbgötter. Mindestens. „Um einen toten Indianer zu sehen reite ich meilenweit.“ Die denken, sie jagen einen verängstigten Indianer. Der Anführer, der frühere Südstaatencaptain Quincey, sollte es besser wissen, denn er hat nach dem Bürgerkrieg quer durch das ganze Land Indianer gejagt. Aber Quincey ist so glücklich und so stolz, endlich wieder seine alte Uniform anziehen zu dürfen, da kann das Gehirn auch ruhig mal aussetzen.
Doch nicht nur Quincey merkt relativ schnell, dass nicht sie den Indianer suchen, sondern dass der vielmehr hinter ihnen her ist, und sich einen Spaß daraus macht, sie immer tiefer in die Wüste zu locken. Doch als die Weißen Chatos Frau finden und sie bestialisch vergewaltigen ist Schluss mit lustig. Das Halbblut will blutige Rache.

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Und Regisseur Michael Winner hat anscheinend einen diebischen Spaß daran, die Überlegenheit der weißen Rasse Stück für Stück zu demontieren. Der White Trash, der hier nach Strich und Faden vorgeführt wird, fast möchte man sagen verarscht wird, gehört auch heute noch zum Bodensatz der menschlichen Gesellschaft, und ist auch heute noch voller Freude dabei wenn es darum geht, alles Fremde und Andersartige an der nächsten Straßenlaterne aufzuhängen.

Quincey, der in seinen Erinnerungen an die gute alte Zeit schwelgt, und nicht gemerkt hat wie alt er dabei geworden ist, ist dabei derjenige, der zwar einerseits die Truppe anführt, aber andererseits auch zu alt und zu weich geworden ist um sich durchzusetzen. Das hingegen macht der älteste der Hooker-Brüder, Jubal, der sich schon beim Zusammenstellen der Männer als extremistisches und rassistisches Arschloch entpuppt, das bereit ist für das Durchsetzen seiner eigenen Ansichten über Leichen zu gehen. Und willst Du nicht mein Bruder sein … An seiner Seite der mittlere Bruder Elias, der zwar distanziert-ironisch wirkt, dabei aber ein treuer Befehlsempfänger Jubals ist, und von diesem keinen Millimeter abweicht. Und der jüngste Bruder Earl, der nur und ausschließlich ans Vögeln denkt, und wenn er das nicht haben darf, sich die gewünschte Frau bevorzugt mit der Waffe in der Hand gefügig macht. Jack Palance als Quincey, Simon Oakland als Jubal, Ralph Waite als Elias und Richard Jordan als Earl – Unfassbar gute Schauspieler, die alles geben, und denen man nicht einmal im Tageslicht auf der Straße begegnen möchte. Kaum zu glauben, dass Ralph Waite seine große Rolle als Vater der WALTONS hatte …

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Die anderen Männer der Gruppe sind Mitläufer, sind schwache Männer, die Befehlen gehorchen und sich erst dann auflehnen, wenn es viel zu spät ist. In so einigen Szenen ist CHATOS LAND ein bitterer und verstörender Kommentar über Gruppendynamik und –zwänge. Über Mitläufertum und das Wesen von Führern. Und vor allem über das Resultat solcher Prozesse.

CHATOS LAND ist zwar erstmal ein starker Western, der von der ersten Minute an Gas gibt und keine einzige Sekunde langweilt. Aber gleichzeitig ist CHATOS LAND ein zutiefst depressiv machender Film über soziales Verhalten, der fast 50 Jahre nach seinem Entstehen immer noch brandaktuell ist. Und ordentlich reinhaut!
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Stan & Ollie (Jon S. Baird, 2018) 6/10

Im Jahr 1953 machen die beiden früheren Filmkomiker Stan Laurel und Oliver Hardy eine Tournee durch England. 15 Jahre früher, ja da waren sie Weltstars, da begeisterten sie ein Millionenpublikum auf der gesamten Welt. Ab nach dem Bruch mit ihrem Produzenten Hal Roach im Jahr 1937 kam der schleichende Abstieg. Sie wiederholten endlos ihre alten Gags, sie versäumten es sich neu zu erfinden, und irgendwann in der Mitte der 40er-Jahre hatte sich dann auch der Publikumsgeschmack geändert. Die Erfolgsformel Laurel & Hardy war tot, und den letzten gemeinsamen Film aus dem Jahr 1950, DICK UND DOOF ERBEN EINE INSEL, habe ich zwar nie gesehen, habe auch nie auch nur ein einziges gutes Wort über ihn gehört. Er soll sehr traurig sein …

Traurig ist STAN & OLLIE, der Film über die letzte Bühnentournee in Stans alter Heimat, auch. In erster Linie stand wohl ein Plan für einen weiteren, nie realisierten Film hinter dieser Tour, aber, wenn man dem Film folgt, war es beiden wohl auch irgendwann klar, dass ihre großen Zeiten vorbei waren. Die Hotels wurden kleiner, die Theater leerer, und die Gags waren immer noch die gleichen wie 20 Jahre vorher. Im Film streiten sich die beiden dann irgendwann, zerstreiten sich sogar, aber durch einen Herzinfarkt Ollies kommen sie wieder zusammen und geben eine furiose Abschlussvorstellung in Irland.

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Das ist alles mit viel Gefühl dargestellt, die Schauspieler sind erstklassig, und vor allem Steve Coogan gibt als Stan Laurel den alten Komiker, dessen Grimassen und Bewegungen aus dem Filmen längst ins Alltagsleben übergegangen sind, mit großer Intensität. Die Geschichte geht zu Herzen und rührt gegen Ende sogar, aber die eigentliche Frage lautet meines Erachtens: Braucht es diesen Film?

Muss diese Geschichte wirklich erzählt werden? Das Ende eines erstklassigen Komikerduos, das auch 67 Jahren nach seiner Trennung (und über 80 Jahre nach seinen größten Erfolgen) noch beliebt ist, muss das unbedingt gezeigt werden? Man könnte vielleicht damit argumentieren, dass durch die abschließende Versöhnung ein Mythos erschaffen wird, aber durch den Ruhm der realen Komiker existiert dieser Mythos doch bereits. Wir sehen also erstklassigen Schauspielern zu, wie sie sich zum Fremdschämen streiten und sich durch Sturheit und Angst in Situationen manövrieren, die wir niemals sehen wollten. Da schaue ich mir den Klaviertransport lieber noch zehnmal an, und bekomme auch nach dem zehnten Mal noch Lachkrämpfe, als diese oberpeinliche Situation miterleben zu müssen, wenn die beiden sich vor einem ignoranten Adligenpärchen, das deren Filme nicht einmal kennt, tödlich angiften.

Ich bin der Meinung, dass diese Geschichte, so wahr sie möglicherweise auch sein mag, nicht erzählt gehört. Und dass dies nur ein weiterer Beleg dafür ist, dass den Drehbuchautoren in diesem Jahrhundert sehr ernsthaft die Ideen ausgegangen sind. Die Kulissen sind unrealistisch und geradezu lächerlich in ihrer Spielzeughaftigkeit, der Score ist peinlich und lässt die Vermutung zu, dass solches 08/15-Gedudel mittlerweile in Keyboards bereits fix und fertig eingespeichert ist, und nur die grandiosen Schauspieler und die (altbekannten) Gags von Laurel und Hardy machen hier die Show und begründen meine Bewertung. Nennt mich ruhig altmodisch, aber diese ansatzweise Demontage der alten Recken braucht es einfach nicht. Muss denn wirklich immer alles in der Öffentlichkeit breitgetreten werden?

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Jack Grimaldi
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Beitrag von Maulwurf »

Vice and virtue (Roger Vadim, 1963) 7/10

Dekadenz in ihrer reinsten Form: Draußen tobt der Krieg, und drinnen haben sich die Offiziere einen Ort des Lasters und des Vergnügens aufgebaut. Inmitten eines künstlichen Planschbeckens steht ein Boxring, die Frauen sind alle leicht bekleidet, eine Kapelle spielt, und zu trinken gibt es Champagner. Der hedonistische General von Bamberg hat hier das Sagen, doch als die Männer der SS auftreten ist auch seine Zeit gekommen – Der SS-Oberst Schöndorf tötet von Bamberg und nimmt sich dessen französische Geliebte. Diese, Juliette, ist eine Hure, und das weiß sie auch. Sie macht für jeden die Beine breit, der ihr Luxus und ein gutes Leben ermöglicht. Ihre Schwester Justine ist da anders – Ihr wurde von den Stufen der Kirche weg der Ehemann von den Nazis entführt, für den sie sich ihre Unschuld bewahrt hatte. Von Bambergs Tod bringt das ganze fragile Gleichgewicht ins Schwanken: Juliette und Schöndorf gehen nach Berlin, und Justine wird in die Kommanderie gebracht – Ein Schloss in Tirol, in dem junge und schöne Mädchen zu Vergnügungszwecken gehalten werden. Doch auch hier rückt der Krieg immer näher …

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VICE AND VIRTUE kann man sich von zwei Seiten nähern. Auf der einen Seite ist der Film natürlich eine von vielen Verfilmungen des klassischen de Sade-Stoffes, wenngleich es auch die erste ist. Und bei dem, um an der offiziellen Zensur vorbeizukommen, keinerlei Referenzen auf das literarische Original vorkommen. Gerade mal die Namen Juliette und Justine werden genannt, und wer ein wenig genauer hinschaut erkennt schnell, wo Pier Paolo Pasolini sich für seine 120 TAGE VON SODOM hat inspirieren lassen. Trotz einer, im de Sade’schen Sinne, ungenauen Charakterisierung, gar eines Tausches der Rollen gegen Ende, ist VICE AND VIRTUE eindeutig ein de Sade, und grundlegende Bosheit und substantielle Verderbtheit durchziehen das gesamte Ambiente. Filmhistorisch hochinteressant, vor allem auch mit der starken Besetzung, als Literaturverfilmung spannend anzusehen, wie ein Werk, in dem es um Sex und Demütigung geht, im Jahr 1963 umgesetzt wurde.

Die andere Seite aber ist diejenige, die ich persönlich als viel intensiver empfand. Der Franzose Roger Vadim, Jahrgang 1928, der bei einem Massaker der SS seinen besten Freund verloren hatte, rechnet gnadenlos mit den Deutschen und den mit ihnen verbandelten Französinnen ab. Zumindest im Film habe ich selten eine so verwahrloste und dem bedingungslosen Vergnügen ergebene Saubande gesehen (im wirklichen Leben musste ich neben sowas mal wohnen …). Die deutschen Offiziere werden als rücksichtslose Hedonisten gezeichnet: Saufen, Feste feiern, rumhuren, und Strafen verteilen. Der Gewinner beim Boxkampf bekommt alle Frauen die er haben will, ja die Frauen kämpfen sogar noch darum von ihm bestiegen werden zu dürfen, und alles wird unaufhörlich mit Champagner begossen. Um den Bestand des Reiches zu gewährleisten wird zwischen den Vergnügungen auch gerne mal ein wenig gefoltert, und auch der Tod ist nie wirklich weit weg. Schöndorf (Robert Hossein) ist das Paradebeispiel eines de Sade’schen Jüngers. Seine Gefühle sind unter einer dicken Schicht Sendungsbewusstsein verborgen, und seine Mission ist es, den Tod zu bringen. Nachdem er lange von Freundschaft geschwafelt hat tötet er von Bamberg, er foltert Juliettes früheren Geliebten Höch und zwingt sie zuzusehen, und sogar sein Vertrauter Hans muss Angst haben vor ihm. Nur Juliette (Annie Girardot) hat keine Angst, sie weiß dass sie eine Verlorene ist. Eine Französin, die für die Besatzer die Beine breit macht, und nur für die Sieger da ist. Schon während des Niedergangs von von Bamberg wendet sie sich Schöndorf zu, denn der ist der Stärkere. Der Wolf, das Alphatier. Von Bamberg ist nur ein alter Mann, dem Tode geweiht. Und Juliette weiß auch, dass sie in diesem Land und in dieser Zeit keine Aussichten hat wieder in ein normales Leben zurückzukehren. Sie weiß, was ihre Landsleute mit Kollaborateuren machen werden …

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Wie anders ist doch Justine (Catherine Deneuve) dagegen anzusehen. Rein wie die Unschuld, wie die Tugend (franz.: Vertu), schwebt sie in ihrer weißen Toga über den Rasen, und hat nicht einmal ansatzweise den Realitätssinn oder die Befürchtungen ihrer Freundin Nummer 88 (Luciana Paluzzi) im Kopf. Justine ist wie ein Engel in der Hölle, und eine Hölle ist es in der sie sich bewegt. Gleich, ob es die Gestapo ist die ihren Ehemann von den Stufen der Kirche weg verhaftet, oder ob es eingestreute dokumentarische Bilder des Krieges sind, welche teilweise schrecklich anzuschauen sind und eine absolut lebensfeindliche Umgebung darstellen. Die dazugehörige Bildsprache Vadims ist hochartifiziell und spannend: Wo Juliette sich aufhält ist oft Rauch zu sehen. Der Qualm der brennenden Hölle? Immerhin zeigt Vadim sehr deutlich das Ende des Tausendjährigen Reiches, das wohl offensichtlich an allen Ecken und Enden brennt. Auch setzt Vadim oft Spiegel ein, eine lange Sequenz, in der Schöndorf sein Vertrauen zu Juliette und gleichzeitig seine Abgründigkeit beweist, ist sogar komplett über verkehrtherum stehende Spiegel gedreht. Eine verkehrte Welt die Vadim da zeigt, in der die Verderbten und Bösen das Sagen haben, wenn sie ihre dreckigen Geschäfte untereinander abschließen.

Auf den ersten Eindruck ist VICE AND VIRTUE ein etwas ambivalentes Filmvergnügen, in dem vieles nicht so recht zusammenpassen mag. Wo die einzelnen Bestandteile der Geschichten oft bruchstückhaft und rudimentär wirken. Aber beim Reüssieren fällt auf, wie geschickt Vadim die einzelnen Puzzlestücke aneinandersteckt, und wie viel Gedanken er sich gemacht hat um diese Abrechnung mit einem finsteren Kapitel Geschichte. VICE AND VIRTUE ist kein einfacher Film, und er hat seine Schwächen und seine Längen. Aber er beschäftigt, er fordert zur Diskussion heraus, und als gelungenes Mittelstück zwischen Arthouse und de Sade, zwischen Anspruch und Verderben, ist er hochgradig sehenswert.

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Jack Grimaldi
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