Was vom Tage übrigblieb ...

Euer Filmtagebuch, Kommentare zu Filmen, Reviews

Moderator: jogiwan

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

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Il fiore dai petali d’acciaio (Gianfranco Piccioli, 1973) 6/10

Chefarzt Dr. Valenti hat es zurzeit nicht leicht. Mit seiner Ex-Geliebten Daniela streitet er, die mütterliche Freundin oder Geliebte oder so von Danielle, Evelyn, nervt ihn zunehmend, die Assistentin im Krankenhaus, Lena, will auch was von ihm, und als er abends geschafft nach Hause kommt sitzt da diese schweigsame nackte Frau auf seinem Bett. Bei dem Versuch, die Frau aus der Wohnung zu schaffen, fällt diese sehr unglücklich auf eine Pflanze mit Blättern so hart wie Stahl und stirbt. Ein Unglücksfall, aber wer würde ihm das glauben? Er lässt die Leiche verschwinden, doch prompt steht Evelyn vor seiner Türe und sucht nach Daniela, denn die ist unauffindbar, und ihr Auto steht vor Valentis Haus. Evelyn schaltet die Polizei ein, und Inspektor Columbo Garrano ermittelt seelenruhig nach dem Verbleib Danielas. Seelenruhig bedeutet, dass er ganz allmählich Valenti in den Wahnsinn treibt mit seinen Verdächtigungen und seinen Blicken. Und zudem mehren sich die Anzeichen, dass Valenti bei seinem Treiben beobachtet wurde. Das Telefon klingt, und Daniela ist vermeintlich am Apparat. Und was ist mit der verkommenen Wohnung gegenüber, von der man einen so guten Blick in sein Wohnzimmer hat? Dort wohnt niemand. Oder?

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Die Geschichte steht und fällt damit, dass wir nicht wissen wer die Frau ist, die von Valenti getötet wird. Als Krimikenner fällt dem Zuschauer selbstverständlich sofort auf, dass ihr Gesicht nicht gezeigt wird, aber die Frage steht immer wieder im Raum: Wen zur Hölle hat Valenti da verschwinden lassen? Und welche Rolle spielt Evelyn, die mit Valenti mal was hatte, jetzt aber anscheinend mit Daniela liiert ist. Wo ist Daniela? Und ist Lena wirklich nur das kleine Dummchen zum Vögeln, oder ist da mehr dahinter?

IL FIORE DAI PETALI D’ACCIAIO spielt genüsslich mit den Schemata eines Giallo und setzt gängige Bausteine des Whodunit geschickt aneinander. Dass etwas nicht stimmt ist von vornherein klar, aber was ist das was da nicht stimmt? Wir wissen, dass Valenti kein reines Gewissen hat, aber was an diesem Abend in der Wohnung wirklich passiert ist, das wissen wir nicht, und daraus bezieht der Film seine Spannung und seinen Reiz. Denn wenn man mal ehrlich ist, stilvoll-mysteriöse Giallo-Unterhaltung sieht anders aus. PETALI D’ACCIAIO kommt aus der zweiten Reihe und wird mit seiner gemächlichen Inszenierung und den unspektakulären Bildern dort auch bleiben. Hier hat es keine aufgebrezelten Lebedamen die nackt durch die Szenerie rennen, keine formvollendeten Penetrationen, weder mit Penis noch mit Messer, und keine avantgardistischen Wohnungseinrichtungen. Selbst der Gebrauch von J&B-Whisky hält sich im Rahmen. Nein, hier regiert das gut situierte Bürgertum mit seinen selbst definierten Fallen und seinen Abgründen, und fast könnte man sich in einem Krimi von Claude Chabrol wähnen. Nur dass Ivano Staccioli Inspektor Columbo so sehr ähnelt könnte ein Zufall sein, da die Fernsehserie in Italien erst ab 1974 ausgestrahlt wurde.

Ein großer Pluspunkt von PETALI D’ACCIAIO ist die abwechslungsreiche und oft treibende Musik von Marcello Giombini, und ein weiterer Pluspunkt könnte die möglicherweise ungewöhnlichste Lesbenszene der Filmgeschichte sein. Aber sonst entpuppt sich der Film als ein solider Giallo ohne größere Ambitionen, der gut anzuschauen ist, vernünftig unterhält, Spaß macht und wenige Überraschungen bietet. Passt!

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Dort oben, wo die Alpen glühen (Otto Meyer, 1956) 7/10

Ein Mann zwischen drei Frauen! Der Bergführer und Kunstschnitzer Berthel Bruneder hat den Kopf eigentlich in den Wolken, und lebt nur für das Klettern und seine geschnitzten Figuren, mit denen er gerne ein Figurentheater eröffnen möchte. Liiert ist er so einigermaßen mit der Anna, die ihn mehr oder weniger bei einem Wettklettern gewonnen hat, aber eigentlich dem Wirt Jakob viel mehr zugetan ist und Berthel abschätzig und unwürdig behandelt. Die Kellnerin Linda liebt den Berthel sehr aufrichtig, aber Linda ist jung, und Berthel sieht in ihr einen Freund, nicht mehr. Und zu guter Letzt ist da die Touristin Andrea, mit der er eine Klettertour unternimmt. Obwohl er doch Frauen in der Wand nicht traut. Aber die Andrea, die hat was, und mit der klettert er durch die gefürchtete Bruneder-Wand, so genannt, weil er selber dort als erster jemals erfolgreich durchgestiegen ist. Wie er mit der Andrea hoch droben ist kommt ein Wetter auf, und beide müssen die Nacht in der Wand verbringen. Anna explodiert fast vor Eifersucht und verlangt von Berthel, dass er ihr zum Beweis seiner Treue ein Edelweiß vom gefürchteten und steilen Gottesfinger bringt – Eine fast unmögliche Kletterei, die noch niemand geschafft hat. Also bricht der Berthel auf zum Gottesfinger, das Unmögliche möglich machen …

Die schlechte Nachricht zuerst: Ja, DORT OBEN.. ist ein kitschiger Heimatfilm mit vielen bösen Klischees und so herzschmerzig, wie man sich das auch nur vorstellen kann.
Die gute Nachricht: DORT OBEN.. hat außerordentlich starke Kletterszenen, die sehr spannend inszeniert sind, und auch offensichtlich von Leuten ausgeführt wurden die klettern können. Wunderschöne Landschaftsaufnahmen und tolle Szenen im Fels machen Laune, und das Gefühl, das beim Klettern aufkommt, das wird perfekt getroffen und erstklassig zum Zuschauer transportiert.

Noch etwas wird aber transportiert, nämlich die Gefühle der Charaktere. DORT OBEN.. hat sehr gute Schauspieler, allen voran die wunderschöne Ingmar Zeisberg, und die Zerrissenheit gerade ihrer Andrea, die sich rettungslos und unmöglich in den Berthel verliebt, und Berthel, dem diese Liebe das fragile Gleichgewicht in der Beziehung zur Anna zerstört, diese Zerrissenheit wird bemerkenswert gespielt. Das Gefühlsleben der Figuren ist dem Zuschauer überhaupt nicht egal, wie auch die Personen nicht egal sind, und der intriganten und zickigen Anna wünscht man schnell mal eine zünftige Steinlawine auf ihren dämlichen Schädel. Schade, dass Ingmar Zeisberg den Film dann irgendwann wieder verlässt, ihre männlich-zupackende Art und ihre Schönheit nehmen sehr gefangen …

So ganz nebenher lernt man in einer Nebenhandlung dann noch den Beginn des Untergangs des Abendlandes kennen, nämlich wenn der Jakob, mit dem Wissen, das er in der großen Stadt bekommen hat, einen Sessellift bauen und dafür Bäume auf Annas Grundstück fällen lassen will. Wie Österreich vorher ausgesehen hat, das kann man in DORT OBEN.. ausgiebig genießen, was solches Gesindel wie Jakob und Anna daraus machen werden kann man zum Beispiel hier sehen.

Klar ist DORT OBEN.. billiges und gefühlsduseliges Kino aus mindestens Großvaters Uralt-Kintopp. Na und? Der Film macht Spaß, man kann lachen, man kann sich aufregen, man kann sich an der schönen Landschaft erfreuen, die Kletterszenen sind packend, und fürs Herz ist er auch gut. Ist das denn wirklich etwas Schlechtes? 95 Minuten Weltflucht vom Feinsten …
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

The ramrodder (Ed Forsyth & Van Guylder, 1969) 6/10

Heute mag ich mir einen Film anschauen, auf was habe ich denn Lust? Lieber einen Western? Oder doch was Erotisches? Ha, dann lösen wir das Dilemma indem wir uns THE RAMRODDER anschauen. Der Cowboy Rick kommt nach Hause zu seiner schönen Lucy und treibt es erstmal ausgiebig mit ihr, bevor er weiterreitet ins Indianerreservat. Der Häuptling Minowa (spricht sich aber wie Manowar) ist sein Freund, und dieser schenkt ihm ein wertvolles Amulett. Auf dem Rückweg wird Rick von einem zahnlosen Bösewicht überfallen, der ihm das Amulett stiehlt. Der bewusstlose Rick wird von der adretten Häuptlingstochter Tuwana gefunden, die sich ihm gleich mal hingibt. Parallel dazu vergewaltigt und tötet der Zahnlose Tuwanas Freundin Cochina, wobei er das Amulett wiederum verliert. Nun denken die Indianer, dass Rick Cochina getötet hat und gehen auf Rachefeldzug. Lucy und Tuwana setzen mit vollem Körpereinsatz dagegen.

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Die weibliche Brust und ihre Faszination auf den männlichen Filmzuschauer. Oder anders ausgedrückt: Was in THE RAMRODDER an Busen gezeigt wird, das habe ich in dieser Ausführlichkeit und Zärtlichkeit das letzte Mal bei Russ Meyer gesehen. Oder bei Jess Franco. Selbst ein Messerzweikampf zweier halbnackter Frauen ist im Wesentlichen ein Aneinanderreiben nackter Brüste. Das Zielpublikum ist somit klar definiert: Männliche Zuschauer, die Freude haben an halbnackten schönen Frauen.

Andy Sidaris hat sinngemäß mal erzählt, dass es ihn immer gestört hat, dass bei den James Bond-Filmen genau dann abgeblendet wird, wenn es eigentlich interessant wird, nämlich wenn Bond und seine jeweilige Partnerin zur Sache kommen. Er hat daraufhin begonnen Filme zu drehen, in denen nicht abgeblendet wird, die aber ansonsten nichts anderes sind als James Bond-Filme, nur erweitert um den normalerweise nicht gezeigten Sex. Mal abgesehen davon, dass die USA auf den Moralvorstellungen von Puritanern gegründet wurden, geht Van Guylder in THE RAMRODDER nicht anders vor: Was passiert in der Nacht, wenn in den Tipis das Licht ausgeschaltet wird? Oder richtiger: Wie kann eine attraktive Rothaarige ihrer Freundin zur Flucht verhelfen? Indem sie vor dem Lagerfeuer zur Trommel einen aufreizenden Striptease hinlegt, und den jungen und geilen Krieger damit in die Decken bekommt. Genauso logisch ist es, dass der Cowboy, wenn er nach einem langen Trail nach Hause kommt und seine Partnerin gerade in der Badewanne vorfindet, sich auszieht und erst einmal sehr gründlich entspannt.

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Dass das ganze nichts mit einem handelsüblichen Peng Peng-Western zu tun hat sollte an dieser Stelle bereits klar sein, und dann wird man sogar überrascht sein, wieviel „Action“ es hier tatsächlich hat. Eine Schlägerei, ein Messerkampf, eine Kastration, eine Auspeitschung … Klar, so ganz ernst gemeint ist das alles nicht (die Kastration schon!), aber dafür ausgesprochen charmant gemacht. Die Kamera hält auf die Brüste und hält und hält drauf, als ob es kein Morgen gäbe Die unteren Geschlechtsorgane sind tatsächlich nicht existent, aber genau das macht ja den Charme aus: Vieles findet nur im Kopf des Zuschauers statt, etwa wenn die ältere Indianerin mit einem Dildo die Jungfräulichkeit von Tuwana überprüft, oder wenn es später zwischen den Indianerfrauen oralen Sex gibt – Das muss nicht explizit gezeigt werden (durfte es zu dieser Zeit auch noch gar nicht), die Reaktionen Tuwanas reichen völlig aus, um wohlig angenehmes Kopfkino in Gang zu setzen.

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Dafür braucht es natürlich vernünftige Schauspieler, und wider Erwarten sind die Akteure in diesem kleinen Filmchen alles andere als schlecht. Julia Blackburn als flammengeborene Venus, die den jungen Krieger tanzend aufgeilt, oder sich dem heimkehrenden Cowboy nackt und verschäumt entgegenstreckt macht ihre Sache ganz hervorragend, man beachte bloß einmal den Messerkampf mit Tuwana. Da passt die Mimik, da passt die Körperbeherrschung, und der Kampf wirkt auf diese Weise tatsächlich einigermaßen echt. Kathy Williams als Tuwana ist nicht ganz so überzeugend, erfreut aber Herz und Sinne durch ihre naive-ungekünstelte Art. Bei allen auftretenden Frauen habe ich ständig das Gefühl, zu Gast zu sein in einem Hippie-Lager des Jahres 1969, wo der Joint rumgeht, die Frauen ganz natürlich oben ohne umherlaufen, freie Liebe gemacht wird, und überhaupt eine von Grund auf positive Atmosphäre herrscht. Zum Wohlfühlen …
Bei den Männern wird das dann gleich wieder ad absurdum geführt: Roger Gentry, der hier als Jim Gentry firmiert, hat die Ausstrahlung eines Buchhalters, und wenn der Erfolg bei einer heißblütigen Frau wie Julia Blackburn hat, dann hätte ich das auch. Robert Aiken als Häuptling Braver Igel wirkt eher wie der Lustige Lurch, hüllt sich in seinen alten Flokati und redet geweihräuchertes Zeugs. OK, Schwamm drüber. Dafür sind die beiden jungen Wilden sehr eindrucksvoll – Gut gebaut, Wildheit und Mordlust in den Augen, und der eine von den beiden entpuppt sich auch schnell einmal als SM-Freak, der darauf steht, schöne Frauen auszupeitschen. Nun ja, die Dame seines Herzens wird bei sich auch dann entsprechende Neigungen entdecken, was folgerichtig zu einem Happy-End der etwas anderen Art führen wird.
Einzig Bobby Beausoleil als zahnloser Tramp hinterlässt bei den männlichen Darstellern nachhaltigen Eindruck, allerdings hat der nur einen nackten Oberkiefer. Dafür hätte er mit seiner Darstellung als durchgeknalltes Arschloch durchaus eine entsprechende Karriere starten können, aber sein Lebensweg sollte ein anderer sein. Bobby Beausoleil wurde 1970 wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, die er im Jahre 2020 nach wie vor absitzt. Anders die Cochina-Darstellerin Catherine Share, die genauso wie Beausoleil zur Manson-Family gehörte. Share war in den 70ern für fünf Jahre im Gefängnis wegen eines Überfalls auf einen Waffenladen. Im Gefängnis heiratete sie dann Kenneth Como, ein Mitglied der Aryan Brotherhood, von dem sie sich in den 80ern wieder scheiden ließ. Seitdem unterstützt sie die Free Indeed Ministeries, eine Vereinigung wiedergeborener Christen, in der mehrere frühere Mitglieder der Manson-Family ein Zuhause gefunden haben. Lebensläufe …

THE RAMRODDER ist technisch auf sehr hohem Niveau gedreht, die Musik, die oftmals Elmer Bernsteins Thema aus DIE GLORREICHEN SIEBEN zitiert, ist erstklassig, die Schauspieler sind zeigefreudig und gut, und wie erwähnt ist die ganze Chose einfach hochgradig charmant. Etwas altertümlich, aber liebevoll gemacht, und wer sich ein Herz für ältere Filme mit jungen Frauen bewahrt hat, der kann hier wenig verkehrt machen.

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

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The loveless (Kathryn Bigelow & Monty Montgomery, 1982) 4/10

Männer in schwarzen Lederhosen, unter den nietenbesetzten Lederjacken schmutzige Unterhemden. Schwere Stiefel, Lederkäppi schief auf dem Kopf, unter dem Arsch eine röhrende Harley-Davidson. Wie nennt man solche Männer? Rocker? Eine Gruppe dieser Reisenden bleibt um 1960 herum in einem Kaff in Georgia hängen. Vance (Willem Dafoe) findet die Bedienung im Diner nicht völlig unattraktiv, Davis (Robert Gordon) spielt mit Messern, La Ville (Lawrence Matarese) flippert und giert allem hinterher was einen Rock trägt und Sportster Debbie (Tina L’Hotsky) steht auf Davis. Die Gruppe macht eigentlich gar nichts, aber durch ihre Anwesenheit wirkt sie wie ein Katalysator auf die Befindlichkeiten der Eingeborenen: Die junge Telena (Marin Kanter) wirft sich mitsamt ihrer Corvette an den Hals von Vance, was wiederum ihrem Vater, der meint in jeder(!) Hinsicht ein Besitzrecht auf die Tochter zu haben, gar nicht passt. Die Chefin des Diners findet Rocker zum Kotzen und bedient sie gar nicht erst, und die Bedienung findet Vance gar nicht so unattraktiv und strippt nachts in einer Lounge Bar. In dieser Bar treffen sich abends auch alle Menschen aus dem Ort, und dort kommt es auch zur Konfrontation der wilden und freien Männer, die auf die provinziellen und spießigen Dörfler treffen, die mit den modernen Gegenstücken zur Mistgabel Monster jagen wollen.

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So funktioniert der Mythos des Biker-Films, und so wollen es uns Kathryn Bigelow und Monty Montgomery verkaufen. Doch bis dahin ist der Weg lang, steinig, und vor allem unglaublich theatralisch, denn THE LOVELESS erinnert in seiner Schauspielkunst meistens eher an ein Theater als an einen Film. Gekünstelte Fragen treffen auf geschwurbelte und kryptische Antworten (wenn überhaupt), und die Rocker, die eigentlich auf dem Weg zu einem Motorradrennen in Daytona sind, legen teilweise ein Benehmen an den Tag wie abgelegte Tucken morgens um 5 in einer Lederbar. An Homosexuelle erinnert das Outfit auch sehr oft. Die knallengen Lederhosen, die engen Lederjacken, die schweren Stiefel und vor allem die Ledermütze – Alles Attribute, die man sicher aus DER WILDE kennt, die aber in der heutigen(!) Wahrnehmung eher mit Schwulenbars assoziiert werden und nicht mit dem Geruch von Motorrad und Freiheit. Und wenn dann auch noch dieser dünne Typ mit dem auf den Handrücken tätowierten Hakenkreuz sich benimmt wie eine Mischung aus einer schlecht gelaunten Diva und einem überambitionierten Schauspielschüler in seiner ersten Aufführung, dann braucht mir niemand zu kommen mit Realismus oder Biker-Genre. Man vergleiche die hochstilisierten Fragen und ihre tiefphilosophischen Fragen aus THE LOVELESS mal mit den entsprechenden Dialogen aus sagen wir, DAS TODESRENNEN DER WILDEN ENGEL. Selbst der ein Jahr später entstandene RUMBLE FISH, der bewusst in einer artifiziellen Welt angesiedelt war, hatte da natürlichere Dialoge …

Das Problem könnte tatsächlich die heutige Sicht der Attribute sein, auf der anderen Seite krankt THE LOVELESS aber sehr ernsthaft an dieser Künstlichkeit der Darstellung. Alle Darsteller zelebrieren ihre Auftritte, dehnen sie bis zum Äußersten um nur möglichst viel Symbolik hineinzulegen, und dabei merkt die Regie gar nicht, dass dieses Artifizielle einen schrecklichen Kontrast zur eigentlichen Konfrontation des Films legt. Denn die Begegnung Rocker versus Spießer ist nicht erst seit DER WILDE immer wieder ausprobiert worden, auch im Western ist das Sujet Outlaw kommt in die Stadt und mag sich nicht anpassen ein beliebtes welches gewesen. Sicher möchte Frau Bigelow andere Wege gehen als beispielsweise ein Roger Corman, und nicht den Mythos des freien und unabhängigen Benzin- und Alkoholfreaks abfeiern, der alles was anders ist als er verachtet und vernichten möchte. Aber warum sie dann diesen hochgradig künstlichen und damit relativ ungenießbaren Weg geht, das wissen allein die Götter der Landstraße. In dieser Kombination jedenfalls wirkt der Film wie ein Theaterstück einer Laienspielgruppe: Bis zum Kragen voll mit Symbolik und immer haarscharf an der Authentizität vorbei.

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Was THE LOVELESS aber gleichzeitig sehr interessant macht ist das Ambiente. Die Ausstattung ist äußerst liebevoll zusammengestellt und mit sehr viel Sinn fürs Detail ins Bild gelegt worden. Die Werkstatt etwa, im welcher der Rocker Hurley seine Maschine repariert, wirkt wie ein Diorama, das von einem Modellbauer bis in kleinste Feinheiten ausgetüftelt wurde. Ein Standbild, in dem sich männliche (und eine weibliche) Heldengestalten räkeln und Philosophie, Melancholie und Existenzialismus üben können. In dem sich drei Ledermänner treffen, um sich mit überheblich-sinnlichem Blick gegenseitig Messer neben die Stiefel zu werfen und Männlichkeit zu zelebrieren. Bei aller Künstlichkeit ist THE LOVELESS in diesen Momenten stark, gerade weil er sich auf seine Künstlichkeit besinnt und erfolgreich eine Parallelwelt installiert. Was zu dem Gedanken führt, dass ich möglicherweise den Film ganz einfach nicht verstanden habe: THE LOVELESS als Arthouse-Gegenentwurf zu REBELLEN IN LEDERJACKEN? Ich lehne mich zurück, schaue die Bedienung lasziv-desinteressiert an, bestelle noch ein Bier, und harre der Kommentare anderer …

Nur zwei Jahre später wird Willem Dafoe in Walter Hills STRASSEN IN FLAMMEN wieder einen Rocker spielen, wieder in einer engen und schwarzen Lederkluft stecken, und wieder wird er Männlichkeitsrituale zelebrieren. Auch wenn Walter Hill natürlich einen ganz anderen Ansatz hat als Kathryn Bigelow sind die Ähnlichkeiten im Setting verblüffend. Eine künstliche Welt, die sich mal mehr mal weniger an den 50er-Jahren orientiert, harte und ausgesprochen männliche Männer, Frauen deren Existenz darin besteht gut auszusehen und Sex mit harten Männern abzustauben, Leder, Waffen, Motorräder … Doch welch Unterschied in der Stimmung, und ich muss ganz offen zugeben, dass mir trotz des widerlichen Jim Steinman-Soundtracks STRASSEN IN FLAMMEN als der stärkere Film der beiden erscheint. Mag sein, dass ich einfach nur Genre-Fanboy bin und auf schnelle und benzin- bzw. testosterongeschwängerte Unterhaltung aus bin. Mag auch sein, dass mir die intellektuellen Feinheiten von THE LOVELESS einfach entgehen, weil ich nicht mit Antonioni im Blut geboren wurde, sondern wahrscheinlich eher mit Hans-Joachim Stuck, und sicher mit Clint Eastwood. Aber, und das ist eine ganz persönliche Meinung, die bitte nicht zu verallgemeinern ist, Walter Hill hat einfach erheblich mehr Rumms in seinem Film. Und Francis Fords Coppola in RUMBLE FISH ebenfalls …

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Maulwurf
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Rebellen in Lederjacken (Daniel Haller, 1967) 7/10

1947 fand in der Kleinstadt Hollister in Kalifornien ein Treffen der American Motorcyclist Association statt, in dessen dreitägigem Verlauf es zu einigen Verhaftungen kam, meistens wegen Trunkenheit oder öffentlichem Urinieren oder sowas. Auch Verletzte gab es, weil besoffen Motorradfahren halt so supercool ist … Über die Jahre hinweg wurde dieses Event aber zu einem Massaker mittleren Ausmaßes verklärt, zu einem Sturm der über die kleine Stadt hereinbrach, und der mit einer der wesentlichen Gründungsmythen für die damals im Entstehen befindliche Rockerszene in den USA war. Vor allem aber waren diese drei Tage die Vorlage für den Film DER WILDE, mit dem Marlon Brando seinen Ruhm begründete. Fortan lebten vor allem die kleineren und abgelegeneren Ortschaften in der Angst, eines Tages von Rockern überfallen und vernichtet zu werden, während gleichzeitig in den Kinos das Genre des Biker-Films zu Ehren kam.

Was ein paar Jahre und einige Filme später dann zu REBELLEN IN LEDERJACKEN führt. Nachdem einer der Skulls aus Versehen einen Mann totgefahren hat, ist es für die Gang das Vernünftigste, aus der Stadt zu verschwinden. Der Anführer Cody nutzt die Chance, endlich seine Träume von einem freien und unabhängigen Leben verwirklichen zu können: Er möchte seine Leute nach Hole-in-the-Wall führen, dem mythischen Ort der Bande von Butch Cassidy, und dort ein Paradies auf Erden aufbauen. Unterwegs kommen sie durch den kleinen Ort Brookville, wo gerade ein Rummel stattfindet und eine Schönheitskönigin gewählt wird. Die Rocker benehmen sich nicht so ganz manierlich und sollen fortgejagt werden, der Sheriff allerdings setzt komplett auf Deeskalation und lässt die Gruppe am Flussufer außerhalb der Stadt übernachten. Die Schönheitskönigin begleitet die Rocker, zieht im Lager an einem Joint, und kann sich anschließend nur knapp einer drohenden Massenvergewaltigung entziehen. Aus dem „Sie wollten mich vergewaltigen“ wird dann in der Stadt aber ganz schnell ein „Sie wurde vergewaltigt“, und der Sheriff, der das Märchen zwar nicht glaubt und weiterhin deeskalieren möchte, sieht sich gezwungen Cody zu inhaftieren und die anderen fortzujagen. Die anderen, das sind 32 wütende Rocker, die sich für die erlittene Schmach rächen wollen. Aus einem nahegelegenen Ort werden 200 Mitglieder der befreundeten Stomper geholt, und nun kann ein Razzle-Dazzle stattfinden: Macht Kleinholz aus Brookville …

Das Leid einer Führungspersönlichkeit, schon so oft im Film gesehen, und doch immer wieder tragisch: Wie der Anführer nach und nach an Halt in seiner Gruppe verliert, bis er am Ende abgesägt wird. Bis ihm keiner mehr folgt, und die Ideale, die er einmal hatte, im Wüstensand oder wo auch immer begraben werden.
Hier ist es John Cassavetes als Cody, der einen klugen Kurs zwischen einer intelligenten Führung und lustgesteuertem Vergnügen fährt, und damit bei seinen Leuten lange Zeit ziemlichen Erfolg hat. Doch das Vermeiden von ernsthaftem Terz, Bambule nur dann wenn sie nicht sinnlos ist, das ist ein Weg der nicht allen seinen Leuten schmeckt, und in dem Augenblick, in dem Cody im Knast ist, können die anderen endlich aus dem engen Korsett Codys ausbrechen und das tun, was sie schon immer machen wollten: Ordentlich und ohne Rücksicht auf den Putz hauen.

Schon zu Beginn wird klar, dass Cody einen Kuschelkurs fährt: Einer der Gruppe, Gage, fährt im Beisein aus Versehen einen Mann tot und begeht Fahrerflucht, und Cody ist klar, dass die Cops jetzt bedingungslos Jagd auf die Skulls machen werden. Er könnte jetzt die Situation eskalieren lassen und die Heimatstadt Presidio mit Gewalt und Terror überziehen, aber nachdem die Gang in den letzten Jahren von 200 Leuten auf 32 geschrumpft ist, zieht Cody lieber die Samthandschuhe an und will weg aus der Stadt. In die Wildnis, und an einem einsamen Ort ein Leben in Freiheit führen. Erst viel zu spät muss er lernen, dass seinen Leuten diese Freiheit nicht passen wird, wenn nicht gleichzeitig Action geboten wäre. Und Action, dass bedeutet Auseinandersetzungen mit der Polizei. Etwas, was Cody unbedingt vermeiden will, seine Leute aber unbedingt provozieren wollen …

Denn im Grunde seines Herzens ist Cody genau der Spießer, der er eigentlich gar nicht sein möchte, und als der er sich selber auch gar nicht sieht. Er sehnt sich nach einem ruhigen Leben mit seiner Süßen und seinem Motorrad. Dass die Süße eher auf Razzle-Dazzle steht als auf beschauliche Freiheit, das ist eine der beiden Kernaussagen von REBELLEN IN LEDERJACKEN: Was kümmert mich morgen, ich lebe heute, und heute will ich FEIERN!(1) Saufen, kiffen, vögeln, und ordentlich einen losmachen, das ist es was zählt. Das Zielpublikum im damaligen Kino, jung und männlich, dürfte ordentlich Spaß gehabt haben und sich eher mit den Rockern identifizieren als mit dem bürgerlich erscheinenden Cody.
Der wiederum mit seinem weißen Seidenschal auch im Habitus eines Staffelführers eines Bombers aus dem zweiten Weltkrieg erscheint – Zumindest wird damit der Mythologie Genüge getan, dass die Staffelführer solche Schals trugen, und da die Rockerbewegung originär aus Ex-Bomberpiloten hervorging, die nach dem Krieg den Anschluss an das gewohnte Leben nicht mehr so ganz geschafft haben, ist hiermit im Film auch eine Verbindung zur historischen Wahrheit geschaffen worden. Das „Massaker von Hollister“ wird also in einem anderen, moderneren Kontext erzählt, ohne Rücksicht auf soziologische oder historische Befindlichkeiten, sondern aus der Unterhaltungssicht heraus. Was dem Zuschauer damals wie heute auf jeden Fall anderthalb vergnügliche Stunden verschafft …

Die andere Kernaussage ist, dass die Spießer halt eben Spießer sind. Dämliche Mistkerle, die aus jeder Mücke einen Elefanten machen, nur weil man anders aussieht. Die aus „Da war nichts“ zuerst ein „Da hätte was sein können“ machen, und aus der Schlussfolgerung „Da war was!“ die Berechtigung zur Selbstjustiz extrahieren. Willkommen in der Realität des wahren Backwood Horrors! Und auch hier dürfte das damalige Zielpublikum, jung und männlich, im Kino gejohlt haben vor Vergnügen, wenn der beschlafanzugte Bürgermeister gedemütigt wird …

REBELLEN IN LEDERJACKEN ist schnell und klug erzählt, und vergisst bei aller Klugheit aber auch nicht, dass Unterhaltung im Biker-Film mit viel Action und lauten Motorrädern gleichzusetzen ist. Der Film spricht Bauch und Kopf gleichermaßen an, weswegen er auch heute noch hervorragend funktioniert. Und mindestens genauso viel Spaß macht wie ein Razzle-Dazzle …

(1) Man kann davon ausgehen, dass der Film vermutlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1966 gedreht wurde (Premiere war im April 1967). Die Band THE DOORS hat ab etwa Mai 1966 das Lied When the music’s over live gespielt, und in diesem Song kommt die Zeile We want the world and we want it now! vor. Eine bemerkenswerte Koinzidenz, denn dies ist genau die Philosophie, die von den Rockern im Film gelebt wird, und die auch in den nächsten Jahren das kulturelle Leben der Weltjugend dominierte: Schau nicht auf das morgen, lebe heute und nimm Dir was Du willst. Noch bemerkenswerter allerdings wenn man sich überlegt, dass Cody im Film mit dieser Haltung nicht erfolgreich ist, endet sein Traum von Freiheit und Unabhängigkeit zumindest vorläufig und bereits zwei Jahre vor EASY RIDER im Staub einer Kleinstadt in der Wüste.
Oder wird Cody mit diesem Ende andererseits erst recht mit der Freiheit konfrontiert? Nämlich der Freiheit, dem Gruppenzwang seiner Gang zu entsagen und sich zukünftig tatsächlich vollkommen unabhängig und damit im wahrsten Sinne “frei“ verhalten zu können? Unter diesem Gesichtspunkt wird Cody möglicherweise seinen Namen ablegen und zwei Jahre später als Wyatt auf einem Chopper wieder auftauchen. Ohne Gruppe, mit viel Freiheit, aber auch mit einem definierten Ende …
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Bellissima (Luchino Visconti, 1952) 6/10

Maddalena Cecconi und ihr Mann Spartaco leben am Existenzminimum. Als Krankenpflegerin ist sie den ganzen Tag unterwegs, bettlägerigen Menschen Spritzen zu geben, und für die siebenjährige Tochter bleibt da nicht mehr viel Zeit. Die soll es doch aber mal besser haben, und als die Cinecittà-Studios einen Aufruf starten, dass ein sechs- bis achtjähriges Mädchen für einen Film gesucht wird, da wird Maddalena zur Löwenmutter. Die letzten Ersparnisse werden für Kleidung und Bestechungsgelder ausgegeben, es werden keine Kranken mehr gespritzt sondern die Zeit im Studio oder beim Friseur verbracht, und es wird ein gewaltiger Aufwand betrieben, nur damit die kleine und untalentierte Valeria zu den Probeaufnahmen eingeladen wird. Mit Hilfe der Beziehungen zum windigen Annovazzi klappt das auch recht gut, aber was kommt dann? Wird Valeria zum Filmstar aufgebaut und ausgebeutet werden? Oder übernimmt sich Maddalena mit dieser Sache und wird mitsamt ihrer kleinen Familie auf der Straße landen?

Es ist schon interessant, wie unterschiedlich ein Film aufgenommen werden kann. Rein prinzipiell läuft BELLISSIMA als Drama, und gerade die letzte halbe Stunde des Films ist eine zutiefst zu Herzen gehende und wahrhaft berührende Tragödie. In der allgemeinen Rezeption wird der Film aber auch gerne als Komödie gesehen, weil er als einziger Film Viscontis über lange Strecken hinweg einen heiteren Unterton hat. Anna Magnani spielt immer mit einem gewissen Schmunzeln auf der Seele, und lässt den Zuschauer an ihrem stressigen und ausgefüllten Leben immer mit einem Augenzwinkern teilnehmen.
BELLISSIMA wird aber auch gerne als Satire verstanden. Als Satire auf die Filmwelt nämlich, in der die Filmschaffenden sich über das Gefühl echter Angst und echter Unsicherheit vor Lachen ausschütten, weil sie nur noch künstliche Gefühle sehen und wahrnehmen können, und diese künstlichen Gefühle als echt erachten. Gleichzeitig lacht der Regisseur Blasetti, der im Film sich selbst spielt, als Einziger das angsterfüllte Mädchen nicht aus, denn er spürt instinktiv, dass er Valeria viel besser für sein Projekt ausbeuten könnte als die anderen Mädchen …

Diese Teile des Films sind, ich erwähnte es, ergreifend und berühren den Zuschauer in seiner Seele. Was der Film aber auch ist, und hier schweigt die arrivierte Kritik: Er ist zu langen Teilen nervig! Es wird fast ununterbrochen geredet, außer in den Szenen in denen geschrien wird. Wer Italien und die Italiener kennt weiß, dass hier auch gerne einmal alle Menschen gleichzeitig reden, und jeder natürlich gehört werden will. BELLISSIMA mag an dieser Stelle vielleicht dem Neorealismus zugerechnet werden können, wird diese Eigenart doch ausgiebig vorgestellt. Aber irgendwann reicht es dann auch mal wieder, und wenn Maddalena und Valeria im Projektionsraum stehen und mucksmäuschenstill sein müssen, dann durchzieht ein vollkommen irriges Gefühl der Ausgeglichenheit den Zuschauer: Endlich Ruhe!

Nicht falsch verstehen, BELLISSIMA ist ein guter Film, der einen Einblick in eine Wirklichkeit zeigt, die es so schon lange nicht mehr gibt, und in der keiner aus unserer Gegenwart gerne leben möchte. Gleichzeitig fehlt zum Beispiel die Bitterkeit von FAHRRADDIEBE oder die Düsternis der frühen Rossellini-Filme. Es sind nicht die weltbewegenden Tragödien die hier gezeigt werden, und auch das notwendige Arbeitsmittel wird nicht gestohlen. Nein, es ist das tägliche Allerlei, das immer wiederkehrende Chaos eines normalen Tages, das Alltagsleben einer armen Familie mitsamt ihren großen und kleinen Problemen was hier dargestellt wird, und der Zuschauer hat keinerlei Probleme sich in diese Welt hineinzufühlen und mit den Protagonisten mit zu leiden. Aber irgendwann kehrt dann einmal Ruhe ein, und es ist, für heutige Ohren und Sehgewohnheiten, eine Wohltat, dass auch die Maschinengewehrschnauze von Anna Magnani einmal versiegen kann, auch wenn der Grund dafür zutiefst bemitleidenswert ist.

Ein zwiespältiges Gefühl durchfährt mich nach dem Film. Einerseits habe ich einen wunderbaren und erschreckenden Einblick in die damalige Welt erhalten, habe mit einer Löwenmutter dafür gekämpft, dass es die Tochter einmal besser haben wird, und Maddalenas Umwelt verflucht für all die Widerstände die sie zu überwinden hat.
Andererseits geht all das Drama und all der Ernst ein wenig im Dauerfeuer der Dialoge unter, und gerade die Szenen etwa mit den Nachbaren, die alle in der kleinen Wohnung der Cecconis stehen und alle auf einmal an Maddalena und ihrem Mann herumkritteln, sind mit Verlaub gesagt etwas strapaziös. Ich für meinen Teil habe mich gefreut wenn diese Szenen vorbei waren …

BELLISSIMA ist ein guter Film mit bemerkenswerten Darstellern und genauso bemerkenswerten Einblicken. Aber nochmal werde ich ihn sicher nicht sehen. Und es ist mindestens genauso bemerkenswert, dass ich so viele Worte verliere über das Hören so vieler Worte, ohne mich wirklich in den Film hineinzuarbeiten. Was über den Film dann wiederum so einiges sagt …
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Jack Grimaldi
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

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Der Gendarm vom Broadway (Jean Girault, 1965) 7/10

Der internationale Polizeikongress findet dieses Jahr in New York statt, und wer darf die stolzen Farben der französischen Nation vertreten? Natürlich die fleißigen Gendarme aus St. Tropez. Also geht es unter der strengen Fuchtel von Wachtmeister Cruchot Links Zwo Drei Vier im Gleichschritt Marsch nach Paris, von dort nach Le Havre, und dann mit dem Schiff nach New York. Familienangehörige sind nicht zugelassen, aber Cruchots Tochter Nicole wollte doch schon immer einmal nach New York … Also reist Nicole als blinder Passagier mit, und als ihr Herr Papa sie sieht, zweifelt er natürlich an seiner Wahrnehmung! Nicole ist doch weit weg von hier, Zuhause, in St. Tropez …?
Nicole macht in New York die Bekanntschaft eines Journalisten, dem sie sich als Waise verkauft, und beginnt eine zarte Romanze mit einem italienischen Polizisten, immer begleitet von der Kamera des Reporters. Natürlich passiert es, dass Papa und Tochter sich immer wieder einmal begegnen, und Cruchot zweifelt immer mehr an seinem Verstand, ja er kommt sogar in psychoanalytische Behandlung, bis er die Fotos in der Zeitung sieht. Seine Tochter, in New York, poussierend mit einem Italiener! Und da ja, wie der Herr Vorgesetzte es so schön ausdrückt, ein Polizist, der nicht einmal in der eigenen Familie für Zucht und Ordnung sorgen kann, da ja so ein Polizist am Besten seinen Abschied nehmen sollte, muss Cruchot nun seine Tochter vor den Kameraden und der Presse verstecken, muss den letzten Tag des Kongresses durchstehen während ihm die amerikanische Polizei auf den Fersen ist, und muss Nicole, die ja nicht einmal einen Pass dabei hat, wieder zurück bugsieren nach Frankreich …

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Bemerkenswert an dieser chaotisch wirkenden Handlung ist, dass de Funès dabei gar nicht mal so sehr den Grimassenheini spielt, als den man ihn kennt. Die Handlung ist eher episodisch angelegt, und die dabei aneinandergereihten Situationen sind jede für sich oft so komisch und immer so kunterbunt durcheinander, dass ein aufgedrehter de Funès da wahrscheinlich eher kontraproduktiv gewirkt hätte.

Stattdessen fügt er sich in die Handlung ein und lässt seinen erstklassigen Kollegen ihren eigenen Raum zum Aufspielen. Weswegen einer der zauberhaftesten Momente der ist, als sich die heimwehkranken Franzosen im Hotelzimmer ein Entrecôte braten – Zuerst die Zwiebeln. Die Butter? Nein, nichts überstürzen. Mostrich! Die Butter? Nein, später. Jetzt? Nein später! Salz. Jetzt die Butter? Nein, ich melde mich schon. Pfeffer! Die Gewürze, jetzt die Gewürze! Die Butter …? Ich melde mich!! Petersilie. Butter. Butter! Bitte? Butter!! Wo bleibt die Butter!!!? Und dann werden dem armen Fougasse, der im Krankenhaus liegt, die Reste per Telefon hingehalten, und er riecht den Duft des Essens und wird halb verrückt vor Heimweh …

Doch der unbestrittene Höhepunkt kommt, wenn Cruchot das frisch gekaufte Entrecôte von einem Halbstarken gestohlen wird, der auf einen Basketballplatz flüchtet, wo sich bereits seine Freunde befinden. Ein paar US-Polizisten kommen dazu, und der dann folgende Tanz um das goldene Fleisch, 1:1 der West Side Story nachempfunden (wobei die Musik kein Plagiat ist, sondern an die WEST SIDE STORY erinnern soll), ist unbeschreiblich. Komisch, aufregend, tänzerisch erstklassig, spannend … Ein Höhepunkt in meiner persönlichen, an Höhepunkten nicht armen, Filmsammlung.

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Nicole bekommt angenehm wenig Screentime für ihre Liebesromanze mit dem schneidigen Aldo, dafür gibt es sehr schöne Aufnahmen aus dem New York des Jahres 1964, und ein relativ hohes Tempo mit vielen kleinen schönen und lustigen Momenten. Ein Baseballspiel gegen die italienischen Polizisten. Englischunterricht an Bord des Schiffes. Eine wunderbar klischeehafte italienische Familie, bei der Nicole untergebracht ist, und wie Cruchot diese Familie austrickst um seine Tochter endlich in die Finger zu bekommen. Ein Auftritt der Keystone Cops. DER GENDARM VOM BROADWAY ist eine Nummernrevue ohne durchgehende Handlung und dem ein oder andern Hänger, und der Film ist insgesamt sicher kein absoluter Höhepunkt des de Funès’schen Schaffens. Aber er ist ein ausgesprochen komischer Film, der ohne größeren Anspruch einfach jede Menge Spaß macht.

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Yojimbo, der Leibwächter (Akira Kurosawa, 1961) 9/10

Ein Mann kommt in eine Stadt, in der sich zwei Banden gegenseitig bekriegen. Der Mann spielt die beiden Banden gegeneinander aus und zieht um Geld und Erfahrungen reicher von dannen.

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Eine zutiefst persönliche Besprechung eines Films, den alle anderen bereits kannten …

Ich bin Italo-Western-Fan, nun schon seit mittlerweile fast 40 Jahren. Ich habe mich mit der Historie beschäftigt, mit den Geschichtchen aus der Kulisse, und kenne und liebe glaube ich von den Klassikern des Genres bis zu den faulen Äpfeln aus der hintersten Reihe eine Menge Spaghetti-Western. Und natürlich bin ich mit der anekdotischen Entstehung des Genres vertraut: Wie Sergio Leone das Remake eines japanischen Samurai-Films als Western plante, in Spanien mit einer Deutschen und einem Italiener in den führenden Nebenrollen und einem amerikanischen Hauptdarsteller, und wie dieser Amerikaner, der aus seinem Serieneinerlei zuhause ausbrechen wollte, am Hollywood Boulevard eine schwarze Jeans und einen Poncho kaufte, weil er glaubte dass dies die richtige Kleidung für seine Rolle wäre …

Nun habe ich das erste Mal das Original zu FÜR EINE HANDVOLL DOLLAR gesehen: YOJIMBO, DER LEIBWÄCHTER. Ich habe das erste Mal Toshiro Mifune bewusst wahrgenommen und ihn als Schauspieler erleben können. Habe die starke Musik und die hinreißenden Kulissen bestaunen dürfen, die herrlich kaputt aussehenden Nebendarsteller, die feine Regie, die Mifune so viel Leben gestattet, und ich muss sagen: Ich habe den ersten Italo-Western entdeckt (und ja, ich weiß sehr wohl, dass Filme wie DIE SIEBEN SAMURAI oder DIE VERBORGENE FESTUNG vorher entstanden sind. Die habe ich aber noch gar nicht oder das letzte Mal vor rund 40 Jahren gesehen. Wie ich zu Beginn schrieb, eine ausgesprochen persönliche Besprechung …).

Und was Leone sich nicht alles abgeschaut hat aus diesem Samurai-Western: Die verhauenen Gestalten mit den Charakterfressen. Der Wind, der durch den kleinen Ort heult und soviel Einsamkeit und Trostlosigkeit, aber auch den permanenten Anstoß zur Gewalt enthält. Die Apotheose des Helden, der erst durch die Hölle muss, bevor er seine Rache an den Peinigern nehmen kann, und sogar diese Apotheose ist im ständig heulenden Wind des Todes bereits enthalten. Sogar das Stückchen Holz im Mundwinkel des Helden, das dann ein paar Jahre später zu einem Zigarrenstummel im Mund eines überzeugten Nichtrauchers wird. Und natürlich die moralische Verkommenheit des Helden, der eigentlich gar kein Held im klassischen Sinne ist, sondern einzig und allein um des Geldes willen handelt. Ein Gefühl für Anstand bringt ihn dazu, die Frau zu befreien, und dafür tötet er bedenkenlos sechs Männer. Im Jahre 2021 ist dies in Filmen der unterste mögliche Body Count, anders werden Filme heute nicht mehr als erfolgreich erachtet. Aber 1961?? Der fast namenlose Samurai tötet schnell und mitleidlos, er kennt weder Erbarmen noch zögert er beim Töten. Und als sein Hauptwidersacher stirbt hat er auch nur einen hämischen Kommentar parat – Ja, der Italo-Western der Jahre ab 1965 hat hier seine Ursprünge, und sie sind in fast jeder Szene zu finden. Wenn Toshiro Mifune durch den einsamen Ort läuft, dann könnte das auch genauso gut Tony Anthony sein, der ganz alleine gegen eine Übermacht kämpft, gleich welchen Preis er dafür zahlen muss. Hauptsache er bekommt das Geld und seine Rache …

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Interessant ist es zu sehen, wie Sergio Leone mit der Vorlage umging. Wo er die manchmal etwas langwierige und historisierende Handlung des Originals straffte um eine stringentere Erzählung zu bekommen, Wo er das schnelle und rücksichtslose Duell von YOJIMBO zu einem spannungsgeladenen Epos um ein Gewehr und eine Pistole erweiterte. Wo er die Düsternis und die Verlassenheit des japanischen Dorfes in einen Alptraum aus Sonne und Hitze umfunktionierte. Denn die Stimmung in diesem elenden und verlorenen japanischen Kaff, das den direkten Eingang in die Unterwelt darzustellen scheint, das hat Leone nicht ganz so perfekt hinbekommen. Auch ein Meister wie Sergio Leone musste erst lernen Filme zu drehen, und man muss dann schon auf Filme wie SATAN DER RACHE oder TÖTE, DJANGO zugreifen, um eine vergleichbare Atmosphäre zu erleben. Wenn die Bande vor dem brennenden Haus Ushi-Toras steht und jeden erschlägt der aus dem Inferno zu entkommen versucht, wenn der Wind die Rauchwolken zwischen die Männer bläst und Finsternis und Verzweiflung geradezu zu spüren sind, dann öffnet sich für den Zuschauer genauso die Pforte zur Hölle wie für den heimlich beobachtenden Samurai. Die Verderbtheit und Verkommenheit, die in dieser Szene aus jeder Pore ausgeschwitzt wird, ist diabolisch und so finster wie die Nacht. Mindestens. Kurosawa nimmt in dieser Sequenz die Politik des gesamten kommenden Jahrzehnts vorweg, und rotzt es dem entsetzen Zuschauer mitleidlos vor die Füße. Schau her, sagt er, schau her was wir mit Deinem zivilisatorischen Wohlstandsdenken machen werden …

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YOYIMBO ist ein unglaublich intensives und beeindruckendes Western-Abenteuer im Wilden Osten. Die Längen in der ersten Hälfte, die einer etwas zerfaserten Handlung und der Unkenntnis der japanischen Sitten und Geschichte entspringen, können geflissentlich übersehen werden, denn die Explosivkraft der zweiten Hälfte ist immens. Und Toshiro Mifune zeigt sich als wahrer Vorgänger von Franco Nero und Clint Eastwood, als Japan-Django, der für eine ganze Generation Filmhelden Pate stand, und der dabei auch noch, anders als die Djangos und Sartanas, eine menschliche Seite zeigt und damit als Identifikationsfigur taugt. Mifune ist cool, er ist verdammt cool, er ist so cool, dass er den ihn beobachtenden Freudenmädchen die Zunge rausstrecken kann ohne auch nur ein Quäntchen seiner Aura zu verlieren, aber er ist kein Übermensch. Kein Halbgott mit seiner Waffe, sondern der ganz normale Samurai von nebenan. Und damit gleich noch einmal so beeindruckend …

Wie gesagt, eine persönliche Besprechung. Nach 40 Jahren Filmleidenschaft verstehe ich, warum Akira Kurosawa so groß gefeiert wird. Auch wenn ich nicht weiß, ob die arrivierten Kritiker des Kulturbetriebes so viele Italo-Western gesehen haben wie ich …

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

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Für eine Handvoll Dollar (Sergio Leone, 1964) 9/10

Ein Mann kommt in eine Stadt, in der sich zwei Banden gegenseitig bekriegen. Der Mann spielt die beiden Banden gegeneinander aus und zieht um Geld und Erfahrungen reicher von dannen.

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Nachdem kurz zuvor die Erstsichtung von Akira Kurosawas YOYIMBO, DER LEIBWÄCHTER über meinen Fernseher leuchtete, war es mal wieder an der Zeit das große Remake eines großen Originals einzulegen. Nach Toshiro Mifune, der als namenloser Samurai zeigen durfte wie das mit dem Bösewichter gegeneinander ausspielen im Wilden Osten so ging, wollte ich einfach einen direkten Vergleich mit der gleichen Geschichte im Wilden Westen ziehen.

Irgendwann in der ersten Hälfte der 80er-Jahre entdeckte der kleine Maulwurf in den Kinos der großen Stadt den Italo-Western. Neben dem Ur-DJANGO war es vor allem die Dollar-Trilogie von Sergio Leone, die sich damals unauslöschlich in die Netzhaut einbrannte, und dem Maulwurf eine lebenslange Affinität zum Italo-Western bescherte. Mittlerweile wurde vor allem diese Dollar-Trilogie so oft gesehen, dass die Sichtung eines dieser Filme fast ein wenig wie Nachhausekommen ist: Man kennt die Charaktere, man kennt die Kulissen, man kann die Texte mitsprechen und die Musik mitpfeifen. Man fühlt sich in diesem Universum so wohl wie in seinem Wohnzimmer, und kann aber gleichzeitig auch immer wieder Neues entdecken, weil man sich auf die eigentliche Geschichte nicht mehr so konzentrieren muss.

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Dieses Mal allerdings war es der erwähnte Vergleich mit dem, am Vortag genossenen, Original, dem erwähnten YOJIMBO, und da wurde die Sache erst richtig interessant. Wie hat Kurosawa eine bestimmte Szene umgesetzt, und was hat Leone aus diesem Moment herausgeholt? Wenn Unosuke den Samurai als Urheber des Massakers entlarvt, dann zieht sich die Spannung aus der Tatsache, dass auf dem Tisch eine Dankesbotschaft des geretteten Ehemannes liegt, und der Samurai verzweifelt versucht, diese Nachricht zu verdecken. Ramon Rocco auf der anderen Seite taucht wie der Teufel aus der Kiste auf. Plötzlich ist er da und weiß durch einen dummen Zufall, wer die Toten im Haus seiner Geliebten zu verantworten hat. Seine leise Gefährlichkeit erzeugt eine erheblich intensivere Stimmung als die Darstellung von Tatsuya Nakadai, der seinem Pistolenhelden zwar eine fast überirdische Bosheit gibt, aber interessanterweise ausgerechnet in dieser Szene eben nicht so satanisch wirkt wie Gian Maria Volonté.
Andersherum: Wenn die Roccos das Haus der Baxters belagern, und nach und nach alle vor dem Feuer Flüchtenden erschießen, dann ist diese Szene ungemein düster, in der ungeschnittenen Fassung sogar ausgesprochen finster. Sie ist tiefschwarz und abgrundtief schlecht, und je länger die Schießerei dauert, desto schrecklicher wirkt dieser Moment, und desto entsetzter wird der Zuschauer ob dieser furchtbaren Metzelei. Ein kurzer Blick in ein Inferno wie es kaum schwärzer sein könnte. Doch wenn das Haus von Ushi-Tora brennt, und die Banditen vor dem Haus jeden vor dem Feuer flüchtenden erschlagen bzw. erstechen, dann hat Kurosawa diese Szene tatsächlich noch ein paar Ecken dämonischer und mit einem fast überirdischen Schrecken angelegt. Der Rauch zieht durch das Bild, verhüllt stellenweise die Toten und ihr Sterben, und erzeugt damit ein wahres Pandämonium, das Bild eines infernalischen Terrors, die Hölle auf Erden …

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Leone hat ja Clint Eastwood bekanntlich den Rat gegeben sich auf die Rolle vorzubereiten, indem er sich die japanischen Filme anschauen soll, nicht die US-Western. Eastwood scheint dies auch getan zu haben. Hat er doch etwa die Geste des sich durch den Bart fahrens von Toshiro Mifune kopiert und sie dabei tatsächlich zu etwas ganz eigenem gemacht. Mit dem Aufspüren solcher Details könnte man wahrscheinlich ein ganzes Buch füllen. Als kleinem Maulwurf, der staunend vor solch filmischen Meisterwerken steht, bleibt mir nichts anderes übrig als zu konstatieren, dass wenn ein großartiger Regisseur das erstklassige Werk eines anderen herausragenden Regisseurs neuverfilmt, in der Summe eben auch nur ein kleines Meisterwerk entstehen kann. Und der eigentlich angestrebte Vergleich der Meisterwerke entfallen muss, weil beide Filme trotz ihrer Gleichheit (Richtiger: Ähnlichkeit) in ihrer Art einzigartig sind, und beide auch zur fassungslosen Sprachlosigkeit und großen glänzenden Augen führen. Mögen sich Berufenere an diesen Vergleich wagen, ich für meinen Teil bekomme das nicht hin …

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Antiporno (Sion Sono, 2016) 7/10

Das japanische Kino ist bekannt für seine Absonderlichkeiten. Viele Regisseure haben Grenzen ausgelotet, Tabus gebrochen und filmische Exzesse ausgelebt. Damit meine ich sowohl vom Mainstream akzeptierte Künstler wie Takashi Ishii, Kinji Fukasaku oder Takashi Miike, aber auch „Avantgardisten“ wie etwa Shin'ya Tsukamoto oder Tetsuya Nakashima. Ein durchgeknallter Pop-Art-Film wie DIE FAMILIE MIT DEM UMGEKEHRTEN DÜSENANTRIEB jedenfalls schaut im Kosmos von Filmen wie TETSUO oder THE WORLD OF KANAKO sogar fast noch bieder aus.

Manchmal allerdings übertreiben es die Japaner dann auch mit dem Willen zur Avantgarde. Filme wie RUNNING IS SEX sind dann schon ... sagen wir mal fremdartig. Großartig, aber eben anders. ANTIPORNO ist auch so ein Film, der eher in die Kategorie „Ausgesprochen eigenständig“ fällt: Die junge Kyoko (Ami Tomite) ist eine Künstlerin und Schriftstellerin, die zwischen dem morgendlichen Kotzen und einem Interview am Nachmittag hauptsächlich vollkommen am Rad dreht und nebenberuflich ihre Sekretärin Noriko schurigelt. Als eine Interviewerin zusammen mit Kamerafrau und Fotografin erscheint, endet das ganze damit, dass die Gehilfin der Kamerafrau mit ihrem Plastikdildo Noriko vögelt, während die Interview-Tante das Interview völlig im Alleingang erledigt und Kyoko im Hintergrund tanzt und singt. Was die ersten 30 Minuten des Films beschreibt! Danach kommen noch weitere 43 Minuten, und die sind dann bei weitem nicht mehr so gradlinig erzählt, sondern rauschen wie ein betrunkener Surfer durch verschiedene Erzählebenen, treiben zwischen Roman Porno und Coming-of-Age-Drama an den Rand des Verstandes, und überfluten den Zuschauer mit einem Rausch aus Bildern, der einem LSD-Trip in Nichts nachsteht.

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Da taucht ein Filmset auf, und die Rollen von Kyoko und Noriko drehen sich um 180 Grad, da wird erzählt warum Kyoko so auf Sex fixiert ist (ein Trauma aus der Jugend), und warum ihre Schwester bei ihr am Klavier sitzt (selbstverständlich nur als Erscheinung, und nur Kyoko kann die Schwester wahrnehmen). Dann steht Kyoko auf einer Bühne und muss sich vor Noriko für ihr schlechtes Schauspiel rechtfertigen, während das Publikum lacht, bis dann am Ende(?) nicht mehr Noriko mit einem Hundehalsband gedemütigt wird, sondern Kyoko das gleiche(?) erlebt(?). Bild und Traum, Rausch und Wirklichkeit, Wahn und Staunen, alles vermischt sich zu einer Kakophonie aus Sex, Wut, Hass, Angst und Blut, bis dann am Ende die Farbe, die den gesamten Film bereits beherrscht hat, herabfällt und Ami Tomite zu einem bunten Abziehbild einer niemals stattgefundenen Wirklichkeit werden lässt.

So beeindruckend dabei die schauspielerischen Leistungen sind, so schockierend die Meta-Ebene der Filmcrew ins Bewusstsein dringt, und so überwältigend die farblichen Sets auch erscheinen, eine Frage stellt sich halt doch immer wieder: Was soll das? Wo ist der Sinn dieses avantgardistisch-nebulösen Wahns? Die Auflösung der Roman Porno-Gesetze? Das mehrfache Durchdringen der vierten Wand? Die Entlarvung feministischer Forderungen zu Gunsten sexueller Ausnutzung? Das ist alles sehr schön anzusehen und erfüllt den Fernsehbildschirm mit vorher kaum geahnten Farben. Allein der Sinn dahinter ist leider ebenfalls kaum zu ahnen. Style without any Substance? Oder bin ich zu einfach gestrickt, um die tiefenanalytischen Rekursionen der Narration zu erkennen? Ist meine filmische Wahrnehmung nach Hunderten von Krimis, Thrillern und Western so degeneriert, dass ich ein visuell-narratives Experiment nicht als der Wahrheit letzter Schluss erkennen kann?

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Schwer zu sagen, und würde ich von der arrivierten Kulturkritik bezahlt werden, dann fielen mir bestimmt ein Dutzend cool klingender Fremdwörter ein, die den Film perfekt beschreiben ohne ihn zu erläutern, womit ich meine intellektuelle Überlegenheit nach außen glaubhaft beweisen könnte – Und mir dann heimlich einen Jean-Claude van Damme-Film reinpfeifen würde, damit ich das auch selber glaube was ich da zusammenschreibe. In dieser Wirklichkeit aber, in der sich gigantische Farbspielereien im Fernseher ergießen, und kryptisch dialogisierende Frauen sich ausziehen und gegenseitig zur Sau machen, in dieser Wirklichkeit stehe ich ratlos da, staune ob des unbedingten Kunstwillens des Regisseurs, und lege mir anschließend ganz offiziell einen Maurizio Merli-Film in den DVD-Spieler, um nahrhafte und spannende Unterhaltung zu genießen.

ANTIPORNO ist nicht schlecht. Er ist provokant, künstlerisch interessant, und auf eine ganz eigene Art nicht unerotisch. Das Spielerische, mit dem Sion Sono die Grenzen des Roman Porno-Klischees aufbricht und die Erwartungshaltung des Zuschauers (und sicher auch des Produzenten) unterläuft, die stellt den Film meilenweit über verquaste Kopfgeburten à la A THOUGHT OF ECSTASY. ANTIPORNO war immerhin Sonos Beitrag zum Roman Porno Reboot der Produktionsfirma Nikkatsu, bei dem fünf unterschiedliche japanische Regisseure gebeten wurden Filme zu drehen, die den gleichen Regeln gehorchen wie die entsprechenden Klassiker aus den 70ern. Und Sono, von dem es heißt, dass sein Stil Attribute wie groteske Gewalt, extreme Erotik, philosophische Referenzen, surreale Bilder und komplexe Erzählweisen kombiniert, und der einen gewissen Hang hat zum sogenannten "Ero-Guro-Nansensu-Genre" (1), langt hier in die Vollen und zeigt seinen Kritikern lustvoll und mit einem breiten Grinsen, wie man diese Ausrichtungen miteinander kombinieren kann. Das ganze noch unter den Gesichtspunkten Feminismus und Roman Porno betrachtet, und fertig ist ein Mindfuck der ganz besonderen Art, der seine Kraft und seine Anziehung auch unter Umständen erst nach einiger Zeit entfaltet. Wenn man sich nämlich später, nach dem Genuss besagter van Damme- oder Merli-Filme fragt, warum die so verdammt vorhersehbar sind …

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Beim Schreiben dieses Textes recherchierte ich zunehmend nach den Filmen von Sion Sono, nach seiner Rezeption, und sah mir auch immer wieder Ausschnitte seiner Filme an beziehungsweise besorgte mir andere seiner Arbeiten. Dabei fiel mir auf, dass viele Themen, die ich in ANTIPORNO angeschnitten gesehen habe, auch in anderen Filmen wieder auftauchen. Dass Sono sich oft auf ähnliche Themen bezieht, und diese immer wieder aus anderen Blickwinkeln betrachtet, die Narration also immer wieder in verschieden große und kleine Stücke zerreißt und neu zusammensetzt. Sonos Filme bestehen oft aus einzelnen Momenten, die nacheinander betrachtet vielleicht nicht immer Sinn ergeben müssen, aber in der Übersicht plötzlich ein intensives und wildes Gemälde ausmachen. Und in dem Augenblick spürte ich, dass dieses farbintensive und narrativ-labyrinthische Experiment tiefer in die Hirnrinde eingedrungen war als ursprünglich gedacht, und dass zumindest die Farben tatsächlich Ablagerungen hinterlassen haben, die nach mehr schreien. Nach mehr Irrsinn, mehr Wahn, mehr Experiment, und mehr Rausch. Ein ganzes Paket Sono-Filme wurde geordert, und dieses cineastische Delirium will jetzt nach und nach begutachtet werden. Auf dass die Welt zumindest für ein paar Stündchen eine andere wird. Eine buntere, eine quietschigere Welt, voller Farbe und Sex, voller Leben und Gefühle. Auf dass ich, bevor ich diesen Text endgültig abschließe, doch erst noch ein paar andere Filme dieses außerordentlichen Regisseurs gesehen habe. Über Jess Franco heißt es, dass man, wenn man nicht alle Filme des Regisseurs gesehen hat, keinen seiner Filme gesehen hat. Sollte es bei Sion Sono genauso sein?

Mehrere Sono-Filme später kann auch dies dann tatsächlich bestätigt werden. Dieses mehr an Farbe und Sex, an Leben und an Gefühlen, in Verbindung mit einem filmischen Universum das so reichhaltig ist, dass auch das Franco-Zitat auf Sion Sono zuzutreffen scheint. Von daher ist ANTIPORNO tatsächlich der Beginn einer wunderbaren Freundschaft …

(1) https://jenniferlinton.com/2015/06/16/d ... roduction/

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