Was vom Tage übrigblieb ...

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Maulwurf
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In Ketten zum Schafott (Duccio Tessari, 1963) 8/10

Wenn man nicht genauer hinschaut könnte man fast meinen, dass das politisch orientierte Unterhaltungskino in Italien erst Ende der 60er-Jahre aus der Wiege gehoben wurde, und bis dahin entweder Genre-Zerstreuung geboten war, oder Anspruch. Weit gefehlt, es gab auch zur Hochzeit des Kostümfilms sehr ernsthafte und überaus gelungene Versuche, politischen Anspruch und die niederen Instinkte ansprechende Gaudi miteinander zu vereinen. Ein solches Ergebnis heißt IN KETTEN ZUM SCHAFOTT, und ist ein begnadeter Crossover aus Giallo, Politthriller und Kostümfilm …

Im Venedig des Jahres Sechzehnhunderundschnee stolpert der junge Bäckersbursche Pietro über den Leichnam des Patriziers Alvise. Wie es Unterprivilegierten schon immer so erging, wird er natürlich sofort für den Mörder gehalten und es wird ihm ein Prozess vor dem Rat der Zehn gemacht, was wohl das höchste Gremium der Stadt ist. Ein Motiv ist tatsächlich schnell gefunden, hat doch seine Verlobte Anella Geld von Alvise angenommen, und das nicht zu knapp. Wieso wurde Anella wohl bezahlt? Aha, also ein Mord aus Eifersucht, und hopp, ab aufs Schafott. Als Pietro den Mord nicht zugeben will wird er gefoltert, was natürlich zu einem ordnungsgemäßen und anerkannten Geständnis führt, und damit ist die Sache klar.
Das Ratsmitglied Lorenzo Barbo hat mit dieser Schuld so seine Probleme, glaubt er doch an die Unschuld Pietros. Der Ruf Alvises als Begatter sämtlicher Frauen Venedigs ist bekannt, mögliche Täter gäbe es also mehr als genug. Hinzu kommt, dass im Rat gerade die Diskussion tobt, ob nicht vielleicht ein Vertreter des Volkes in den Rat entsandt werden sollte. Ein Plebejer! Sakrileg!! Was ist denn mit den althergebrachten Rechten der Patrizier? Barbo stellt sich aber auf die Seite des Volkes, und ein Freispruch Pietros würde ihm viel Sympathie bei den einfachen Bürgern bringen. Und immerhin liebäugelt Barbo damit, der nächste Doge zu werden, wofür er diese Sympathie auch benötigen würde. Seine Geliebte, die Prinzessin Sofia, untersucht für ihn den Mordfall. Sie spricht mit den Zeugen der letzten Tage Alvises, recherchiert mögliche Nutznießer des Todes, und kommt der Wahrheit allmählich immer näher. Näher, als es dem wahren Mörder lieb sein könnte.

Wie in so vielen späteren Rollen ist Enrico Maria Salerno als Barbo auf der Seite des gemeinen Volkes, vertritt die damals noch gar nicht erfundene Demokratie und versucht gleichzeitig, durch diesen Prozess die Wahl zum nächsten Dogen bereits für sich entscheiden zu können. Wahrheit ist eine tolle Sache, und Barbo stellt sich rückhaltlos in den Dienst der Wahrheit, und sollte dabei auch noch das höchste politische Amt der Republik für ihn herausspringen können? Umso besser! Bloß: Was ist die Wahrheit …? „Opfere Dein Leben nicht für die Wahrheit! Wer weiß schon was Wahrheit ist? Was bedeutet schon das Wort? Nur wer lebt hat Recht!

Auf der anderen Seite sitzt der ehrenwerte Consigliere Garzone, der als Patrizier natürlich genau weiß, dass Pietro den Mord begangen haben MUSS. Im Kreuzverhör erniedrigt er Anella bis sie zugeben muss, von Alvise Geld erhalten zu haben, unter der Folter entlockt er Pietro ein Geständnis, und überhaupt stellt Garzone einfach das Musterbild eines patriotischen Edelmanns dar: Von Standesdünkel erfüllt und als bissiger Quasi-Staatsanwalt ist er bereit, jedes kleine Würstchen zu opfern um die Republik und seine eigenen Pfründe zu erhalten.

Prinzipiell entfaltet sich IN KETTEN ZUM SCHAFOTT also als Gerichtsdrama, mit all den Mechanismen die man aus Gerichtsdramen so kennt: Der Staatsanwalt schimpft, der Rechtsanwalt fordert Einspruch, und die Geschworenen (in diesem Fall die anderen Ratsmitglieder) sind wankelmütig. Aber der Ton wird im Lauf des Films zunehmend schärfer und politischer, richtet sich immer mehr auch an die im Jahr 1963 Regierenden, die das Volk Änderungen unterwerfen die diese vielleicht gar nicht wollen, gleichzeitig aber ein stärkeres Mitspracherecht des Volks ablehnen.
Die italienische Arbeiterbewegung, die bereits seit den 50er-Jahren sehr aktiv war, wird in den 60er-Jahren immer stärker, und auch unter den Studenten beginnt es immer mehr zu brodeln. Diese Strömungen werden von Duccio Tessari erfasst und geschickt in die Hauptpersonen eingearbeitet. Das venezianische Volk geht nicht auf die Straße und protestiert, das war im 17. Jahrhundert noch nicht üblich. Aber die Stimmung im Land, die verschiedenen, nebeneinander existierenden Meinungen, die kommen durchaus zur Sprache, wenn auch noch nicht so unverblümt wie am Ende des Jahrzehnts bei Regisseuren wie Damiano Damiani (dessen DER TERROR FÜHRT REGIE einige sehr interessante Parallelen zu IN KETTEN ZUM SCHAFOTT aufweist). Die kommenden Jahre werden ein Land, ja einen Kontinent vor dem Umbruch sehen, und dieser Umbruch wird beileibe nicht immer friedlich vonstatten gehen. Ein Mord, der zum Auslöser einer Debatte über politische Freiheiten wird, da fallen einem natürlich sofort Robert Kennedy oder Benno Ohnesorg ein, und die Frage taucht sehr bald auf, ob Pietro im Film nicht einfach nur als Sündenbock geopfert werden soll, um der politischen Räson Genüge zu tun. Staatsanwalt, nein Verzeihung: Consigliere Garone wird dies gegen Ende des Films auch unverblümt zur Sprache bringen, denn er sitzt klar auf der Seite derjenigen, die ihren Besitzstand wahren wollen.

Gleichzeitig haben wir aber auch eine Jagd auf einen unbekannten Mörder, und der Kriminalfall wird klassisch aufgerollt mit einer privaten Ermittlerin, einer zudem auch attraktiven Frau, die mögliche Zeugen und Interessenten aufspürt, und über deren Erzählungen, die in Form von Rückblenden eingebunden werden, versucht wird das Puzzle zusammenzusetzen. Ein früher Giallo also, denn das Grundschema des später so beliebten Krimis italienischer Provenienz ist kein anderes: Ein privater Ermittler muss im Rennen gegen die Zeit versuchen die Wahrheit herauszufinden. Hier ist die drohende Hinrichtung Pietros der Endpunkt der laufenden Ermittlung, denn allen Beteiligten ist klar, dass nach Pietros Tod jede noch so umwerfende Erkenntnis nutzlos sein wird. Also vielleicht doch ein Sündenbock …?

Untermalt von der tragischen und erstklassig passenden Musik Armando Travaiolis schauen wir also einem Wettlauf gegen den Tod zu, der genauso gut ein Anrennen gegen die herrschende Ungerechtigkeit ist. Wie so oft ist Enrico Maria Salerno auf der Seite der Guten und Gerechten zu finden, und sein Gegenspieler Gastone Moschin ist, trotz der deutschen Synchronstimme von Gerd Duwner, ein erstklassiger Finstermann. Das Duell dieser beiden Ausnahmeschauspieler wird viele Jahre später in Florestano Vancinis GEWALT – DIE FÜNFTE MACHT IM STAAT eine genauso packende Fortsetzung finden, nur unter modernen Vorzeichen. Ist dieser dann wirklich der effektivere Film, nur weil er in der Neuzeit spielt? IN KETTEN ZUM SCHAFOTT ist hochgradig spannend, hat einen Erzählfluss, der auch heute noch, fast 60 Jahre nach seiner Entstehung, zeitlos wirkt und in modernen Filmen nicht wesentlich anders aufgebaut wird, er hat erstklassige Darsteller, eine hochpolitische Aussage, und ein Ende das sich den üblichen Standards verweigert.

Die dahinterstehende Geschichte ist übrigens aus dem Jahr 1507 und ist eine tatsächlich existierende Legende aus Venedig, wobei nicht geklärt ist ob sich diese Geschichte tatsächlich zugetragen hat. In den Kriminalarchiven der Stadt sind jedenfalls keinerlei entsprechenden Vorkommnisse zu finden. Was aber nichts macht, die Geschichte an sich zieht auch so schon vortrefflich, und wurde entsprechend auch gleich mehrfach verfilmt: 1907 von Mario Caserini, und 1914 und 1923 dann gleich noch einmal von Luigi Maggi bzw. Mario Almirante. 1939 wurde die Geschichte von Duilio Coletti neu aufgelegt und 1952 dann von Giacinto Solito ebenfalls. Jede Generation Filmemacher durfte da mal dran, und auch wenn ich die anderen Versionen nicht kenne, die von Duccio Tessari ist auf jeden Fall hochdramatisch und ausgesprochen packend.
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Maulwurf
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Winchester – Das Haus der Verdammten (Michael Spierig & Peter Spierig, 2018) 5/10

Der drogen- und alkoholabhängige Psychiater Eric Price soll im Jahr 1906 den Geisteszustand der Winchestererbin untersuchen. Diese lebt im fortgeschrittenen Alter in einem großen Haus, außerhalb von San Francisco. Großes Haus bedeutet, dass das Anwesen bis zu sieben Stockwerke hat, mehrere hundert Zimmer, und permanent erweitert wird. Sarah Winchester ist der Überzeugung, dass, wer durch eine ihrer Waffen stirbt, in dieses Haus kommt, bis er seinen Frieden gefunden hat. Das betrifft die Täter genauso wie die Opfer, und jeder Geist bekommt ein Zimmer das so eingerichtet wird, wie der Geist es vorgibt. Was im Normalfall die Umgebung des Todes des jeweiligen Geistes wiederspiegelt.
Klar, dass Dr. Price denkt, dass die Alte am Rad dreht, aber auch er hat Erscheinungen die er sich nicht erklären kann, und die Nichte der alten Winchester und deren Sohn sind zunehmend Opfer von Übergriffen, für die es keine rationalen Erklärungen gibt. Irgendwann muss auch Dr. Price einsehen, dass da etwas ist. Und dieses etwas ist sehr sehr böse, und will die Seelen von Sarah Winchester und ihrer Familie.

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Und was sich auf dem (geduldigen) Papier so ansprechend liest, dass entpuppt sich in der Realität dann doch mal wieder nur als Gruselstunde der eher herkömmlichen Art. Wird ein Geist für eine Sekunde oder so gezeigt, dann nur als Jump Cut und mit entsprechend lautem Soundeffekt, und irgendwann weiß man wann man aufzupassen hat und wann man auf das Handy schauen kann, weil die sehr schön gemachten Bilder und die vor allem gegen Ende hin recht gotische Atmosphäre einfach nicht ausreichend genutzt werden. Das Setting ist so schön und liebevoll gemacht, mit viel Sinn fürs Detail eingerichtet und in ein relativ unüberschaubares Labyrinth von Räumen eingebettet, und die Brüder auf dem Regiestuhl schaffen es nicht, aus dieser plüschig-verdorbenen Stimmung mehr als das Minimum herauszuholen. Stattdessen regiert der 08/15-Standard-Horror der letzten soundsoviel Jahre, und wegen des angestrebten Kinoerfolges ist das ganze dann a) sehr unblutig und b) werden auch die narrativen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft, damit das ganze schön weichgewaschen und familientauglich bleibt. Die Drogensucht des Arztes ist von einer Sekunde auf die andere fortgewischt, und seine eigenen Dämonen sind jung und hübsch und haben nicht einmal ein Einschussloch, im Gegensatz zu anderen Dämonen. Wie wäre es gewesen, zu den verschiedenen Geistern Flashbacks aus der grausamen Geschichte Amerikas einzublenden? Gerade ein Gewehr wie die Winchester, das immerhin 1860 auf den Markt kam und damit den Bürgerkrieg, das Ende der Sklaverei, die großen Indianerkriege und die gesamte „klassische“ Eroberung des Westens begleitet hat, gerade so ein Gewehr hat eine Geschichte, die ohne weiteres für Schockmomente und damit einhergehend Nachdenklichkeit hätte sorgen können.

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Aber die Chance wird verpasst. Stattdessen regieren kurzlebige Gruselmomente, wackelnde Möbel und ein sehr unauffällig daherkommendes großes Erdbeben, von dem wir jetzt aber endlich wissen, dass wir es den Opfern der Firma Winchester zu verdanken haben, und nicht dem San Andreas-Graben. Übrig bleiben dann am Ende eine wie immer überzeugende Helen Mirren, ein ansprechender Jason Clarke sowie die Erkenntnis, dass Gewehre der Marke Winchester sogar Geister töten können! Und spätestens die Diskussion darüber, dass Waffen ja nicht per se Böse sind, sondern immer von der Absicht ihrer Besitzer gelenkt werden, spätestens diese Diskussion enthält eine Tendenz, die ich in meinem Fernseher nicht wirklich brauche. Da schaue ich mir lieber WETTERLEUCHTEN UM BARBARA an, da weiß ich wenigstens, wie ich das einzuordnen habe …
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The return of Dr. X (Vincent Sherman, 1939) 7/10

Der rasende Reporter Garrett verabredet sich mit dem früheren Filmstar Angela Merrova zum Interview, doch als er dort ankommt ist die Merrova tot. Ermordet, mit einem sauberen Stich unterhalb des Herzens. Er informiert seine Zeitung, dann die Polizei, und als er zurückkommt ins Hotelzimmer – Ist die Leiche fort. Als nächstes ruft ihn sein Herausgeber ins Büro, weil die Merrova eine Entschuldigung von ihm erwartet wegen der Meldung ihrer Ermordung! Garrett spricht mit seinem Freund Michael, einem Arzt, ob es möglich sei, solch eine Verletzung zu überleben. Als die Polizei Michael eine Blutprobe eines anderen Ermordeten zur Überprüfung zukommen lässt stellt dieser fest, dass das Blut nicht menschlich ist. Aber auch nicht tierisch. Gemüse und Mineralien wären noch übrig, wie Garrett süffisant bemerkt … Gemeinsam wendet man sich an die Koryphäe des menschlichen Blutes, Dr. Flegg, und wird zuerst einmal mit dessen Assistenten konfrontiert, Dr. Quesne, der seltsam tot ausschaut. Und der eine verblüffende Ähnlichkeit hat mit Dr. Xavier, der vor ein paar Jahren hingerichtet wurde …

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Ja, es passiert viel in diesen 62 Minuten Film, nicht alles ist immer zusammenhängend, und die Handlung und die Atemlosigkeit stoppen auch nicht ein einziges Mal. Pausenlos wird geredet, untersucht, werden wortreiche Duelle ausgefochten, und die Handlung hält und hält nicht an. Das ist auch gut so, denn sonst würde man schnell merken, was für ein ausgemachter Unfug dieser Film ist. So aber zieht RETURN OF DR. X an einem vorbei wie ein Karnevalszug im Zeitraffer, und macht auch genauso viel Vergnügen. Auch wenn der rasende Reporter eher ein Comic Relief auf sich selbst ist, mit seiner jovialen Art heutzutage eher unsympathisch rüberkommt (und sich auch mit zunehmender Laufzeit die Leinwandpräsenz mit dem blassen Dennis Morgan als Michael teilen muss), und wenn man es sich recht überlegt eigentlich nur ein Schauspieler wirklich in Erinnerung bleibt, so bleibt eben keine Zeit seine Zu- oder Abneigungen während der Sichtung zufriedenstellend zu verteilen. Nur diese eine Schauspieler, nämlich Humphrey Bogart als Dr. Quesne, der wirkt, und der bleibt auch im Gedächtnis haften. Seine Schminke, seine Frisur, aber vor allem seine Ausstrahlung zeigen deutlich, dass hier ein kommender Hauptdarsteller zu sehen ist, auch wenn Bogart selber das anders sah und die Rolle, die normalerweise Boris Karloff oder Bela Lugosi hätten bekommen sollen, als einen seiner absoluten Tiefpunkte bezeichnete. Zwei Jahre wird er sich noch in Nebenrollen durchbeißen müssen, bis in DIE SPUR DES FALKEN endlich seine Stunde kommt, und er anschließend in vielen großartigen Filmen die 40er-Jahre dominieren wird.

Aber im Jahr 1939 ist THE RETURN OF DR. X nichts anderes als ein Programmfüller, ein Schnellschuss im schnelllebigen Filmgeschäft, und unter dieser Fastfood-Prämisse funktioniert der Film auch heute noch gut. Anschauen, Spaß haben, weitersehen …

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Die nackte Carmen (Albert López, 1984) 4/10

Im Jahr 1983 drehte Carlos Saura CARMEN, die Nacherzählung der klassischen Geschichte von Prosper Mérimée in Form einer Probe für eine Tanzaufführung von, eben, Carmen. Der Regisseur verliebt sich in seine Hauptdarstellerin, die ihn fortwährend betrügt und ausnutzt, und geht am Ende an seiner eigenen Eifersucht zugrunde und ersticht Carmen. Die Verbindung von Flamenco, (getanzter) Erotik und Gewalt war äußerst eindringlich, und sorgte damals dafür, dass der junge Maulwurf sich unsterblich in die Musik und die dazugehörige Geschichte verliebte. Bis heute ein Film, der in meiner ewigen Bestenliste unter den ersten 20 rangiert.

Meine Liebe zum Carmen-Stoff geht nun allerdings nicht soweit, dass ich alle entsprechenden Verfilmungen kenne, wobei das sicher mal eine interessante Beschäftigung wäre. Die OFDB listet die erste Carmen im Jahre 1909 und die derzeit letzte 2011, es gibt Verfilmungen von Jean-Luc Godard (VORNAME CARMEN, 1984), Radley Metzger (CARMEN, BABY, 1967) und Francesco Rosi (CARMEN, 1984). Auch eine Art Italo-Western gab es (MIT DJANGO KAM DER TOD, 1967), und Charlie Chaplin hat das Thema genauso verarbeitet (A BURLESQUE ON CARMEN, 1915) wie Lotte Reiniger (CARMEN, 1933), um nur einige wenige zu nennen. Und es gibt DIE NACKTE CARMEN …

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Natürlich bietet sich die Kombination geradezu an. Carmen war immer eine Frau die zu ihrer Erotik stand, die ihren Körper in den Vordergrund rückte, und deren einziges Begehr es war, ihr Ego, vor allem aber die Bedürfnisse ihrer Lust zu befriedigen. Was lag da näher, als Carmen sich ausziehen zu lassen und die Männer mit nackten Brüsten und offensiver Sexualität in den Abgrund zu stürzen?

Man nehme also eine junge und zeigefreudige Frau die sich seit ein paar Jahren in Nebenrollen durchwuselt, füge die Musik von Georges Bizet hinzu, und, Carlos Saura hat es ein Jahr vorher erfolgreich vorgemacht, würze das ganze mit einem ausgiebigen Schuss Flamenco. Und das Ergebnis ist dann … Nicht so dolle …

Denn leider hat Albert López, um dessen einzige Regiearbeit es sich treffenderweise handelt, vergessen das Wichtigste dazu zu packen: Die Gefühle, die der Geschichte innewohnen. Denn es reicht halt nicht, einfach nur die bekannte Story herzunehmen, 1:1 abzufilmen und mit nacktem Busen zu garnieren, da gehört dann schon ein klein wenig mehr dazu. Gerade vor allem auch deswegen, weil Saura im Jahr zuvor etwas Neues und Anderes aus der Story gemacht hatte, weil er in seinem Tanzfilm CARMEN die Trennung zwischen Realität und Tanztheater dramatisch und packend aufheben konnte. Zugegeben schwer zu übertreffen, aber López versucht ja nicht einmal an dieses große Vorbild heranzukommen.

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Stattdessen gefällt er sich darin, sein kaum vorhandenes Budget abzufilmen (die Festung die er immer und immer wieder zeigt ist heruntergekommen und brüchig, und beherbergt sichtlich nicht einmal ein paar Wachsoldaten, sondern nur Staub und Dreck), Pamela Prati sich ausziehen zu lassen, und die Musik von Bizet zu den unpassendsten Momenten kurz einzublenden. Wenn die Schmuggler bei (amerikanischer) Nacht ihr Boot entladen, dann passt die an den Einmarsch der Toreros erinnernde(!) Musik einfach nicht, Punkt! Im Gegenzug fehlt besagter Einmarsch völlig, der gegen Ende plötzlich auftauchende Torero ist einfach da um die Handlung zu einem Ende zu bringen, nicht weil es die Geschichte so erfordert. Plopp, Torero aus der Kiste, einfach so. Entsprechend wirkt die dazu gezeigte Eifersucht Josés aufgesetzt und künstlich, das ist nichts, was aus dem Bauch kommt. Die Gefühle, welche die Handlung in Gang bringen kann, existieren einfach nicht.

Flamenco kann eine unglaublich erotisierende Musik sein. Das musikalische Gebalze der spanischen Machismen kann sich, wenn es in der richtigen Atmosphäre dargebracht wird, unweigerlich auf die Libido auswirken. Was würde also näher liegen, als gerade solche Szenen, die durchsetzt sind von Eifersucht, Begehren und heftigster Anmache, solche Szenen mit Flamenco zu hinterlegen, um die entsprechende Stimmung zu kreieren? López kommt zwar mit der Musik durchaus immer wieder zurande, lässt dann aber zu, dass der stümperhafte Schnitt, der zum Beispiel zwischen Carmen auf der Bühne und Raufbolden im Publikum hin- und herlaviert, jegliche Stimmung zerstört. Für die miese deutsche Synchro kann der arme Mann nichts, aber das ist dann der letzte Tritt auf den Film, wenn der schon längst am Boden liegt.

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López war offensichtlich der Meinung, dass zwei nackte Brüste völlig reichen, um den (männlichen) Zuschauer um den Verstand zu bringen und den Film zu mögen. Pamela Prati hat zwar nun zwei ausgesprochen wohlgeformte Eigenschaften, aber sonst ist da leider nicht allzu viel. Weder hat sie die Ausstrahlung noch das Talent einer, sagen wir, Tina Aumont, die in MIT DJANGO KAM DER TOD Franco Nero in den Untergang küsst, noch einer Laura Sol, die in Sauras CARMEN mit ihrem sinnlichen Babyface alle und jeden um den Verstand bringt. Die Nacktheit beschränkt sich im Wesentlichen auf ihren Oberkörper, und ihre eher maskulin gefärbte Schönheit, die in dieser Zeit, in der Damen wie Florence Guérin oder Maruschka Detmers in waren, sicherlich dem Zeitgeist geschuldet war, tut ein Übriges um (heute) fast ein wenig ernüchternd zu wirken. Dabei sind ausgerechnet die zwei Liebesszenen gelungen. Carmen und José vergnügen sich in einer Höhle am Strand, das ist sinnlich und wunderschön anzuschauen, und da passt dann auch endlich mal die Musik. Die Nacktheit ist nicht selbstzweckhaft wie beim Catfight zu Beginn, sondern ist sinnvoll eingesetzt und stört darum auch nicht. Es sind Emotionen zu spüren. Sogar die kurzen Ausflüge in den Softcore sind sehr ansprechend, wenngleich auch sehr fantasielos und kreuzanständig umgesetzt …
Besagter Catfight ist auch so ein Beispiel, wie ein Regisseur eine fast von selbst laufende Szene in den Sand setzen kann. Carlos Saura lässt die Szenerie mit Worten erzählen, die Tänzerinnen schauen alle finster, man spürt den Schweiß und die Aggressivität geradezu, und Tanz und Kampf wirken wie ein infernalisches Gewitter zwischen hasserfüllten Dämoninnen. Bei López rangeln zwei schöne Frauen in der Halbtotalen im Sand, die Oberteile sind auch sehr schnell zerfetzt, aber weder spürt man die Wut, noch die unterschwellige Erotik. Die von Carmen zur Schau gestellte Wildheit verpufft im Nichts, und dies ist genau das, was beim Zuschauer ankommt – Nichts. Der in dieser Szene kurz angespielte L’amour est un oiseau rebelle, einer DER Klassiker der Oper schlechthin und Gänsehautmusik par excellence, wirkt in diesem Moment so verschenkt wie die baumelnden Brüste der Damen, die in einigen Szenen durch die Gegend hängen weil der Film ja schließlich Nue heißt, nicht weil es in diesen Augenblicken Sinn ergeben würde. Es ist einfach nichts dahinter, und das ist schade, denn wie schon gesagt, ist die Geschichte um Sinnlichkeit, Leidenschaft, Begehren und Tod eigentlich ein Selbstläufer. Ein Regisseur müsste nur dafür sorgen, dass ebendiese Gefühle auch beim Zuschauer ankommen.

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Interessanterweise sind die Kämpfe gut inszeniert! Das Gefecht zwischen José und dem Offizier auf der Klippe ist stark und zumindest einigermaßen dynamisch, der Messerkampf zwischen José und Garcia könnte sogar in jedem Actionfilm bestehen. Beim Eröffnungskampf in der Bodega tropft der Machismo förmlich aus dem Zelluloid, und auch hier hätte zusätzliche Flamencomusik die Drastik und die Brutalität des Kampfes noch steigern können, wäre noch mehr herauszuholen gewesen. Wenn José am Ende Carmen in die Stierkampfarena treibt, dann weht um sie spürbar der Hauch des Todes. Ja es scheint sogar für einen Moment, als ob die beiden einen tödlichen Flamenco beschreiten, als ob sie den Höhepunkt der eigenen Gefühle tanzen. Aber nur für einen Moment, dann übernehmen schlechte Schauspieler und einfältige Regie wieder das Zepter, und ein Theaterstück läuft weiter, dessen Bestandteile leider nicht zum vollmundigen Versprechen des Plakates passen. Weder ist die Musik Bizets in größerem Umfang enthalten, noch wird gesteigerte Nacktheit gezeigt. Und auch hier werden Gefühle, genauso wie im Rest des Films, kaum transportiert.

Irgendwie scheint DIE NACKTE CARMEN in der Wahl der Drehorte und seiner Biederkeit der Versuch zu sein, Großvaters Kino wiederzubeleben, was auch zu den starken Anflügen von Italo-Western gegen Ende passen würde. Gleichzeitig haben am anderen Ende von Spanien junge und wilde Filmemacher wie Pedro Almodóvar gezeigt, wie modernes Kino wirklich geht. Schade, wenn Almodóvar in dieser Phase mit dieser Idee an den gleichen Stoff herangegangen wäre, das Ergebnis wäre sicher ein wilder und aufregender Rausch geworden …

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Beitrag von Maulwurf »

Escape in the fog (Budd Boetticher, 1945) 6/10

Flott erzählte und hübsch gemachte Agentenstory: Der US-Geheimagent Malcolm soll mit wichtigen Papieren nach Hong Kong, wird aber noch in San Francisco von deutschen Spionen überfallen und verliert die Papiere. Malcolm will die Papiere unbedingt wiederhaben, die Deutschen natürlich ebenfalls, und mittendrin steckt die junge Eileen, die sich justament in Malcolm verliebt hat.
Kein weltbewegender Film, aber spannend und ansprechend fotografiert, ist die Welt hier noch in Ordnung: Die Guten sind gut, die Bösen böse, die Frauen hübsch, und die Männer können hart zuschlagen. Passt. Und mehr gibt es dazu einfach nicht zu sagen …

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Mein Nachbar Totoro (Hayao Miyazaki, 1988) 5/10

Die Mädchen Satsuki und Mei ziehen mit ihrem Vater in ein altes und abgelegenes Haus auf dem Land. In diesem Haus leben schwarze Rußbolde, die, wenn die Fenster geöffnet werden, flüchten und sich ein neues Heim suchen müssen. Und in der Nähe des Hauses findet Mei ein paar sehr kleine und einen großen Totoro, mit denen sich die Kinder anfreunden. Als die Mutter immer kränker wird, und das Krankenhaus nicht wie vorgesehen verlassen kann, bekommt die kleine Mei Angst und will zum Krankenhaus laufen – Eine viel zu weite Strecke für das Kind. Nur Totoro und die Buskatze können noch helfen, Mei wiederzufinden …

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Vorab möchte mich ich entschuldigen. Entschuldigen dafür, dass MEIN NACHBAR TOTORO bei mir nicht die Höchstnote bekommt, dass er mich bei weitem nicht so gepackt und berührt hat wie CHIHIROS REISE INS ZAUBERLAND, den bislang einzigen anderen Film den ich von den Ghibli-Studios kenne, und dass ich vor allem in den letzten 30 Minuten eigentlich ständig nur noch auf die Uhr geschaut habe, wann dieser Film denn nun endlich vorbei ist.

Wo ist der Zauber, der CHIHIRO so unwiderstehlich gemacht hat? Wo sind die Magie der Bilder und der Geschichte geblieben? Habe ich zu viel erwartet? Ist es am Ende vielleicht so, dass Hayao Miyazaki 1988 noch einfachere Geschichten mit einfacheren Zeichnungen kreierte, und es bis zu der verzauberten Welt von CHIHIRO noch 13 Jahre und 5 weitere Filme Weiterentwicklung benötigte? Ich hatte mich auf Waldgeister gefreut, auf verborgene Welten und magische Abenteuer. Und bekam stattdessen die Geschichte zweier kleiner Mädchen (von denen mich das eine ziemlich genervt hat), denen die Krankheit ihrer Mutter ziemlich nahe geht, und von denen die Ältere die erste vorsichtige Liebe entdeckt. Ein Coming of Age-Film aus dem Studio Ghibli? Auch CHIHIRO ist ein Coming of- Age-Film, aber er kann das mit seinem magischen Setting wesentlich besser überdecken, und so auch ein erwachseneres Publikum ansprechen. TOTORO hingegen ist in erster Linie ein Drama um die Seelennöte zweier Kinder, und in Kombination mit der Naturdarstellung, der überschäumenden Lebensfreude und den gradlinigen Gefühlen sind natürlich Kinder, aber auch kindgebliebene Erwachsene diejenigen, an die sich der Film richtet. Ich befürchte, da bin ich einfach das falsche Zielpublikum!

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Das ist ja auch schon mal ein Eingeständnis, aber deswegen hat es für mein Gefühl trotzdem viel zu viel Kind und viel zu wenig Totoro. Die Szene an der Bushaltestelle, wenn der riesige Totoro einen winzigen Schirm von Satsuki bekommt, und voller Euphorie feststellt, wie schön das Geräusch von fallenden Regentropfen auf einem Schirm ist, diese Szene ist pure Magie, und zieht den Zuschauer tief in eine verwunschene Welt. Die Buskatze bezaubert genauso und lässt träumen und den Geist auf weite und wunderbare Reisen gehen. Aber warum so wenig davon? Warum müssen Satsuki und Mei gefühlt minutenlang durch die wunderschön gezeichnete japanische Feldlandschaft rennen und rennen und rennen, ohne dass etwas passiert? Die wunderbaren Totoros kommen viel zu kurz, und dürfen ihren Charme und ihren Zauber kaum einmal richtig aufzeigen. Das gleiche gilt für die schwarzen Rußbolde, die den Zuschauer gleich in den ersten Szenen in ihren Bann ziehen, die sich dann aber leider viel zu schnell aus der Geschichte verabschieden.

Wahrscheinlich ist es einfach eine Mischung aus all den verschiedenen Faktoren, und dann bin ich unter Umständen auch noch an einem falschen Tag erwischt worden, wo ein Krimi oder ein Thriller besser gepasst hätten. Von daher, lieber Leser, diese Bewertung bitte nicht so ernst nehmen, sondern auf eine Zweitsichtung und den dazugehörigen Text warten. Wenn ich von Miyazaki noch mehr Filme gesehen, und damit auch mehr Vergleichsmöglichkeiten habe. Oder den Film selber anschauen und staunen. Derweil schäme ich mich auch ob meines Urteils, aber es war wirklich nicht meines …

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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Self/less – Der Fremde in mir (Tarsem Singh, 2015) 7/10

Ich muss ja zugeben, dass ich ausgesprochen skeptisch war, bot der Film doch im Vorfeld alle Parameter, denen ich Qualität per se abspreche: Entstanden in den 10-er Jahren dieses Jahrhunderts, moderner Thriller mit Sci-Fi-Elementen, und ein Hauptdarsteller den ich noch nie gesehen habe (OK, SMOKIN‘ ACES war mal vor weit über 10 Jahren ein Durchlaufposten). Ben Kingsley? Ist gerade mal runde 15 Minuten zu sehen, läuft also nicht wirklich als Qualitätsmerkmal. Auf der Aktivseite dann Regisseur Tarsem Singh, dessen THE FALL mich vor ebenfalls mehr als 10 Jahren sehr begeistert hat, aber sonst? Die Geschichte klingt zumindest attraktiv: Der Immobilien-Tycoon Damien Hale wird vom Krebs zunehmend aufgefressen, und um sein Genie am Leben zu erhalten wendet er sich an eine geheime Organisation, die sein Gehirn in einen schönen, jungen und gesunden Körper transferiert. Also nicht FACE/OFF, sondern eher Brain/Off … Der Vorgang klappt sehr gut, und Damien lernt neu zu leben. Neue Freunde, neuer Wohnort, unbegrenzter Reichtum, und jede Nacht eine andere Frau, die er mit seinem Luxuskörper beglückt. Aber wehe er nimmt seine Medikamente nicht, dann wird er von Erinnerungen überwältigt die nicht die seinen sind. Er wird neugierig und recherchiert, dass sein Körper einem Ex-Soldaten namens Marc gehört hat. Er forscht weiter, und lernt die frühere Frau von Marc und dessen kleine Tochter kennen. Damien erfährt, dass Marc sich hat töten lassen, um seiner Tochter eine teure Operation zu ermöglichen. Und er muss lernen, dass dieses Geschäftsprinzip, sich nämlich einen gesunden und jungen Körper nicht aus dem Abfalleimer des Krankenhauses zu holen, sondern direkt von der Straße, dass dieses Geschäftsprinzip von seinen „Ärzten“ mit Zähnen und Klauen verteidigt wird, damit das bloß nicht publik wird.
Nun ja, Damien hat das funktionierende Gehirn eines milliardenschweren Geschäftsmannes, und die Reflexe und das Kampfvermögen eines Elitesoldaten. So quasi eine Mischung aus Bill Gates und Dolph Lundgren, und diese Fähigkeiten muss er einsetzen, um am Leben zu bleiben.

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Was soll ich sagen? Selten so überrascht worden! Ryan Reynolds gibt eine gute Vorstellung, auch wenn er erwartungsgemäß ein wenig blass wirkt, aber die Story, mein lieber Herr Gesangsverein, die Story drückt gewaltig nach vorne und macht Druck ohne Ende. Ein paar Verschnaufpausen hat es freilich um Hintergründe zu klären, was bei so einem Film auch nie ganz schlecht ist, damit die eigenen Gedanken der Geschichte mal wieder hinterherhecheln können. Aber im Wesentlichen wird die nicht immer einfache und oft verschachtelte Geschichte gut und klar erzählt und genauso gut und klar bebildert. Die Bilder, völlig schnörkellos und ohne unnötiges Brimborium, beeindrucken sehr, ohne aber von der Story abzulenken. Der Zuschauer kann sich voll und ganz auf den komplizierten Ablauf des Mannes mit den zwei Gehirnen konzentrieren (ach nee, das war ja ein ganz anderer) und die furiosen und knackigen Actionszenen genießen. Die Zweikämpfe sind zeitgemäß hart, schnell und trocken, aber gerade dadurch machen sie ordentlich Stimmung, was dann auf der anderen Seite von der Familienstory wieder sanft aufgefangen wird.

SELF/LESS ist allen Ernstes ein hervorragend gemachter, moderner Thriller mit leichten SF-Elementen, und funktioniert auf allen Ebenen ganz erstklassig. Und das Beste daran ist, dass das erwähnte Brain/Off seitens des Zuschauers nicht stattfinden darf, damit dieser den Überblick über die Geschichte nicht verliert. Ein Film aus dem neuen Jahrtausend, der seinen Zuschauern nicht alles fünfmal erklärt, sondern darauf vertraut, dass auch mal ein wenig mitgedacht wird. Eine schöne Überraschung!

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Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

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Die toten Augen des Dr. Dracula (Mario Bava, 1966) 7/10

Die Quintessenz einer unbedingt künstlichen Gothic-Welt? Die ultimative Erfahrung eines Kunsteisnebels, mitten in einer 24-stündigen Nacht auf einem Friedhof? Die Erhöhung der kleinräumigen und boshaften Welt der klassischen Monsterfilme, in der nur der Tod das Leben noch lebenswert macht?

Wer nicht genau weiß, was das Adjektiv „bavaesk“ bedeuten mag, hier bekommt er es um die Ohren gehauen bis es in seinen Alpträumen auftaucht. Ein zutiefst artifizieller und gotischer Kosmos, voller Spinnweben und merkwürdiger Ausleuchtungen, in der Tod und Verderben, Fäulnis und Fluch hinter jeder Ecke lauern, jederzeit bereit, sich auf die arglosen Helden (und deren wunderschöne Liebschaften) zu stürzen. Dieses Mal ist es ein kleines Dorf im Nirgendwo, das seinen Besucher, den Gerichtsmediziner Esmai, bereits mit einer Gruppe Sargträger begrüßt, die es sehr eilig haben ihre Fracht unter die Erde zu bekommen. Dabei hatte der Kommissar es doch verboten die Leiche zu begraben, zuerst soll Esmai die Tote obduzieren. Eine haushohe Mauer von Aberglauben, Angst und Schrecken schlägt dem wissenschaftlich orientierten Esmai entgegen – Zum Beispiel findet er im Herzen der Leiche eine Münze, die ihr dorthin gelegt wurde um eine Wiederkehr zu verhindern.
Der konsternierte Mediziner findet heraus, dass die adelige Familie Graps, deren Villa am Ortsrand steht, ein gefürchtetes Geheimnis bewahrt, und dass die Tochter der Familie, die vor einigen Jahren durch einen Unfall ums Leben gekommen ist, jetzt Rache nimmt an allen, die ihr damals die Hilfe verweigert haben. Und das ist nunmal das komplette Dorf … Esmai ist überzeugt, dass sich alles mit wissenschaftlichen Methoden klären lässt, aber die soeben von der Universität ins das Dorf zurückgekehrte Monica hat da eine ganz andere Meinung, und auch Esmai muss nach und nach einsehen, dass es sich bei den Morden und den schrecklichen Erscheinungen tatsächlich um einen ausgesprochen rachsüchtigen Geist handeln könnte.

Das mag vielleicht so klingen, als ob ich mich über den Film lustig mache, aber dem ist nicht so! OPERAZIONE PAURA ist ein sehr ernster Gruselfilm altmodischer Provenienz, der mit seinem urgotischen Setting ein Gefühl der Verkommenheit auslöst wie ich es selten erlebt habe. Außer Esmai und vielleicht noch dem Kommissar dreht hier jede Figur am Rad, herrschen Wahnsinn und Aberglaube genauso stark wie in unserer grauen Welt heutzutage der Glaube an die Allmacht des Geldes. Ein Kosmos, der am Ende des Dorfes aufhört, und in dem alles, was innerhalb dieser eng gesteckten Grenzen passiert, mit bösem Argwohn und scheuer Angst beobachtet wird. Jemand fällt tot um? Das muss ein Fluch sein! Eine Hand am Fenster? Ein Geist, ein böser Geist, wir werden alle sterben!! Mit einfachsten Mitteln erzeugt Mario Bava eine Welt, in der niemand jemals wirklich leben möchte – Alle Häuser sind halbzerstört, genauso wie die Seelen der Menschen, und die Furcht umhüllt alles mit einem Nebel so dick wie die schwarze Nacht um die eigene Seele.

Das Problem dabei ist, dass Bava vielleicht ein klein wenig zu sehr auf die Tube drückt. Die Farbgebung ist eindrucksvoll, und gibt dem Setting gerade diese unglaubliche Künstlichkeit, aber ich persönlich(!) finde, dass es eben ein klein wenig zu artifiziell wird. Der dünne Faden, der eine klassisch-gotische Gruselumgebung eines Ambrose Bierce oder eines Arthur Machen mit der Wirklichkeit verbindet, ist hier zerschnitten worden und flattert im unheilvoll heulenden Wind, und fast vermisse ich ein klein wenig die trist-düstere Schwarzweißoptik von DIE STUNDE, WENN DRACULA KOMMT, die ihrer märchenhaften Romantik tatsächlich realistischer wirkt als OPERAZIONE PAURA. Aber dieses Fehlen stört wirklich nur klein wenig, denn die Geschichte selbst schauert vom Feinsten und steht altenglischer Schauerromantik oder neuenglischen Hammer-Filmen (den frühen) in Nichts nach. DIE TOTEN AUGEN DES DR. DRACULA ist altmodischer Grusel wie man ihn sich gerne vorstellt, gleich ob die Dorfhexe mit einem Exorzismus (und die Eltern mit einem Bußgürtel) den Dämon austreiben will, ob ein entferntes Kinderlachen oder eine sich bewegende Schaukel Gänsehaut erzeugen, oder ob der Held versucht seine Holde zu retten, und dabei immer und immer wieder durch das gleiche Zimmer rennt. Bis er den Flüchtenden einholt, ihn umdreht – Und sich selbst gegenüber steht ... Dazu passt auch die immerwährende Nacht – Zwar beginnt der Film bei Tag, aber es dämmert schnell und anhaltend. Erst gegen Ende des Films überlegt sich die Sonne, ob sie kurz noch einmal aufgehen soll, wirft einen Blick auf das Drama und entscheidet sich ganz schnell wieder zu verschwinden. Doch zu solchen Vorgängen passt dann diese künstliche Welt auch irgendwie wieder dazu …
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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

Beitrag von Maulwurf »

Giochi erotici di una famiglia per bene (Francesco Degli Espinosa, 1975) 5/10

Was macht der Vorsitzende des Ausschusses zur Abschaffung der Scheidung, wenn er seine Frau beim Seitensprung erwischt, und beide bei der Gelegenheit feststellen, dass sie eh nicht mehr miteinander können? Scheidung geht ja nicht, höchstens dass die Trennung einseitig und mit letalem Ende betrieben wird. Riccardo ermordet also seine Frau Elisa und lässt die Leiche verschwinden. Anschließend bändelt er mit Barbara, der Nichte seiner Frau, an, und versucht gleichzeitig die Hure Eva längerfristig an sich zu binden. Was vor allem Eva mächtig stört ist, dass Riccardo Halluzination hat. Dass er ständig meint seine Frau zu sehen, obwohl diese doch, so sagt Riccardo es zumindest, fort ist. Und nicht mehr wiederkommt. Dann sind da auch noch ständig diese Telefonanrufe, die von Elisa kommen könnten. Und ein vermummter Mann mit Vollbart beobachtet Riccardo unaufhörlich. Dieser Fremde war ja auch schon da, als Riccardo mit der Leiche …?

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Auf dem Papier klingt das soweit ganz passabel. Ein Giallo ohne größere Überraschungen, oder? So sollte man meinen, aber was die Inhaltsangabe verschweigt ist, dass Geschichte und Drehbuch von Renato Polselli sind! Was in der Wirklichkeit bedeutet, dass zwischen den Halluzinationen, den weit aufgerissenen Augen von Donald O’Brien und dem Konsum jeder Menge Whisky philosophische Dialoge geschwungen werden, die mich in ihrer Komplexität und ihrer gleichzeitigen Nichtigkeit schwer an Polsellis LUST erinnerten. Ein Beispiel: Riccardo hat seine Frau vergiftet und fährt sie (quicklebendig!) nun irgendwo in die Walachei. Das Auto steht auf einem Stückchen Ödland, man redet. Außen wird es Tag, vom Auto nach außen gesehen ist es allerdings immer noch stockfinstere Nacht. „Du fragst mich, warum ich das getan habe? Ich sollte sagen dass es mir leid tut … Tut es mir auch, aber nicht das was getan habe, sondern das was ich nicht tun konnte. Dich zu verlassen, Dein Leben und Deine Stellung zu ruinieren … Ich hasste Dich nicht genug, und konnte mich aus dieser unerträglichen Sklaverei nicht befreien. Diese Idee beherrschte mich und trieb mich in den Wahnsinn. Ich musste mir beweisen, dass ich zumindest Herrin meines eigenen Körpers war. Ein wunderschöner Körper.“ Sie lächelt lasziv, während er immer tiefer ins Grübeln gerät. Nein, an dieser Stelle nicht mehr, denn da kommt Lust in seine Augen! „Lass uns Liebe machen. Bitte.“ „Willst Du wirklich?“ „Ja.“ Er beginnt sie zu streicheln und auszuziehen. Sie schaut ihn schwärmerisch an und genießt sichtlich seine Berührung. Er küsst sie, berührt ihre Brüste und beißt sie vampirartig in den Hals. Sie stößt ihn fort. Er grinst, so wie Donald O’Brien nun mal grinst. Und JETZT fängt sie dann auch an zu sterben …

Ja da höre ich den Polselli heraus, und wer etwas für seine Filme übrig hat darf auch hier nicht vorübergehen. Zwar hat es dieses Mal praktisch keine nackten Frauen (Malisa Longo darf sich einmal extrem aufreizend präsentieren, aber Erika Blanc hat seltsamerweise keine einzige Nacktszene! Die Liebesszene mit O’Brien schaut mir schwer nach einem Körperdouble aus.), und im Keller ist auch niemand angekettet. Dafür wird aber reichlich gerne Pronto! in das Telefon geschrien, und der Schnitt, und die damit einhergehende Fragmentierung der wenigen Handlung, ist eindeutig von Polselli inspiriert.

Warum ich da so drauf herumreite? Weil der Film sonst nicht mehr viel zu bieten hat! Die Krimihandlung, beziehungsweise die Auflösung des Rätsels, ist praktisch von Anfang an zu erraten, und der Schluss ist geradezu denkwürdig peinlich, um nicht zu sagen idiotisch. Keiner der Darsteller, O‘Briens Gesichtsmuskulatur vielleicht mal ausgenommen, reißt sich ein Bein aus, sondern spult sein Standardprogramm ab, die Musik mäandert zwischen einer Verballhornung von Beethovens Fünfter und ein paar anderen merkwürdigen Notenabfolgen hin und her, und irgendwie wirkt der Film genauso farblos wie die Bilder der gesehenen Kopie.

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Trotzdem, da ist was, und das liegt an den Schauspielern und, das hatten wir schon einmal, am Schnitt. Donald O’Brien mag kein genialer Schauspieler gewesen sein, aber eine Charakterfresse, die hatte er wahrlich. Und die wirkt in GIOCHI so charakterfressig wie selten, vor allem in den Momenten wo er einfach nur ernst schaut. Mit ein wenig mehr Talent gesegnet hätte der Mann durchaus ein Star werden können. Auch Erika Blancs Ausstrahlung kommt gut zur Geltung, gerade weil sie sich nicht auszieht. Was für ein Unterschied zum im gleichen Jahr entstandenen TODESKREIS LIBELLE, wo sie im Lauf des Films immer nackter und immer erotischer wird, gleichzeitig schauspielerisch aber blass bleibt, auch wenn die Chemie zu Partner Paul Naschy offensichtlich stimmt. In GIOCHI bleibt mindestens das Handtuch immer über den Brüsten, dafür lässt Frau Blanc hier ihrem Charme freies Spiel und kann so erstklassig wirken. Was für eine ausgesprochen sympathische Frau, auch ganz ohne Nuditäten. Vielleicht gerade deswegen?

Tja, und dann ist da immer noch dieser Schnitt. Eindrucksvoll etwa der Moment, wenn Eva und Riccardo kuscheln, Eva mit ihrem Kopf zwischen Riccardos Beine rutscht, und Kamera und Schnitt im Zusammenspiel aus einer behaarten Brust, O’Briens aufgerissenen Augen und einem hin- und hergezoomten Plattenspieler eine apokalyptische Vision eines Blowjobs erzeugen. Oder zumindest etwas, was Seekrankheit ziemlich nahe kommt. Und die Kuschelmusik passt auch nicht ganz zu dem Bild von Frank Sinatra auf dem Label der Platte. Ach ja, die fast nackte Elisa wird auch noch dazwischengeschnitten und klimpert lasziv mit den Wimpern …

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Genrefilme aus Italien sind manchmal wie früher Punk: Egal ob Du es kannst oder nicht, nimm einfach eine Kamera in die Hand und leg los. GIOCHI ist das Ergebnis genau dieser Philosophie – Mach einfach, es wird schon etwas dabei herauskommen. Und in 50 Jahren wird es genügend Deppen geben, die denken dass das was Großartiges sei … Ein merkwürdiges Stückchen Zelluloid, in dem weder eine anständige Familie noch größere erotische Spielereien vorkommen, und welches für Fans von Erika Blanc und Malisa Longo sicher sehenswert ist, ansonsten aber nur Hardcore-Fans des Genres empfohlen werden kann. Und Polselli-Jüngern.
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Maulwurf
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Beitrag von Maulwurf »

Sommersprossen (Helmut Förnbacher, 1968) 5/10

Die beiden Verbrecher Waldemar Velte und Kurt Sandweg können im Deutschland des Jahres 1934 aus dem Gefängnis ausbrechen. Man reist durch das Deutsche Reich, klaut Autos, überfällt Banken für den Lebensunterhalt, und flüchtet und gangstert sich so durch die Welt. Irgendwann schließt sich Brigitte an, weil sie den Kurt so schnieke findet, und in Basel, wohin man vor der schießfreudigen deutschen Polizei geflüchtet ist, stößt auch Monika dazu, die dann mit dem Waldemar was anfängt. Brigitte seilt sich wieder ab, ein anderer Mann ist reicher, und Waldemar und Kurt lassen Monika sitzen und wollen nach Brasilien. Nee, doch nicht, alles wieder zurück und nach Basel. Aber Monika hat mittlerweile Kontakt mit der Polizei, und wenn sie die beiden Freunde verraten würde, dann hätte sie eine Möglichkeit mit heiler Haut aus der Sache heraus zu kommen. Wird sie? Oder wird sie nicht?

SOMMERSPROSSEN hat mich ziemlich ratlos zurückgelassen. Eine Gangsterballade, die so auffällig auf den Spuren des Vorjahreshits BONNIE & CLYDE wandelt, sogar in einer ähnlichen Zeit angesiedelt ist, und den Blockbuster des Folgejahres, ZWEI BANDITEN, in der Geschichte mit der Flucht nach Südamerika sogar schon ein kleines Stückchen vorwegnimmt. Das Spannende dabei: Die beiden Bankräuber haben wirklich existiert, und waren in den Jahren 1933 und 1934 eine Zeitlang wohl tatsächlich gefürchtete Verbrecher. Helmut Förnbacher packt diese Geschichte nun in das Format eines „neuen deutschen Films“, bastelt außen herum jede Menge grafischer und technischer Spielereien, besetzt mit sich selbst und William Berger in den Hauptrollen sehr gut, mit der Italienerin Giorgia Moll und der damals angesagten Helga Anders genauso gut, gibt Altstars wie Willy Birgel oder Ruedi Walter eine große Bühne – Und hinterlässt einen ratlosen Maulwurf.

Was bei Arthur Penn actionlastig mit einem komödiantischen Touch erzählt wird, ist in der deutschen Version nicht ganz so actionlastig (war ja auch nicht der Stil der Zeit), hat aber immer noch diesen heiteren Unterton. „Zehn Jahre lang suchte der Baseler Schauspieler Helmut Förnbacher, 33, nach Produzenten für ein Thema, das ihn schon seit der Schulzeit beschäftigt hatte – vergeblich. Erst jetzt erhielt er die Chance, den Fall der deutschen Nazi-Flüchtlinge und Raubmörder Velte und Sandweg auf die Leinwand zu bringen – als Imitation: ‚Diesmal hat es genügt zu sagen, ich drehe einen Film im Stil von Bonnie und Clyde, und die Sache war gelaufen.‘“, so schreibt der Spiegel 1968 über den Film. Nur eine deutsche Kopie eines amerikanischen Erfolgs? Oder doch etwas Eigenständiges aus einer Zeit, in der Experimentierfähigkeit in der Kreativität groß geschrieben wurde?

Es ist schwierig, SOMMERSPROSSEN aus heutiger Sicht zu beurteilen. Auf der einen Seite ist der Film reichlich verspielt in seiner Machart, gleichzeitig aber auch sehr spröde was die Erzählung betrifft. Was da eigentlich passiert, wer die beiden sind, wo sie herkommen und wo sie hinwollen, das wird weitgehend ausgeblendet. Die 68er-Generation will sich in Bewegung setzen, und das Ziel liegt im Dunkel, warum sollte es den Hauptfiguren des Films denn anders gehen? Aufgebrochen wird die Ballade dann mit einigen politischen Untertönen, ebenfalls wieder im Stil der Zeit, die den Unterschied zwischen dem Einzelnen und der Masse versuchen zu erklären –Die Aussage „Schließ Dich der Bewegung an“ leuchtet gewissermaßen in Großbuchstaben von der Leinwand, mutet aus heutiger Sicht aber etwas eigenartig an. Trotzdem kann man SOMMERSPROSSEN wahrscheinlich wirklich nur mit der zeitgenössischen Brille wirklich genießen, zu prätentiös wirkt der Ablauf der Handlung, und zu künstlich das Geschehen, wenngleich die meisten Szenen wohl recht nah an der historischen Realität angesiedelt sind.

Wer mit den ausgehenden 60ern etwas anfangen kann, und bereit ist, sich in die kulturelle und soziologische Situation jener Zeit zu versetzen, dem kann SOMMERSPROSSEN eine ungeheure Befriedigung verpassen. Das wie erwähnt Prätentiöse, das fast jede Szene des Films durchzieht, ist genauso symptomatisch für die Kultur dieser Zeit, wie es die Aufbruchsstimmung und die Unruhe für das allgemeine Befinden waren. Nicht jede Szene hat unbedingt einen Sinn, auch wenn narrativ alles zusammenpasst, aber der Zuschauer wird dazu angehalten, die Zusammenhänge zwischen den Momenten selber herzustellen. Ein Unding im Jahre 2021, damals aber eine Selbstverständlichkeit. Die Aufforderung zum Selberdenken, genauso wie dazu, sein Leben selber in die Hand zu nehmen, durchzieht SOMMERSPROSSEN, und macht zumindest Lust dazu, den Lebensweg der beiden Bankräuber nachzuvollziehen. Aber Achtung, man läuft Gefahr sich mit dem Virus der Unruhe anzustecken …

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