Was vom Tage übrigblieb ...

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Maulwurf
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Re: Was vom Tage übrigblieb ...

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O.K. (Michael Verhoeven, 1970) 8/10

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Im Krieg verroht man. Des weiß doch a jeder.“ Krieg. Krieg ist schrecklich. Krieg ist furchtbar. Krieg ist weit weg. Krieg ist irgendwo anders. In Afrika, in Asien, in Osteuropa. Krieg besteht aus den bunten Bildern in der Tagesschau und aus Statistiken gewonnener Schlachten, getöteter Menschen und vergewaltigter Frauen.
Aber was wäre, wenn Krieg nicht irgendwo am Ende der Welt wäre, sondern hier. Vor der Haustür. Zum Beispiel in Niederbayern. Wäre das dann anders? Was unterscheidet ein vergewaltigtes und abgeschlachtetes vietnamesisches Mädchen denn von einem vergewaltigten und abgeschlachteten niederbayerischen Mädchen?

Ein Vorfall aus dem Jahr 1966: Eine Gruppe US-amerikanischer Soldaten vergewaltigen und töten ein 15-jähriges vietnamesisches Mädchen. Einer aus der Gruppe, der an der Tat nicht teilnimmt, meldet dies dem Vorgesetzten, der daraufhin weist, dass hier die Freiheit der westlichen Welt verteidigt wird, und dass die Leiden der Soldaten, jeden Tag in Gefahr und weit weg von Zuhause, gefälligst zu berücksichtigen seien. Erst später, als sich der Soldat dem Feldgeistlichen anvertraut, und der dann zur Kriminalpolizei der Army geht, wird der Fall aufgerollt. Es werden drakonische Strafen ausgesprochen, die allerdings nach und nach alle wieder zurückgenommen und zu leichten Strafen umgemünzt werden. Wie gesagt, Vietnam, am Ende der Welt. Von hier aus gesehen. Da ist Krieg, da kann so was schon mal passieren. Und wen interessiert denn schon irgendein Mädchen aus irgendeinem abgelegenen Bauernland?

Michael Verhoeven versetzt nun die amerikanischen Soldaten, ausgestattet mit amerikanischen Uniformen und amerikanischen Stereotypen, in den Bayerischen Wald. Es ist Osterfrieden, deshalb ist Waffenruhe, und so langweilt man sich, man drischt einen gepflegten Schafkopf (ein bayerisches Kartenspiel) und zieht sich gegenseitig mit seiner Herkunft oder dem Dialekt auf. Bis ein 15-jähriges Mädchen vorbeifährt, Milch holen für ihren kranken Bruder. Eindeutig eine Spionin, denn hier ist ja Sperrgebiet. Der Vater war, das erfährt man im „Verhör“, länger nicht mehr in der Kirche gewesen, also ein Kommunist. Ein kommunistischer Kommunist, der Sauhund! Und dann dieser Name, Phan Ti Mao. Mao! Das muss ja eine Spionin sein. Und was macht man mit Spionen? Richtig, man vergewaltigt und tötet sie im Namen der westlichen Freiheit.

Und was einstmals, vier Jahre vor dem Dreh des Films, irgendwo am Arsch der Welt eine kleine schmutzige Episode in einem großen schmutzigen Krieg war, findet urplötzlich vor der eigenen Haustüre statt. In einem Wald der aussieht wie der bei einem selbst gleich um’s Eck. Mit einer Sprache, die man (so man Süddeutscher ist) jeden Tag hört. Und wenn man aus Norddeutschland ist hört man das zumindest im Fernsehen oft, und da haben die Sprechenden eigentlich immer ganz normale und vertraute Namen. Plötzlich ist das Grauen in der eigenen Welt angelangt, und man kann dem nicht mehr entkommen. Plötzlich geht es nicht um irgendwelche armen Menschen in irgendwelchen Strohhütten, und die werden schon was angestellt haben, das weiß man ja nie so genau; stattdessen ist es der Bauer ein paar Kilometer weiter, und vor dem geistigen Auge entsteht ein deutsches Bauerhaus in einer bekannten ländlichen Umgebung, und die Menschen tragen ganz normale Kleidung. Ein Kleid mit Blumen und einen gestrickten Pullunder …

Etwas, was sonst nur in den Nachrichten geschieht transzendiert zu etwas, was Zuhause passiert. Und in der Rückschau ist das wirklich Bemerkenswerte daran, dass so ein Film heute absolut niemanden außerhalb eines elitären Cineastenkreises mehr interessiert. Und dass O.K. 1970 dazu gereicht hat, die Berlinale zu sprengen! (1) Und dies, obwohl (oder vielleicht deshalb?) der Regisseur bereits in den ersten Szenen die vierte Wand niederreißt und die Schauspieler sich mit dem Gesicht zur Kamera vorstellen lässt. Nicht in ihren Rollennamen, sondern als echte Personen. Name, Religion, ob gedient oder ob nicht, Familienstand, Alter … Es ist also von vornherein klar, dass wir hier einen Film sehen. Dass hier Kunst stattfindet, und dass es jedem freigestellt ist, ob er dies goutiert oder ob nicht. Doch gleichzeitig wird unter dem Mantel der Kunst ein Statement zur politischen Lage der Welt abgegeben, werden Emotionen geschürt, und als Resultat kann sich kein Zuschauer diesen eindrücklichen Bildern entziehen. Auch heute nicht, wo wir wesentlich drastischere Bilder und Geschehnisse gewöhnt sind, aus Filmen, aus den Nachrichten oder gar aus den „sozialen“ Medien, wirken die Ereignisse aus O.K. immer noch wie grauenhafte Splitter eines Krieges, der ganz woanders stattfinden sollte. Überall, aber doch nicht im Bayerischen Wald! Und obwohl man es mittlerweile eigentlich besser wissen sollte, bricht sich Fassungslosigkeit immer noch Bahn. Zuhause kann es doch keinen Krieg haben, da kann doch etwas so Schreckliches nicht stattfinden …

Michael Verhoeven sagt dazu: „Filme wie ‚o.k.‘ haben damals viele zur Weißglut getrieben. Die Weltbilder wurden wesentlich rigider vertreten als heute, und diejenigen, die sich beispielsweise klar für den Vietnamkrieg aussprachen, konnten meinen Film einfach nicht ertragen. Heute ist man wesentlich gleichmütiger, man lässt die Ereignisse an sich vorbeiziehen. Der Irak-Krieg hat vielleicht im Wahlkampf einer Partei einige Sympathien gekostet, aber man prügelt sich deswegen nicht mehr auf der Straße. Zudem wurde dieser Krieg sehr medienwirksam aufbereitet – die Medien sind ja nicht nur Aufklärer, sondern Vertuscher. Deshalb sind die Konsumenten viel korrumpierbarer als früher, als solche Filme noch einen regelrechten Schock auslösten.“ (1) Was zur Frage führt, wie man, nach den Massenvergewaltigungen des Serbienkrieges und denen des Ukraine-Krieges mit einer einzigen Vergewaltigung im einem anderen Krieg umgehen soll. Dient das Grauen am Ende doch der Freiheit der westlichen Welt? Serbien und die Ukraine liegen zwar in Europa, sind aber relativ weit weg. Die Sprache ist eine andere als unsere, und genau das ist es, was O.K. so unerträglich macht, und damit auch immer noch so entsetzlich aktuell. Dass die Gräueltaten plötzlich in der Heimat stattfinden. Und dass für einen Serben oder für einen Ukrainer dieses Dinge in seiner Heimat passieren.

Eigentlich sollte O.K. an Schulen gezeigt werden um junge Menschen frühzeitig dafür zu sensibilisieren, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Hier nicht, und woanders auch nicht. Und eigentlich sollte O.K. an Schulen gezeigt werden um jungen Menschen frühzeitig zu zeigen, dass gewaltsamer Tod, das vorsätzliche Auslöschen eines Menschenlebens, nicht so blutarm und künstlich aussieht wie in den Superheldenfilmen, (oder den Statistiken aus der Tagesschau) sondern etwas Widerliches und Krankes ist.

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/O.k._%28F ... le-Skandal
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Maulwurf
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Dorothy Mills (Agnès Merlet, 2008) 6/10

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Dies ist nicht Kansas! Dies ist eine kleine und gottesfürchtige Insel vor der Küste Irlands, und hier, auf dieser namenlosen Insel mit den wenigen Bewohnern, misshandelt die junge Babysitterin Dorothy das ihr anvertraute Kind auf fürchterliche Weise. Aus Dublin reist die Psychiaterin Jane Morton an um den Fall zu untersuchen, und um herauszufinden, ob Dorothy vielleicht in eine Anstalt gehört. Doch wie das mit kleinen Inseln so ist, Jane schlägt eine Mauer aus Misstrauen, Angst und Geilheit entgegen – Jane ist jung, schaut gut aus, raucht und zieht sich nicht an wie eine Bäuerin. Weswegen die männlichen Pubbesucher sie ficken wollen, und die weiblichen Kontaktpersonen in ihr eher den Satan sehen als eine Vertrauensperson. Und von wegen Satan – Maßgeblicher Wortführer der Bevölkerung ist der Pastor, der in seinen Predigten eine schon sehr altertümlich-fundamentalistische Version des Himmelsreichs verteilt, und die Einwohner hängen an seinen Lippen und saugen die Worte geradezu in sich auf.
Jane versucht also gegen den Widerstand der Bevölkerung herauszubekommen, was in diesem gottverlassenen (?) Kaff eigentlich los ist. Warum Dorothy mit verschiedenen Stimmen spricht und ihre Stimmungsschwankungen so abrupt sind. Warum über ihrem Hotelzimmer des Nächtens E-Gitarre gespielt wird, obwohl da niemand wohnt. Warum sie eine Gruppe Punks auf dem Dorfplatz sieht, die sie wüst beschimpfen und bedrohen, obwohl ihr der Dorfpolizist, der ihr als Einziger positiv gegenüber steht, versichert, dass auf der Insel keine Punks leben würden. Und woher Dorothy, in deren Kopf sich offensichtlich die Seelen von Toten die Klinke in die Hand geben, von ihrem eigenen Sohn David weiß, der bei einem Unglücksfall gestorben ist. Allmählich kommt Jane dem Geheimnis näher, übersieht dabei aber, dass Geheimnisse, die in von der Außenwelt abgeschotteten Orten existieren, von der Bevölkerung meistens und unter allen Umständen geheim gehalten werden wollen …

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Das ist nicht Kansas! Dies ist das nördliche Irland, und es ist so abgeschieden und rückständig wie man es sich kaum vorstellen kann. Nicht so pittoresk und provinziell verspielt wie in THE GUARD – EIN IRE SIEHT ROT, und schon gar nicht so liebenswert wie LANG LEBE NED DEVINE!. Nein, eher fallen einem da diverse Backwood-Horrorfilme ein, in denen derangierte Dorfbewohner die Städter abschlachten. Doch DOROTHY ist weder ein Horrorfilm noch irgendwas mit viel Blut und Gemetzel. Regisseurin Agnès Merlet verlässt sich ganz auf die Kraft der langsamen Geschichte, die nasskalt-romantischen Bilder der irischen Küste, und auf die knorrigen Gesichter der erstklassigen Darsteller. Untermalt von einem sehr rudimentären und selten zum Einsatz kommenden Score sind es vor allem die Nebenrollen die hier im Gedächtnis haften bleiben wollen. Da ist diese Szene gleich zu Beginn, wenn Jane auf der Fähre steht und sich eine Zigarette anzünden will. Und in den Blicken der umstehenden Einheimischen ist ganz klar das Wort Hure zu lesen, im nettesten Fall erkennt man noch ein So eine ist das also. Keine Worte, keine Musik, nur die Zigarette im Mund, der Wind, und die abschätzigen Blicke. DAS ist purer Horror …

Die Geschichte selber ist relativ schnell zu durchschauen, wenn auch nicht in ihrer letzten Konsequenz, und man muss der Regisseurin Merlet vorwerfen, dass sie ab einem bestimmten Punkt das Tempo gerne ein wenig hätte anziehen dürfen, um nicht zu sehr auf der Stelle zu treten. Etwa ab der Hälfte der Laufzeit kann sich der Zuschauer eigentlich alles zusammenreimen und muss mitansehen, wie das gleiche allmähliche Tempo beibehalten wird und Dinge erzählt werden, die dem aufmerksamen Zuschauer schon längst klar sind. Erst gegen Ende erhöht sich die Schlagzahl, wenn ein erstklassiger narrativer Kniff zum Tragen kommt: Wenn das Drama hinter Dorothy erzählt wird, visualisiert sich die Geschichte. Nicht nur für den Zuschauer, sondern für das ganze Dorf! Alle können sehen wer an der Situation schuld ist, alle können sehen wer sich in welcher Form tatsächlich schuldig gemacht hat, und kein einziger kann sich diesem Moment entziehen. Ein extrem spannender Moment, der durch die Auflösung nochmal einen zusätzlichen Twist bekommt.

Doch bis dahin muss ein klein wenig Sitzfleisch mitgebracht werden. Weder das Tempo noch die Tricks moderner Horrorfilme können hier erwartet werden. Das Übernatürliche, das in die Welt der Menschen eindringt, ist in einer von Grund auf mystischen Umgebung wie Irland sowieso ein fester Bestandteil, und durch den Einfluss des Pastors bekommt die Jenseitswelt noch mal einen zusätzlichen Drall. Aber in das filmische Gedächtnis mag sich das alles nicht so recht einbrennen, trotz vieler starker und intensiver Momente. Vor allem Jenn Murray als Dorothy beeindruckt in ihren vielen verschiedenen Inkarnationen und mit ihrem eindrücklichen Gesicht hochgradig. Eine unglaubliche Schauspielerin, die vor allem die schnellen Stimmungswechsel überzeugend meistert. Doch ist der Film vorbei, verblasst auch bereits die Erinnerung, was wohl auch ein wenig an Carice van Houten als Jane Morton liegt, die deutlich unter ihren Möglichkeiten bleibt. Ein Film für einen ruhigen Abend, aber nicht für die Ewigkeit.

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Maulwurf
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Night Moves (Kelly Reichardt, 2013) 4/10

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Schon seit Jahren interessiert mich die Frage, an welchem Punkt ein Mensch sich extremisiert und in den Untergrund geht. Dem bequemen Leben mit warmem Abendessen und gemütlichem Bett Auf Wiedersehen sagt und sich für eine Existenz mit permanentem Ortswechsel und ständiger Angst entscheidet. Was war der Auslöser, an dem Ulrike Meinhof sich entschieden hat, ihre beiden Kinder zurückzulassen und sich Andreas Baader und der sich gerade verfestigenden RAF anzuschließen? Wann hat Beate Zschäpe ihre Hochhauswohnung in Jena bewusst verlassen um in konspirative Wohnungen und Gewaltexzesse abzutauchen?

NIGHT MOVES gibt diesem Punkt ein Gesicht. Der Film schafft es, wenn man gut aufpasst, genau den Augenblick zu erwischen, an dem der junge Umweltaktivist Josh sich entscheidet, nicht mehr nur zu diskutieren und zu demonstrieren, sondern ein Zeichen zu setzen. Aus seiner relativ gesicherten Existenz als Helfer in einer Landwirtschaftskooperative auszubrechen und etwas zu zerstören, um ein Zeichen zu setzen gegen einen gesellschaftlichen Missstand. Ein spannender Moment. Ein Moment, der, wenn man ein wenig darüber nachdenkt, im wirklichem Leben ebenfalls jeden Augenblick geschehen kann: Ein junger Mann, der unter Gleichgesinnten einen Film über die fortlaufende Umweltzerstörung sieht, die dummen Fragen der Zuschauer an die anwesende Regisseurin hört, und sich überlegt, dass dumme Fragen die aktive und vorsätzliche Vernichtung des Planeten Erde halt einfach nicht aufhalten. Ersetzt man das Wort Umweltzerstörung durch den Begriff kulturelle Identität weiß man, wie radikale Islamisten ihren Nachwuchs rekrutieren.

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Josh, seine Bekannte Dena und der schon länger im Untergrund lebende Harmon beschließen, einen Staudamm zu sprengen. Ihr Plan ist recht gut ausgearbeitet, und auch wenn Harmon durch sein Laissez-Faire bei den Details die Ausführung mehr als einmal gefährdet, so bringen Dena und Josh durch ihren unbedingten Willen alles wieder ins Lot, und eines Nachts ist es soweit. Die drei bringen ein Boot, bis an den Rand gefüllt mit Sprengstoff, an die Staumauer, und können unerkannt entkommen. Doch durch die Explosion kommt ein unbeteiligter Camper ums Leben. Josh und Harmon geht das am Arsch vorbei, ihr Selbstverständnis ist es, andere Menschen durch solche Aktionen zum Nachdenken zu bringen, ohne Rücksicht auf Verluste. Aber Dena kommt ins Schleudern und fragt sich, was sie da getan hat. Sie hat einen Menschen getötet, einen Familienvater, der in der Natur Ruhe erfahren wollte. Ihr Selbstvertrauen bröckelt zunehmend, und es ist abzusehen, dass das FBI durch Denas Unvorsichtigkeit bald auf das Trio stoßen wird.

Die Vorbereitungen für den Anschlag werden gezeigt, sind auch mit kleineren und effektiven Spannungsspitzen versehen, und funktionieren soweit durch die guten Schauspieler auch sehr gut. Der Anschlag selber ist mit Problemen und einer entsprechend ansteigenden Spannungskurve gepfeffert, doch alles was anschließend kommt wird unter einer dicken Schicht Langeweile bedeckt und mit filmischen Schlafmitteln zugekleistert. Ein nur rudimentär vorhandener Arthouse-Drama-Library-Musik-Score untermalt die Radikalisierung von Josh, welcher sich in eine Situation hineinmanövriert, die er nur noch durch Gewalt meistern kann. Und die ihn endgültig in den Untergrund zwingt, in ein Leben zwischen Schlafen im Auto, irgendwelchen Jobs, und dem ständigen Blick über die Schulter (bzw. in den Spiegel), ob die Cops schon da sind.

Die Ausgangssituation ist interessant, die Geschichte ist interessant, die Schauspieler gut (auch wenn Jesse Eisenberg schauspielerisch einem Stück Karton in nichts nachsteht, aber tatsächlich reicht dies hier bereits), und als Psychogramm eines angehenden Untergrundaktivisten wäre NIGHT MOVES ein durchaus gelungener Film. Wenn er nicht so entsetzlich langweilig inszeniert wäre. Wenn die Dialoge nicht auf Schnarchnasenniveau wären, und die Story an sich einfach ein klein wenig peppiger erzählt werden würde und nicht wie ein auf Teufel komm raus verbrämtes Arthouse-Drama mit unbedingtem Realitätsanspruch für Sozialpädagogen, die sich in ihrer Phantasie aus ihrer 08/15-Existenz in die Rolle eines Aktivisten hineinträumen. So ist es ausgesprochen schade, dass die fade Inszenierung die gute Story restlos in den Sand setzt und vor allem im letzten Drittel für angenehme Schlaferlebnisse vor der Glotze sorgt. Bedeutungsschwangere Aufnahmen von vor sich hinstarrenden Menschen, von Wänden oder von schöner Natur sollen Inhalt vermitteln und dem gebildeten Zuschauer im Publikum wahrscheinlich einen Startpunkt für seine eigenen Gedanken geben. Und dass intellektueller Anspruch und ansprechende Inszenierung sich nicht ausschließen müssen, das hat sich halt leider noch nicht wirklich herumgesprochen. Schade um die gute Idee und den guten Ansatz, schade um die vernünftigen Schauspieler, und schade um die Gelegenheit, den Punkt der Extremisierung einmal einer breiteren Diskussion zur Verfügung zu stellen.

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Run (Aneesh Chaganty, 2020) 7/10

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Die Mutter liebt ihre Tochter. Über alles. Die Tochter ist ihr wahrer Schatz. Und die Mutter ist bereit, alles zu tun, damit dieses tolle und innige Verhältnis nicht zerstört wird. Die Tochter will auf das College? Keine Angst, sobald ein College antwortet darf sie den Brief selbstverständlich sofort selber öffnen. Die Tochter will wissen was das für Medikamente sind, die sie jeden Tag nehmen muss? Die Apothekerin ist an die Verschwiegenheit gebunden. Die Tochter will in ihrem Rollstuhl in das Erdgeschoss des kleinen Häuschens fahren? Die Stromzufuhr des Lifts ist gekappt …

Was mir an RUN zuallererst gefallen hat, ist diese Beschränkung auf das Notwendige. Das Setting ist von vornherein ziemlich klar definiert: Die Tochter Chloe sitzt im Rollstuhl, hat Asthma und noch ein paar andere Krankheiten, ist hochintelligent und in Bezug auf Elektronik ziemlich geschickt. Die Mutter Diane hat Chloe die letzten Jahre zuhause unterrichtet, opfert sich auf für ihre geliebte Tochter, und ist nicht bereit, ihre Liebe gegen auch nur ein Quäntchen Freiheit einzutauschen. Dazu ein abgelegenes Haus, keinerlei soziale Kontakte außer dem Paketboten, und eine Andeutung, dass mit den Medikamenten Chloes vielleicht nicht immer alles 100%-ig in Ordnung sein könnte. Fertig ist das Thriller-/Horror-Szenario, dass sich alsbald zu einem Selbstläufer entwickelt.

Denn Chloe ist zwar wirklich alles andere als auf den Kopf gefallen, doch unterschätzt sie ihre Mutter und deren Kontrollwut gewaltig. Was hier unerbittlich und unaufhaltsam auf den Zuschauer zuwalzt ist ein böser und bitterer Thriller über eine Mutter-Kind-Beziehung, wie sie toxischer nicht sein könnte. Toxischer, vor allem aber auch kaum tödlicher. Denn Diane ist wirklich zu ALLEM bereit. Zu was allem, das versetzt dem Zuschauer nach und nach einiges an Schocks, die zwar gerne in Form modischer Scare Jumps dargereicht werden, ihre Wirkung aber überhaupt nicht verfehlen, und einen unnachgiebig in diese immer schwärzer und fieser werdende Geschichte hineinziehen. Regisseur Aneesh Chaganty widersteht der Versuchung, die im Kern einfache und sehr zielsichere Story mit allerlei Brimborium anzureichern, und auch Nebenhandlungen finden keine statt. Stattdessen mutet der Film wie ein geradliniges Kammerspiel im Geiste von Polanskis EKEL an, und der Konflikt Mutter-Tochter wird konsequent und auf allerbösester Ebene bis zum Ende durchgespielt. Selbst die letzten 5 Minuten, die ich in meiner Arroganz noch als diejenigen üblichen 5 Minuten abgetan habe, die amerikanische Filme meistens zu lang sind, selbst diese 5 Minuten haben ihren Sinn und ihren Magenschwinger.

Ruhig und zielsicher trifft RUN genau in das Nervensystem des Zuschauers, und selbst der ganz leicht schwächelnde Showdown begnügt sich mit dem Einfachsten und Notwendigsten. Kein Hokuspokus, keine Ablenkung, einfach nur zwei Kontrahenten die sich gegenüber stehen und ihre Gefühle, ihre Liebe (oder was immer sie dafür halten) und ihre Dickschädel im Kampf gegeneinander prallen lassen. Beeindruckend und spannend!
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Lulu (Victor Nieuwenhuijs & Maartje Seyferth, 2005) 4/10

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Eine Frau, eine Femme Fatale, deren einziges Streben ist, Männer auszusaugen. Ihnen alles zu nehmen was sie haben, ihr Hab und Gut, ihre Geld und ihre Gefühle, bis sie weitergeht, eine leere Hülle von etwas hinterlassend, was einmal ein Mann war. Das Mittel dazu heißt Sex, und nochmal Sex. Männer sind schwanzgesteuert, da brauchen wir uns nichts vormachen, und das einzige Begehren das sie haben ist, ihr Ding irgendwo reinzustecken. Was könnte für eine Frau also näherliegen, als aus diesem Akt einen Akt des eigenen Überlebens zu machen?

In der niederländischen Version dieses Stoffes trifft die Kindfrau Lulu auf den vermögenden Leon, der in einem Schloss residiert, in seinem gelebten Sarkasmus vor allem einsam ist, und fortan alle seine Gefühle auf Lulu projiziert. Doch Lulu will nicht (nur) den dicken und reichen Leon, sie will auch den coolen Macho Carlos, den gutaussehenden Alec, Leons Sohn, und wenn sie es mit Alec treibt schaut Martha zu. Lulu macht es mit Max, und sie verführt sogar Leons Bruder, den Priester Maurits, in der Kirche. Und als Leon Lulu endlich aus dem Haus werfen kann ist es zu spät – Zurück bleibt nur eine leere Hülle, während Lulu auf ihrem Weg weitergeht.

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Eine dampfende Kombination aus tierischer Sexualität, weiblicher Schönheit und gewalttätigen Impulsen“, so heißt es auf der DVD-Hülle laut einem Portal? Poeten? namens Cinemaze. „Erotisch und poetisch, eine bewegende Geschichte von Liebe und dem melancholischen Urbedürfnis des Überlebens“ behauptet ein gewisser Riff, „Sinnlich und subversiv“ erklärt uns der Aufkleber des Labels auf dem Cover.

Ich darf verraten, dass nichts, aber auch rein gar nichts von diesen Attributen auf den Film zutrifft. Und wer immer solche Dinge über LULU behauptet, hat in seinem Leben noch nie einen Jess Franco-Film gesehen. Sinnlichkeit findet in den kahlen und kühl wirkenden Kulissen praktisch gar nicht statt, die wenigen Momente der körperlichen Annäherung sind den Kulissen bestens angepasst und haben wenig Ausstrahlung. Wenn überhaupt, dann sind sie kalt und unpersönlich. Eine nackte Frau allein mag vielleicht Feuilletonisten in den Wahnsinn treiben, Filmfans mit mehr als 200 gesichteten Filmen pro Jahr sicher nicht. Und subversiv? Nun ja, die Vorlage des Theaterstücks aus dem Jahr 1913 war damals sicher ein Skandal und hat das Reich möglicherweise sogar in seinen Grundfesten erschüttert (was ich nun aber auch nicht wirklich glaube), aber im Jahr 2005, 31 Jahre nach dem ersten EMMANUELLE, hat das Zeigen einer nackten Frau und ihrer finanziellen und erotischen Obsessionen sicher nichts mehr von Subversion im Bauch.

Dazu kommt, dass Vlatka Simac zwar ordentlich schauspielert, und ihr knabenhafter Körper auf jeden Fall auch viel sinnliche Ausstrahlung hat, aber auch hier gilt, dass in den 30 Jahren davor auf den Filmleinwänden dieser Welt noch ganz andere Dinge gezeigt wurden. Ein blankes Messer über einen nackten Frauenkörper gezogen, dies in Kombination mit einer gewissen Zeigefreudigkeit, das ist für mich zwei Minuten dunkle Erotik, aber nicht sinnlich-subversive Irgendwas. Ich bin so frei und behaupte, dass etwa eine Nieves Navarro selbst angezogen mehr Erotik und vor allem mehr Talent besaß als Vlatka Simac. Was mir die Länge der Filmographien der beiden Aktricen dann auch bestätigt (oder bin ich auch schon so schwanzgesteuert, dass ich hier die Länge vergleiche…? Egal …)

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OK, der Maulwurf wollte also offensichtlich einen Softsexer sehen und ist enttäuscht worden. Muss denn der Film deswegen gleich schlecht sein, nur weil die Erwartungen vollkommen in die Irre geführt wurden? Ein wenig trifft dieser Umstand schon zu, aber auch sonst bietet LULU nicht wirklich etwas für Bauch oder Kopf. Die verschachtelte Erzählstruktur bringt uns die durchgehend unsympathischen Personen keinen Schritt näher, sie bleiben Pappfiguren in unaufregenden Kulissen, und hinter den Pappfiguren zeigen sich nicht einmal Emotionen. Es gibt da diesen Moment, wenn Leon seinen eigenen Sohn Alec mit der Pistole bedroht, während Lulu, von Leon in flagranti erwischt, sich hinter Alecs Rücken versteckt. Die Kamera macht den Fehler die Gesichter der Darsteller in Großaufnahme zu zeigen, und wir sehen – Nichts! Keinerlei Emotion, keinen Hass, keinen Ärger, keine Angst. Ich meine, wenn mein Vater mich mit seiner Geliebten ertappen und eine Pistole auf mich richten würde hätte ich Angst. Wenn ich der Vater wäre, dann wäre ich sauer. Würde Gefühle in mir spüren die hochkochen, die mich überwältigen wollen, die mir zuflüstern „Mach es, tue es, töte das Schwein“. Und hier? Leon schaut Alec an, Alec schaut Leon an, und die Blicke verlieren sich im Nirwana der Emotionslosigkeit. Habe ich, bevor ich heute früh zu den Dreharbeiten gekommen bin, eigentlich das Licht im Flur ausgemacht …?

Eine Frau, eine Femme Fatale, deren einziges Streben ist, Männer auszusaugen. Ihnen alles zu nehmen was sie haben, ihr Hab und Gut, ihre Geld und ihre Gefühle, bis sie weitergehen, eine leere Hülle von etwas hinterlassend, was einmal ein Mann war. Auch ohne den Sex durchzieht diese Geschichte die Filmhistorie, bei den Stummfilmen beginnend (etwa Wallace Worsleys THE ACE OF HEARTS) über die klassischen Noirs (zum Beispiel Charles Vidors Klassiker GILDA) bis heute (Brian De Palmas FEMME FATALE). Die Story an sich dürfte aber noch ein paar tausend Jahre älter sein, da bin ich mir sicher, denn Sex ist eine Triebfeder des menschlichen Handelns, und das Ausnutzen dieser Triebfeder ist so alt wie die Menschheit. Wer das nicht glaubt darf gerne bei Homer nachschlagen. Mal wird diese Story besser erzählt (was schnell zu Homer führt), mal schlechter. In dieser vorliegenden Version von LULU landen wir eher bei letzterem. Einer Geschichte die so mühsam auf artifiziell und unerotisch getrimmt wurde, dass Langeweile und Müdigkeit zwingend die Überhand über den Seelenzustand des ermatteten Zuschauers gewinnen. Schade um den guten Stoff. Und jetzt muss dringend ein Jess Franco mit Lina Romay her, um die aufgestaute Erwartungshaltung abzubauen …

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Beim Einstellen der Besprechung ist mir im Nachhinein aufgefallen, dass LULU letzten Endes abgefilmtes Theater ist. Die statischen Bilder, die papiernen Figuren, das Herumschleichen um einen Skandal, der vor über 100 Jahren mal einer war ... Das ist alles Theater, und es wird leider kein Versuch unternommen, den Stoff an die Dynamik eines Films anzupassen. Solche Experimente gehen in den allermeisten Fällen schief, so auch hier. Film hat halt nun mal andere Gesetze als die Bühne.
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The beast in heat (Luigi Batzella, 1977) 6/10

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BeastinHeatBLU-1_1024x1024.jpg (32.41 KiB) 218 mal betrachtet

Naziploitation, das sind normalerweise Filme zum andere Leute in die Flucht schlagen. Billige Reißer, bestehend aus Sex, Folter, billigen Schauspielern die billige Nazis spielen, und vor allem mit unglaublich vielen Längen zwischen den schlechten (und billigen!) Sexszenen. SS HELL CAMP könnte sich da fast als klassisches Beispiel anbieten: Um eine Gruppe von Partisanen aufzuspüren, greift die SS-Offizierin Dr. Klasch zu den äußersten Mitteln. Sie experimentiert damit, eine schreckliche und sexsüchtige Kreatur zu erschaffen, die sie in einem Käfig hält, um eine neue Superrasse zu erschaffen. Bis zum Abschluss der Experimente aber werden weibliche Gefangene von der Kreatur zu Tode vergewaltigt, männliche Gefangene müssen sich, je nach Aussehen, eher mit einer fiesen Sexfolter oder alternativ einer Kastration abfinden. Auf jeden Fall wird hier viel und blutig und in Großaufnahme gefoltert, während Macha Magall in SS-Uniform, mit schwarzer Schirmmütze und belustigt-bösartigem Augenblitzen die Grausamkeiten in Augenschein nimmt und sichtlich geil wird von soviel Schmerz und Blut.

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Was SS HELL CAMP dabei von Schwachheiten wie zum Beispiel NATHALIE: ESCAPE FROM HELL unterscheidet ist zum einen die absolute Ernsthaftigkeit, mit der hier jede Szene bis weit hinter die Schmerzgrenze ausgekostet wird, sowie zum anderen eine hochgradige Besetzung mit u.a. Brad Harris, Brigitte Skay und Alfredo Rizzo. Das muss man sich erstmal auf der Zunge zergehen lassen: Brad Harris und Brigitte Skay spielen in einem Naziploitationfilm aus dem Jahr 1977 mit …

Die Lösung dieses Phänomens liegt beim Regisseur Luigi Batzella, der hier seinen eigenen Partisanenfilm CAMPANA von 1971 und Alfredo Rizzos HIMMELFAHRTSKOMMANDO IN DIE HÖLLE, ebenfalls von 1971, verwurstet, und die beiden genannten Filme mit neu gedrehtem Material anreichert. Nur falls jemand denkt, Godfrey Ho hätte den Copy-and-Paste-Film erfunden. Auf jeden Fall schneidet Batzella unter seinem Regiepseudonym Paolo Solvay die beiden genannten Filme mit neuem Material um Macha Magall so erstklassig zusammen, dass der Zuschauer keinerlei ernsthafte Unstimmigkeiten entdecken kann. Und dazu hat er auch gar keine Zeit, denn die Story treibt von Höhepunkt zu Höhepunkt, auf eine Razzia in einem Dorf folgt eine Folterszene, dann gibt es einen gut inszenierten Kampf, dann wieder eine Folter …

Batzella hat also sein sowieso schon gut gemachtes Material mit den Höhepunkten aus anderen Filmen verbunden, und das Ergebnis ist ein ernster Film mit viel nackter Haut und einigen sehr wirklich widerlichen Szenen. Durch das oft recht düstere Flair, das vor allem gegen Ende den Film durchzieht, wenn der Partisan Drago mit seinem toten Kind durch das Dorf und den (sehr schlecht getricksten) Fliegerangriff geht, zieht SS HELL CAMP deutlich besser als vergleichbarer Nazi-Stoff. Es gibt einfach keine Langeweile, die Schauspieler sind erstklassig, und die Sprüche die so zu hören sind ebenfalls. „Soldaten des Dritten Reichs haben niemals erregt zu sein, unter keinen Umständen!“ muss sich ein armes Würstchen anhören, dass zusehen muss wie die Bestie eine Frau totfickt, während gleichzeitig Macha Magall vor ihm steht und ihm den Uniformrock aufknöpft. Und wenn dem einen Mädchen die Fingernägel ausgerissen werden bin ich mir gar nicht sicher, ob in der gesehenen US-Synchronisation die Gefolterte nicht sogar sagt „Ouch, that hurts.“

Aber trotz solcher kleineren Dinge treibt der Film, ich erwähnte es, unaufhörlich nach vorn. Brad Harris als prügelnder Priester mit Gewissensbissen gibt noch mal zusätzlichen Dampf, und durch den hohen Blutzoll, auch bei sympathischen Figuren, hat man auch auf dieser Seite des Bildschirms das Gefühl, dass der Film alles andere als trashig oder lächerlich ist. Obwohl er es selbstverständlich ist! Fast schade, dass der Batzella nicht öfters solche Bastelexperimente gemacht hat. Besser als seine meisten „normalen“ Filme ist das Ergebnis allemal, auch wenn es bemerkenswert ist, dass die eingefügten Szenen so wesentlich mehr Besprechung auf sich ziehen als der eigentliche Film …

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Zuletzt geändert von Maulwurf am So 22. Jan 2023, 06:51, insgesamt 1-mal geändert.
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
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Topkapi (Jules Dassin, 1964) 8/10

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Elizabeth Lipp sammelt Männer und Smaragde. Doch nur ein Mann schafft es, in ihr die gleiche Erregung zu erwecken wie es der Anblick eines Smaragdes tut: Walter Harper, der Schweizer Meisterdieb. Gemeinsam will man in Istanbul einen wertvollen, smaragdbesetzten Dolch stehlen, und das Team dazu besteht aus dem bärenstarken, aber leider auch cholerischen Hans, dem genialen Tüftler und Erfinder Cedric Paige, und dem Akrobaten Giulio. Es wird noch ein Hanswurst benötigt, ein Schlemihl, wie Walter sich ausdrückt, und den findet man in dem erfolglosen Touristennepper Arthur Simpson, der in Griechenland mühsam versucht, gefälschte Antiquitäten und sinnlose Touri-Führungen an den Mann zu bringen. Arthur ist ein klein wenig tumb, aber kräftig, und als Hans wegen seiner Unbeherrschtheit ausfällt, wird Arthur ins Team geholt. Der Einstieg in das extrem gut bewachte Museum findet über das Dach statt. Giulio an einem Seil, und Arthur steht am Dachrand und hält das Seil. Doch Arthur hat extreme Höhenangst. Und Arthur hat vergessen zu erzählen, dass bei seinem Grenzübertritt Waffen und Granaten gefunden wurden, und er seitdem zwangsweise für den türkischen Geheimdienst arbeitet …

Von einem Meister des Heist-Movies (RIFIFI) ein weiterer Heist-Movie. Dieses Mal machen aber nicht eiskalte Gangster alles klar, sondern lebensfrohe und gewitzte Menschen in einer lebensfrohen und gewitzten Komödie, wie es sie so wahrscheinlich nur in den 60er-Jahren geben konnte. Die Stimmung ist sommerlich, die Dialoge geschliffen, der Plan ist verschroben-genial, und wenn etwas dazwischen kommt, wie das verspätete Geständnis Arthurs mit dem Geheimdienst, dann hat das geniale Mastermind eine ebenso geniale Idee, wie der Plan trotzdem umgesetzt werden kann. Halt nur ein klein wenig schwieriger und gleichzeitig eleganter. Ein Heist-Movie eben.

Und weil das ja alles noch nicht reicht, sind es halt auch noch die Schauspieler, die dem sowieso schon schokobollerchen-runden Film noch eine zusätzliche Portion Zuckerglasur geben. Melina Mercouri, die Grand Dame der griechischen Kultur der Neuzeit, sitzt bei den Ringkämpfen, schaut zu wie sich halbnackte Männer einölen und gegenseitig durch die Luft wirbeln, und schwitzt reinen und puren Sex aus. Maximilian Schell zeigt was WIRKLICH Stil ist: Mit einem Glas Sekt in der Hand durch das vernebelte Paris gehen, natürlich in eleganter Abendgarderobe, und niemals die Contenance verlieren, gleich ob man einen Selbstmörder vor dem Abgang bewahrt oder ob die längst verloren geglaubte Liebe des Lebens plötzlich wieder da steht. Robert Morley verliert ebenfalls niemals die Fassung, und hat immer eine passende Antwort auf Lager. Sein Motto ist es, so elegant und ausgetüftelt wie möglich durch das Leben zu gleiten und immer eine steife Oberlippe zu bewahren. Na ja, und Peter Ustinov natürlich. Aber der war ja sowieso immer und zu jeder Zeit bewunderungswürdig …

Und das alles in dieser erwähnten sommerlich-beschwingten Stimmung. Istanbul platzt förmlich vor Lebenslust, die Villa, in der man einquartiert ist, ist perfekt möbliert und dekoriert, und dass der Plan am Ende vielleicht nicht ganz so funktioniert wie geplant? Ist doch gleich, der nächste Coup steht sowieso schon vor der Türe. Ein federleichter und heiterer (nicht komischer!) Film, der einen warmen Sommerabend auf eine wunderbare Art zu etwas Besonderem machen kann. Und einen Winterabend zu einem besonderen Sommerabend umfunktioniert. Ein Film, der den Zuschauer lächelnd in den Alltag entlässt. Wie schön!!
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Mulholland Drive (David Lynch, 2001) 5/10

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David Lynch. Großmeister des psychedelischen Kinos, des schrankendurchbrechenden Films und der fortwährenden What the Fuck-Momente. Einer der ganz großen Regisseure des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts, der mit Filmen wie DER ELEFANTENMENSCH, ERASERHEAD, WILD AT HEART oder BLUE VELVET Kinogeschichte geschrieben hat. Und dessen Oeuvre von den allermeisten Filmfans, gleich ob Arthouse- oder Genrefans, gleichermaßen geschätzt wird. Und MULHOLLAND DRIVE gehört zum Kanon des erfolgreichen Non-Mainstreamkinos von heute genauso wie Nicolas Winding Refns DRIVE oder George Romeros NIGHT OF THE LIVING DEAD.

Doch nehmen wir mal an, nur für einen kleinen Moment, nicht David Lynch hätte MULHOLLAND DRIVE gedreht, sondern … zum Beispiel jemand den wir Olaf Müller nennen wollen. Ein kleiner deutscher Independentfilmer, der sich zu viele Filme der Gosejohann-Brüder angeschaut hat und daraufhin meinte, dass er sowas auch könne. Flugs ein paar Bier getrunken, was geraucht, und die Nacht mit dem Schreiben eines Drehbuchs durchgebracht. Im Lauf der nächsten Wochen ein paar Freunde zusammengetrommelt, und in den Straßen der Heimatstadt sowie in der Wohnung der Freundin munter gefilmt. Den Schnitt dann wieder unter ernsthaften Einsatzes bewusstseinserweiternder Mittelchen durchgeführt, und ab damit in die Öffentlichkeit via Youtube und Konsorten. Wie wäre dann wohl die Rezeption der meisten Zuschauer ausgefallen?

Nein, so schlecht wie das Beschriebene ist MULHOLLAND DRIVE selbstverständlich nicht. Schauspieler, Technik, Schnitt, Musik – Alles auf allerhöchstem Niveau, und vor allem Naomi Watts und Laura Harring scheinen ihre innersten Gefühle direkt an den Zuschauer zu übertragen. Weint Naomi Watts, möchte man mit ihr weinen. Hat Laura Harring Angst, rollt man sich auf dem Sofa zusammen. Überragende Schauspielkunst, die den großen Regisseur genauso verrät wie den einfühlsamen Schauspieler.

Aber ein gelungener Film hat nach meinem Dafürhalten halt auch noch eine Geschichte zu bieten. Und da kommt das oben beschriebene und im Rausch entstandene Skript wieder ins Spiel. Was stimmungsvoll und mysteriös beginnt, nämlich mit einer nächtlichen Fahrt durch die Hügel der Umgebung von Los Angeles, einem schrecklichen Unfall und der Verwirrung einer bildschönen Frau, wächst sich relativ schnell aus zu einer Verwirrung des durchschnittlichen Zuschauers. Lynch bombardiert uns mit Skizzen von Geschichten, mit Momentaufnahmen aus verschiedenen Leben verschiedener Menschen, und nicht immer hängt alles zusammen. Von der Struktur sogenannter Short Cut-Filme wie zum Beispiel L.A. CRASH, welche die Schicksale unterschiedlichster Menschen und –gruppen zusammenbringen, ist MULHOLLAND DRIVE gar nicht so weit entfernt, führt aber die Erwartungshaltung des Zuschauers ganz schnell ad absurdum zugunsten eines Flickwerks an gutaussehenden Bildern. Ein ominöser Strippenzieher, der in einem Rollstuhl sitzt und einsilbige Befehle gibt? Ist schnell wieder weg. Ein Psychiater und sein Patient, die in einem Schnellimbiss Traumanalyse betreiben? Hat nicht viel praktischen Nutzen. Ein Regisseur, der sich mit der Mafia einlässt? Eine sehr schöne und interessante Geschichte, die aber leider viel zu früh wieder losgelassen wird.

David Lynch setzt uns einen Kosmos an Typen und Stories, an Ideen, Erfindungen und Andeutungen vor, und er allein entscheidet, welche dieser Andeutungen zu einer Geschichte ausgebaut wird, und welche im Winde verweht. Wie in einem Skizzenbuch erarbeitet Lynch oftmals Hintergründe zu Charakteren, die nach wenigen Minuten das Licht des Films verlassen, was dem Film eine vordergründige Fülle und Reichhaltigkeit gibt, die er dann aber schlussendlich nicht einlösen kann.

Denn sind wir mal ehrlich: Hätte Olaf Müller diesen Film genauso gedreht, alle wären entsetzt ob des hanebüchenen Stils und der unstrukturierten Erzählweise. Zu lang, zu zerfasert, zu unkonzentriert in der Narration, so würde es heißen. Dreht David Lynch so einen Film so liest man „Genialer und vertrackter Psychotrip“ oder „Meisterhaftes Verwirrspiel mit doppeltem Boden“. Denn es steht ja David Lynch dran, und da werden solche Phrasen erwartet.

Ich persönlich, und ich lege Wert darauf das dies meine persönliche Meinung ist, konnte sogar mit INLAND EMPIRE mehr anfangen als mit MULHOLLAND DRIVE, aber eigentlich vermisse ich die erzählerischen Zeiten von BLUE VELVET oder WILD AT HEART, wo Lynch noch erstklassige und tiefgehende Stories mit überwältigenden Bildern und einem betörenden Soundtrack kombiniert hat. Die Bilder sind immer noch überwältigend, aber die Story (?) lässt meines Erachtens schwer zu wünschen übrig, und der Soundtrack von Angelo Badalamenti ist sehr schön, nutzt sich aber in der Laufzeit von weit über zwei Stunden irgendwann doch deutlich ab. Oder anders ausgedrückt: Zwischen dem düsteren Gedudel eines ROSSO VENEZIA und dem Geklimper von MULHOLLAND DRIVE besteht von Seiten des Scores streng genommen sehr wenig Unterschied.
Mag sein, dass sich nach der fünften Sichtung von MULHOLLAND DRIVE Zusammenhänge erschließen und neue Ebenen eröffnen, die den Zugang zu diesem Vexierspiel leichter machen. Aber nach der ersten Sichtung tue ich mich hart, an dem Film wirklich richtig viel Gefallen zu finden. Ich hänge mich dann an die begeisternden Schauspieler, erfreue mich an der fast überirdischen Schönheit von Laura Harring, und genieße es, durch die betörenden Settings zu stromern und Ideen zu sammeln, wie ich mein Haus gestalten könnte. Aber sonst? Fast könnte ich mich ärgern, auf das Etikett David Lynch hereingefallen zu sein …

Es gibt da diese Szene in dem alten Theater, wenn Betty und Rita einer Sängerin zuhören, welche die beiden mit ihrem Gesang zu Tränen rührt, bis die Sängerin dann irgendwann tot umfällt, der Gesang aber weiter läuft. Eine für die Karriere Lynchs und sein Storytelling symptomatische Szene: Der Reiz des verwickelten, des undurchsichtigen, des mysteriösen, das hat sich irgendwann in Lynchs Karriere anscheinend verselbständigt, und genau zu dem Zeitpunkt, als die Sängerin zusammenbricht und der Gesang weiter erklingt, genau zu diesem Zeitpunkt hat sich auch die Narration von Lynchs Geschichten verselbständigt. Wo BLUE VELVET noch eine dunkle und obsessive Mär um Sex und Gewalt bot, und wo LOST HIGHWAY in seiner Mehrdeutigkeit Anreiz zum eigenständigen Denken gab und damit das filmische Äquivalent zu einem LSD-Trip war, da verliert sich MULHOLLAND DRIVE in Welten, die wie Einbahnstraßen in irgendeinen Winkel eines Universums führen, ohne einen Rückweg anzubieten. INLAND EMPIRE, der dieses Konzept, wenn man es denn so nennen möchte, konsequent weiterführt, ist dann die logische Fortsetzung einer narrativen Sackgasse: Voll gegen die Wand, aber dafür funkelnde und aufregende Sterne vor den Augen, die einem bunte Inhalte vorgaukeln, wo aber in Wirklichkeit doch nur ein Rumms auf den Schädel stattgefunden hat.

MULHOLLAND DRIVE ist schön anzusehen, er bietet sehr viele sehr aufregende filmische Momente, und ich bin froh ihn endlich einmal gesehen zu haben. Aber so viel Diskussionsgrundlage hier auch geschaffen wird, er sättigt nicht. Da ist mir ein Film wie etwa LE REGINE von Tonino Cervi wesentlich lieber, der ebenfalls in Symbolik und Mystizismus schwelgt, gleichzeitig aber auch eine Geschichte anbietet über die nachgedacht werden kann, und die den Betrachter zufriedenstellt. LE REGINE hat einen bösen Schluss mit einigen gemeinen Textpassagen, die ein fieses Grinsen auf das Gesicht des Zuschauers zaubern können. MULHOLLAND DRIVE hingegen hat am Ende nichts was wirklich glücklich macht, außer dem cineastischen Gegenstück zu einem Apfelmännchen: Maximaler Umriss mit schwammigem Inhalt, nicht greifbar und nicht real. Aber wunderschön anzuschauen …
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Beitrag von Maulwurf »

Höllenhunde bellen zum Gebet (Antonio Margheriti, 1976) 7/10

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Der alternde Profikiller Marciani kommt von New York nach Italien, um den Mord an seinem Bruder zu rächen. Er stößt auf den Nachwuchsgauner Angelo, den er, weil seine Augen zusehends nachlassen, zum Killer ausbildet. Zumindest technisch, denn die Willenskraft einen Menschen zu töten, die muss Angelo erst noch entwickeln. Viel Zeit dazu hat er allerdings nicht ...

Klingt von der Vater-Sohn-Beziehung “Alter Killer und junger Gauner“ her erst mal nach dem 3 Jahre früher entstandenen LA PISTOLA von Michele Lupo, bei dem Lee van Cleef und Tony Lo Bianco versuchten aufzuräumen, aber natürlich werden auch Erinnerungen an DER TOD RITT DIENSTAGS oder an BANDIDOS wach. Hier sind es Yul Brynner in seiner letzten Rolle und der Sänger Massimo Ranieri, die in Neapel für immer größer werdende Lücken unter den ansässigen Mafiosi sorgen, und dabei reichlich flott und energiegeladen vorgehen. Jede Menge Action ist geboten, und die ist auch erstklassig inszeniert, allerdings hat Yul Brynner mir persönlich ein wenig zu oft diese In Europa drehen sie ja drollige Filme-Ausstrahlung. Was nichts anders heißen soll, als dass ich mir einbilde, dass in vielen Szenen ein nachsichtig-melancholisches Lächeln über sein Gesicht huscht – Vor allem dann, wenn es grade gar nicht passt. Dazu Massimo Ranieri, der mir in MORDANKLAGE GEGEN EINEN STUDENTEN so gut gefallen hatte, und dessen Rolle ich hier überhaupt nicht verstehen mag. Welchen dramaturgischen Reiz hat diese Figur? Ist es seine Aufgabe, jüngere Leute ins Kino zu ziehen? Oder war der Mann eine Vorgabe vom Produzenten? Nicht dass Ranieri schlecht ist, aber seine Rolle fordert gelegentlich zum leichten Fremdschämen auf, und man fragt sich unweigerlich, was für eine knallige Actionorgie der Film ohne Ranieri geworden wäre …

Die deutsche Synchro macht mich auch nicht richtig glücklich (Wer bitte schön kam auf die Idee, Arnold Marquis auf Yul Brunner zu besetzen? Aber irgendwann gewöhnt man sich dran …), und solche Dinge verhindern schlussendlich eine höhere Wertung. Aber das sind alles irgendwie Kleinigkeiten, nach der Sichtung bleibt die Erinnerung an einen fetzigen und starken Gangsterfilm im Kopf, den man sich ruhig öfters einmal geben kann.
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Mabel’s blunder (Mabel Normand, 1914) - Mabel Normand, Charley Chase, Harry McCoy
Unaufregende und nette Komödie, die mit einfachem Slapstick und einer zuckersüßen Mabel Normand punkten möchte. Mabel ist Sekretärin in einem Büro und mit dem Sohn des Chefs verlobt. Der Chef hat allerdings auch ein ernsthaftes Auge auf sie geworfen und will sie bei jeder Gelegenheit rumkriegen. Als eines Tages eine wildfremde Frau in das Büro des Juniorchefs rauscht und mit diesem in nächster Nähe poussiert und kuschelt wird Mabel hochgradig eifersüchtig. Ihr Bruder und sie wechseln die Kleidung, sie chauffiert als Mann den Verlobten mitsamt fremder Frau zu einer Party um herauszukriegen was dort läuft, während der Chef mit dem als Frau verkleideten Bruder flirtet und ebenfalls zu der Party fährt. Das Ergebnis ist, natürlich, ein heilloses Durcheinander. Slapstick pur …

Die Auflösung ist aus heutiger Sicht natürlich von vornherein klar, und so richtig spannend ist das alles nicht. Eine harmlose Komödie eben, aber Mabel Normand, in Personalunion als Hauptdarstellerin und Regisseurin unterwegs und nach weit über 100 Filmen sichtlich erfahren in der Selbstdarstellung, ist halt eine richtig süße Zuckerschnute, der man selbst bei solchen Filmchen ewig zuschauen könnte. Aber eigentlich wäre MABEL’S BLUNDER ein Fall für die alte TV-Serie Väter der Klamotte, wenn es die noch gäbe…


A caught in a cabaret (Mabel Normand, 1914) - Charles Chaplin, Mabel Normand, Harry McCoy, Chester Conklin, Edgar Kennedy
Charly arbeitet als Kellner in einer Kneipe, und als er einmal frei hat und eigentlich im Park vor den jungen Damen renommiert, rettet er Mabel vor einer versuchten Vergewaltigung. Mabel ist natürlich begeistert und nimmt ihn mit zu ihren bessergestellten Freunden, bei denen er sich als Botschafter von Grönland einführt, sich hemmungslos besäuft und Mabel immer wieder zum Lachen bringt. Dadurch sticht er einen anderen Mann aus, der ihn daraufhin verfolgt und so herausfindet, dass Charlie in Wirklichkeit eben kein Botschafter ist, sondern nur ein kleiner Kellner. Und der beste Weg, um selber wieder bei Mabel landen zu können, scheint zu sein, dass die ganze gutsituierte Mischpoke in den Bums gebracht, um Charlie zu demaskieren.

Eine eher unlustige Komödie, die oft etwas planlos wirkt und keinen wirklichen roten Faden verfolgt. Charly Chaplin gibt seine Figur als Tramp, wobei er aber oft recht ruppig wirkt. Sehr ernsthafte körperliche Auseinandersetzungen sind hier eh an der Tagesordnung – Habe ich CAUGHT IN A CABARET vielleicht als frühen Actionfilm missverstanden? Die Prügelei mit dem Vergewaltiger ist etwas zu lang und ausgesprochen hart, und auch die Auseinandersetzungen zwischen den Kellnern in der Kneipe sind eher derb als lustig.
Nein, so richtig überzeugt hat mich das nicht. Chaplin ist nicht wirklich komisch, Zuckerschnute Mabel Normand ist hübsch anzuschauen, und was das Ende mit dem Grobian in der Gaststätte soll, das muss mir mal jemand erklären. Aber immerhin ist der Running Gag mit der Schwingtür zwischen Kneipe und Küche sehr lustig. Man merkt einfach deutlich, dass die Keystone Produktionen immer schnell schnell schnell hergestellt wurden, und Sorgfalt beim Dreh eher nicht so berücksichtigt wurde. Auf der anderen Seite stimmt die Chemie zwischen den häufigen Partnern Normand und Chaplin, die aber zu wenig gemeinsame Szenen haben um hier wirklich noch die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Insgesamt eine eher maue Angelegenheit ohne rechten Biss …


Matrimony’s speed limit (Alice Guy-Blaché, 1913) - Fraunie Fraunholz, Marian Swayne
Fraunie hat sich verspekuliert und ist pleite, weswegen er seine Verlobte Marian jetzt nicht mehr heiraten mag. Ihr Geld will er aber auch nicht annehmen, eigentlich will er nur noch leiden. Also setzt Marian ein gefälschtes Telegramm auf, in dem Fraunie über eine riesige Erbschaft seiner toten Tante aus dem mittleren Westen aufgeklärt wird. Einzige Bedingung: Um das Geld zu erhalten muss er heute bis 12 Uhr heiraten. Das sind noch 12 Minuten! Also rennt Fraunie wie ein Verrückter herum und fragt jede Frau, die ihm über den Weg läuft, ob sie ihn heiraten will, derweil Marian wiederum Fraunie sucht, ihn aber nicht findet. Noch 8 Minuten …

Ein hohes Tempo, aber nicht zu hoch. Herrlich überkandidelte Schauspieler, aber immer mit den Füßen auf dem Boden der Tatsachen. Eine knackige und abgedrehte Grundidee, keinerlei Nebenhandlungen oder unpassende Ideen, alles straight forward erzählt, und fertig ist eine Komödie, die auch über 100 Jahren nach ihrer Entstehung noch richtig zündet. Ausgesprochen komisch das ganze, wenngleich der ein oder andere Gag leider nicht genutzt wird …


The ocean waif (Alice Guy-Blaché, 1916) - Carlyle Blackwell, Doris Kenyon, Edgar Norton, Fraunie Fraunholz, William Norris
Millie Jessop ist eine Ocean Waif, eine Waise des Meeres – Als Kind wurde sie von ihrem Ziehvater am Strand gefunden und verrichtet seitdem Frondienste für ihn. Bis es ihr als junge Frau irgendwann reicht, sie davon läuft und sich in einem leeren Haus einquartiert. Just zu dieser Zeit sucht der Schriftsteller Ronald Roberts einen Platz, an dem er ungestört sein neues Buch schreiben kann, und er findet – Das leere Haus, in dem heimlich Millie lebt. Das Haus aber hat den Ruf, dass dort der Geist einer toten Frau lebt …

Leider existiert THE OCEAN WAIF nur noch in einer sehr schlecht erhaltenen Fassung. Viele Zwischentitel müssen verloren gegangene Filmteile erklären, von manchen Abläufen existieren nur noch Standbilder, und einiges ist im Lauf der Jahrzehnte gar vollends verloren gegangen. Was für ein Jammer, denn das, was noch vorhanden ist, ist eine klassische RomCom wie sie heute nicht moderner sein könnte: Der reiche Schriftsteller der sich in eine arme Waise verliebt, dann aber wegen seiner Verlobten einen Rückzieher macht (machen muss), doch als die Waise fast einer Vergewaltigung zum Opfer fällt und eine Leiche zurückbleibt, da entflammt auch seine Leidenschaft für das arme Mädchen wieder.
Das ist der Stoff aus dem die romantischen Dramen von Hedwig Courths-Mahler bis Diana Gabaldon sind, und THE OCEAN WAIF macht als Drama mit leicht komödiantischem Einschlag auch heute noch mächtig was her. Die Personen sind sympathisch, und vor allem der armen Mille als geknechteter Tochter fliegen die Herzen nur so zu. Wobei sie bemerkenswerterweise als unabhängige und starke Frau gezeigt wird, die durchaus bereit ist, gegen alle Widerstände ihren eigenen Weg zu gehen. Barfuß! Eine Lebenseinstellung, die im Jahr 1916 so wohl nur von einer feministisch orientierten Regisseurin wie Alice Guy-Blaché kommen kann.

Aber diese Tendenzen sind nur schwach vorhanden und werden eher von Cineasten bemerkt, in erster Linie ist der Film romantisch, komisch, spannend, und einfach nur wunderschön. Wenn Millie im Dunkeln in das leere Haus eindringt und das Bild blau viragiert ist, dann kommt schnell gediegene Gruselstimmung auf. Sie findet eine Lampe, zündet diese an, und schwupps ist das Bild rötlich viragiert und Wärme durchflutet die Szenerie. Toll gefilmt, klasse gespielt, und einfach ein wunderbarer kleiner Film …
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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