Produktionsland: Frankreich 1924
Regie: Abel Gance
Darsteller: Max Linder, Jean Toulout, Gina Palerme, Gaston Modot
Dass AU SECOURS! ein Max-Linder-Vehikel ist, erkennt man daran, dass die Handlung dieses etwa halbstündigen Vergnügens sich zu keinem Zeitpunkt auch nur ansatzweise selbst ernstnimmt: Nachdem Max mit seiner besseren Hälfte Renée die Ferien am Meer verbracht hat, kehrt er in seinen Gesellschaftsclub zurück, wo er sich lange nicht hat blicken lassen. Ein Gespenst geht dort um – und zwar das, das angeblich im Anwesen des Clubmitglieds Comte de Mornay spuken soll, und über das die wohlsituierten Männer mit der Begeisterung von Halbwüchsigen gar nicht aufhören können zu disputieren. Bereits mehrmals hat der Graf anderen Clubmitgliedern vorgeschlagen, eine Nacht in seinem Schlösschen zu verbringen – und zwar erneut in Gestalt einer Wette: Wer von elf bis Mitternacht durchhält, dem winkt ein Batzen Geld; wer zuvor eine Alarmklingel betätigt, und um externe Hilfe ruft („Au secours! Au secours!“), der muss wiederum den fraglichen Betrag an den Herrn von Mornay auszahlen. Natürlich wirft Max – trotz der grausigen Berichte seiner Freunde, die das Abenteuer bereits in den Sand gesetzt haben – sofort mehrere Augen auf den in Aussicht stehenden Gewinn, und zögert nicht, in die Hand einzuschlagen, die der Comte ihm hinhält. Kein Teufel, keine Hölle kann unseren Helden schrecken, und er installiert sich beim elften Glockenschlag in dem geräumigen, verlassen, schlagschattenvollen Gemäuer, um der Dinge zu harren, die da kommen mögen.
Dass AU SECOURS! ein Film von Abel Gance, erkennt man daran, dass das, was das kommt, gespickt ist mit einem Arsenal an Spezialeffekten und kreativer Purzelbäume, die zur gleichen Zeit in dieser Dichte höchstens noch in anderen Gance-Filmen auftreten, (von denen sein NAPOLÉON nicht umsonst gerne einmal ein Katalog an allen Ende der 20er verfügbaren Filmtricks bezeichnet wird, und diesem Katalog wohlbemerkt noch einige weitere zukunftsweisende Innovationen hinzufügt). Während Linder mit den unfassbarsten Wesen und Dingen konfrontiert wird – Hyänen, Alligatoren, Löwen sind da noch das Alltäglichste neben Schreckgespenstern, die bis zur Saaldecke reichen, afrikanischen Fetischen, die eigenmächtig durch die Gegend sausen, tanzenden Skeletten oder Männern, die Max mit ihren eigenen Extremitäten bewerfen –, geht die Mise en Scène eine fruchtbare Liaison mit der Diegese ein, und wirft selbst so ziemlich jede Konvention über Bord: Knochenmänner werden per Doppelbelichtung ins Bild eingefügt; eine rapide Montage reiht unterschiedliche Fratzen zumeist exotischer Statuen derart atemlos aneinander, als handle es sich um eine einzige mit tausend Gesichtern; zuweilen greift der Spuk gar aufs Filmmaterial selbst über: Einmal verwendet Gance Negativbilder mit umgekehrten Farbtonwerten; dann wieder, als Max an einem Kronleuchter zappelt, scheint das Filmband sich zu wellen, zu verbiegen, und beinahe unter dem Tohuwabohu, das es darstellen muss, zu kollabieren.
Am Ende folgt dann freilich eine Auflösung, die zugleich hanebüchen und sympathisch ist: Ein paar Minuten trennen Max, der sich inzwischen erfolgreich gegen giftige Schlangen, gegen die Beile von Scharfrichtern und ihn foppende Kammerdienerstatuetten zur Wehr gesetzt hat, noch vom zwölften Uhrschlag und dem erhofften Geldsegen, da schellt ein Telefonapparat im Schlosssalon. Am anderen Ende: Renée, und der geht es gar nicht gut, denn ein Monstrum, das aussieht, als könne es problemlos auch 30 Jahre später einen lukrativen Job in einem mexikanischen B-Horror gefunden haben, steht vor ihrem Bett, und droht, sie zu vergewaltigen. Selbstverständlich drückt Max den Alarmknopf („Au secours! Au secours!“, lese ich ihm von den Lippen ab), und sogleich lugt unter dem Ungeheuer der Comte de Mornay hervor, und haut den wahnwitzigsten Plot-Twist jenseits eines beliebigen Giallos heraus: Sein Schloss habe er geerbt, nur finde er keinen geeigneten Käufer, und bewirtschaften, das lohne sich nicht. Also was tun, um die Unterhaltungskosten zu decken? Klar, eine Bande Schauspieler engagieren, und für arglose Geldgeier wie Max eine Geisterbahnschau abziehen, um bei einer forcierten Wette den Gewinn einzustreichen. Das ganze Theater sei zwar nicht billig, und logistisch aufwändig, aber der ökonomische Mehrwert, den er jedes Mal heimbringe, wenn sein Kontrahent den Kürzeren ziehe, würde die Mühen dann doch lohnen.
Mit einem Max, der die Charade mit Humor nimmt, und über sich selbst lachen kann, entlässt uns daraufhin ein Film in den Abspann, der nahezu genial auf zwei Stühlen balanciert: Zum einen ist AU SECOURS! ein überdrehtes Slapstick-Spektakel, in dem unser schlaksiger Held von einer comichaften Situation in die nächste gerät, als müssten die kruden Einfälle von gleich mehreren schrillen Farcen in einer einzigen vereint werden; zum andern ist AU SECOURS! ein beredtes Zeugnis davon, was für ein Filmverrückter Abel Gance gewesen sein muss, und mit welcher Meisterhand er Effekte dirigierte, die im Jahre 1924 nun wirklich nicht zum Standardrepertoire der Filmkunst gehört haben: Hinsichtlich der Avantgarde-Sensibilitäten steht AU SECOURS! Geniestreichen wie J’ACCUSE oder LA ROUE jedenfalls in keiner Sekunde nach, übertrumpft sie vielleicht in dieser Hinsicht noch, da die einfältige Handlung ihnen (im Gegensatz den komplexen Drehbüchern seiner früheren Epen) zu keinem Zeitpunkt der Entfaltung der technischen Revolution im Weg steht.
Dabei finde ich es besonders erstaunlich, dass AU SECOURS! dreierlei vermag – und zwar oftmals in ein und derselben Szene: Mich auf eine bekloppte Art und Weise zu belustigen; mir die Kinnlade nach unten zu schicken, weil ich die Quantität und Qualität an Spezialtricks kaum fassen mag; und, nicht zuletzt, mir einen Schauer über den Rücken zu jagen angesichts der wirklich angsteinflößenden, monströsen Bildern, die Gance sich aus dem Ärmel schüttelt, als seien es Spielkarten: Allein diese Maskenschau, aneinander montiert von einem Maschinengewehr, oder das Gespenst auf Stelzen, wie es über dem ungläubig guckenden Max umherstakst, oder der Comte in seinem Kostüm eines sexgeilen Ogers, wie er am Bett der züchtigen Renée lüstert. AU SECOURS! ist nicht nur eine der besten Slapstick-Komödien, die ich jemals gesehen habe, sondern zudem eines der unterhaltsamsten Experimente des frühen Films, und, quasi nebenbei, neben Werken wie HÄXAN, NOSFERATU oder L’INFERNO einer dieser Filme der Stummfilmzeit, bei denen ich keine Sekunde zögere, das Etikett Horror in großen Lettern anzubringen. Pflichtprogramm!