Bildbuch - Jean-Luc Godard (2018)

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Salvatore Baccaro
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Bildbuch - Jean-Luc Godard (2018)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Le livre d'image

Produktionsland: Frankreich 2018

Regie: Jean-Luc Godard

Darsteller: Alles & Jeder; ich & Du
Am 28. September 2018 schreibt IMDB-User „doctorshahraam“ unter der Headline „The worse ever“ zu Jean-Luc Godards LE LIVRE D’IMAGE: „I watch 3-5 movies a week but by far most in the last decades The Artist and this movie were the worse of all time! I am wondering who really think this should even screened in festival. Waste of time and money completely! I am extremely disappointed.”

Ein Symbol der Nouvelle Vague, die Godard maßgeblich mitgeprägt hat: Der Flipper-Automat, fiependes, plärrendes, klimperndes Ding in den hinteren Winkeln von Boheme-Bars, wo die jungen Leute sich scharen, um miteinander zu balzen, zu philosophieren oder sich die neusten Kinofilme nachzuerzählen. Wenn es überhaupt eine Metapher gibt, die Filme (sind das überhaupt noch „Filme“!?) zu beschreiben, mit denen Godard seit spätestens der 2000er, (aber grundgenommen eigentlich schon seit den 90er, den 80er, den 70er, den 60er) Jahren in Erscheinung tritt, dann ist es vielleicht diese: Da steht nicht nur ein Flipperautomat, sondern es ist ein Pulk von ihnen, und an jedem wird leidenschaftlich gezockt, sodass etliche Kugelstöße, elektronischen Signale und jubelnde oder wütende Schreie der Spielenden sowie die anfeuernden oder neckenden der Zuschauenden durcheinanderpurzeln, und wenn alle Automaten zusammen für einen kurzen Moment in harmonischer Kongruenz erklingen, guckt man nur solange verdutzt bis das Klangchaos von Neuem beginnt.

Einige Vorbemerkungen: 1. Godard ist, als er LE LIVRE D’IMAGE kompiliert, 87 Jahre alt; seinen ersten Kurzfilm dreht er 1955: Das sind bald 65 Jahre Filmgeschichte, sage ich mir selbst mana-haft (manisch?) immer wieder. 2. Wahlweise kann man den Moment, als Godard endgültig aufhört, unterhaltsame Filme für ein unterhalten werden wollendes Publikum zu inszenieren, im Jahre 1968 ansetzen, (als er mit WEEKEND das Ende des Kinos erklärt, und sich für Jahre ins maoistische Guerilla-Filmemachen verabschiedet), oder aber irgendwann in den 90ern, (als er nach einer Phase, in der er zumindest an der Oberfläche mit namhaften Schauspielern für namhafte Produzenten halbwegs narrative Filme gedreht hat, erneut, jedoch wesentlich weniger mit Pauken und Trompeten, seinen Hut nimmt, und sich in die innere Emigration seines eigenen Kosmos aus Bildern, Tönen und Texten zurückzieht), oder aber man gesteht sich ein, dass selbst Godards heute noch unterhaltsam wirkende Filme in genau dieser Hinsicht „Ausrutscher“ gewesen sind: Dass LE MÉPRIS das ergreifendste Melodrama um Liebe, Tod, Kino ist, das ich kenne, liegt letztlich vielleicht allein darin begründet, dass Godard die komplette Dekonstruktion eines ergreifenden Melodramas um Liebe, Tod, Kino in Sinn und Cinemascope hatte.

Suchspiele: In jeder Szene von LA CHINOISE sind die französischen Nationalfarben Blau, Rot, Weiß versteckt. Wenn die blaue Farbe fehlt, und nur Rot und Weiß zu erkennen sind, dann muss man um die Ecke denken. Ah, da liegt ja ein Novalis-Bändchen. Die Blaue Blume der Romantik, alles klar. Danke Dir, Lars.

Was auf der Bildebene geschieht: Ein Konvolut aus Szenen der Filmgeschichten; Iphone-Aufnahmen und welche von Überwachungskameras; ISIS-Terror-Bilder und welche, die Godard mit seinem Kameramann Fabrice Aragno in Tunesien geschossen hat; Gemälde, Photographien, Godards Hände, wie sie damit beschäftigt sind, am Schneidetisch zwei 35mm-Streifen zusammenzufügen. Verstörende Korrelationen: In einem alten Schwarzweißfilm schmeißen sie die Erschossenen mit den gleichen Gesten ins Meer wie islamische Terroristen das mit ihren Opfern im digitalen Zeitalter tun. Eine endlose Abfolge von Zügen, quer durch die Filmhistorie, nur um am Ende bei einem anzugelangen, die geradewegs nach Auschwitz führt. Pinhead aus Tod Brownings FREAKS amüsiert sich köstlich über einen Rim Job aus irgendeinem Porno. Die Grundregeln der Montage. Kuleschow-Effekt. Zeitlupe, Zeitraffer. Digitale Verfremdung: Die Aufnahmen aus Tunesien schauen paradiesisch aus mit ihren gesättigten, fast dreidimensionalen Farben; manche found-footage-Szene wurde derart entsättigt, dass man Mühe hat, in den wandelnden Schatten noch Menschen zu identifizieren.

Einige Vorbemerkungen: 3. Seit Jahren finden Godards Filme im Grunde nur noch für Filmkritiker und Festivalbesucher statt: Kein Verleiher, keine nennenswerten öffentlichen Vorführungen; es gleicht einem Wunder, dass ich LE LIVRE D’IMAGE auf der großen Leinwand habe sehen können. 4. Godard macht Filme seit Jahren nur noch für sich selbst; mehr mit dem Rücken zu einem etwaigen Publikum stehen kann man doch eigentlich nicht; im Alter wird der Mann nicht milder, sondern wilder. 5. Godards Filme sind seit Jahren uferlose Archive an Bildern, Tönen, Texten, in denen sich höchstens ihr Schöpfer noch halbwegs zurechtfindet; Polyphonien, die man auch als Demokratien bezeichnen könnte, die derart heftig ausagiert werden, dass am Ende alles in einem Malstrom aus überorchestrierten Stimmen, Ideen, audiovisuellen Ikonen unterzugehen droht, (und die Demokratie dadurch ad absurdum geführt wird).

Was auf der Tonebene geschieht: Ein Konvolut aus Stimmen, allen voran Godards eigene, die die deutsche Synchronfassung selbst eingesprochen hat: „Die fünf Finger einer Hand“; „Die fünf Erdteile“, „Die fünf Sinne“; „Mit den Händen denken ist die wahre Bestimmung des Menschen.“ Wo ein Zitat anfängt und Godards eigene Stellungnahme aufhört, kann ich nicht entscheiden. Alles könnte Zitat sein, und deshalb nichts. Wo die Provokation anfängt und die Meditation aufhört, ist genauso unersichtlich. Andauernd brechen klassische Musikstücke in der Mitte entzwei; die Leinwand wird dunkel, obwohl die Helden irgendeines Hollywood-Films noch weiter sprechen; plötzlich gackert eine Ente; Godards gebrochene, leise Stimme rückt nach rechts, links ertönt die seiner langjährigen Lebensgefährtin Anne-Marie Miéville, oder die von irgendwem anders, und dann noch eine, und noch eine: Man versteht sein eigenes Wort kaum mehr.

Suchspiele II: Jean Marais als Bestie in Jean Cocteaus LA BELLE ET LA BÊTE erkenne ich sofort. Auch mit Nicholas Rays JOHNNY GUITAR habe ich kein Problem. Spielbergs JAWS springt mir regelrecht ins Gesicht, und Dreyers LA PASSION DE JEANNE D’ARC hat sich meiner Netzhaut eingebrannt. Aber: Das Kaninchen, das in Zeitlupe stirbt, ist das nun aus Bressons MOUCHETTE oder Renoirs LA RÈGLE DU JEU? Eine Autoverfolgungsjagd: DR. MABUSE, oder? Ach ja, das ist Siegfried aus Langs NIBELUNGEN, und das ist etwas von Godard, nur welcher von den einhundert? Hat er wirklich Szenen aus Gus van Sants ELEPHANT und Abderrahmane Sissakos TIMBUKTU recycelt? Krass.

Einige Vorbemerkungen: 6. Ich lerne Godard im Nachtfernsehen der Öffentlich-Rechtlichen kurz nach der Jahrtausendwende kennen: BANDE À PART, À BOUT DE SOUFFLE, LES CARABINIERS; seitdem habe ich mir alles von ihm angeschaut, was kurios ist, denn 80 Prozent scheint mir, objektiv betrachtet, anstrengend, intellektuell nicht nur überfordernd, sondern entwaffnend, sperrig im schlimmsten Sinne, jedoch allerdings, subjektiv betrachtet, wie ein Kaugummi, dem noch nach Stunden des Kauens neue Nuancen abgetrotzt werden können.

Die IMDB schlägt als Genre für LE LIVRE D’IMAGE „Drama/Horror“ vor. Das stimmt. Es dominieren die düsteren Töne. Eine Überwachungskamera zuckt aufgrund der Detonationen einer unsichtbaren Bombe. In irgendeinem Krieg baumeln die Getöteten reihenweise an den Galgen. Es ist, als seien Kino-Gräuel und die Gräuel der außerfilmischen Wirklichkeit kaum noch voneinander zu trennen. Kreuzritter marschieren gen Jerusalem, und IS-Jeeps rasen durch die Wüste. Dennoch funkelt am Ende dieses Parforce-Ritts durch inszenierte und reelle Grausamkeiten, durch A-Tonalitäten und weit ausholendenden Dekonstruktionen, durch ein Jahrtausend Mediengeschichte unter dem Zeichen von Liebe, Tod, Kino ein fast schon verspielter, augenzwinkernder, selbstironischer Optimismus. Nach dem Abspann quasseln Godards mehrspurige Stimmen einfach weiter – solange jedenfalls bis jede von ihnen in einem erstickten Husten mündet; die Stimme bricht, die Leinwand bleibt schwarz. Dann aber: Die Tanzszene aus Max Ophüls PLÄSIER: Tanzen bis zur Erschöpfung, bis zum Tod; ein Ringelpiez bis zur Ohnmacht; so, als würde der Projektor seinen Geist aufgeben oder der Film reißen, lachend, oder, wenigstens, grinsend.

Am 21. Dezember 2018 schreibt IMDB-User „astghik_ghazaryan21“ unter der Headline „The best film I have ever seen” zu Jean-Luc Godards LE LIVRE D’IMAGE: „This film is not for everybody, so if you dislike it, it's okay. But for me, this is really the best film I have ever seen. And I've seen Felini, Tarkovsky, Antonioni, Bertolucci, Haneke and many other great filmmakers. But GODARD IS THE GOD OF MONTAGE. Sometimes I even forget that he's 88 years old. I just can't imagine how the hell he does these kind of things at his age. This is my first review in Imdb. I just got registered, so I can write a review on this film, because everybody was complaining about how bad it was. I just realized I don't even have words to review. Sorry. This is it. At least I can tell you that you need to watch this before you die.”
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Arkadin
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Re: Bildbuch - Jean-Luc Godard (2018)

Beitrag von Arkadin »

Der lief bei uns auch im Kommunalkino. Habe es aber leider nicht reingeschafft. Ich habe hier auch noch "Film socialisme" liegen und noch nicht rangetraut. Dazu muss man auch in der richtigen Stimmung sein, sonst ist man - glaube ich -vor allem frustriert.
Früher war mehr Lametta
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Weird Xperience
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Salvatore Baccaro
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Re: Bildbuch - Jean-Luc Godard (2018)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Arkadin hat geschrieben:Dazu muss man auch in der richtigen Stimmung sein, sonst ist man - glaube ich -vor allem frustriert.
Ganz sicher, und dass nicht wenige Leute während meiner Vorstellung den Saal verließen, spricht wohl ebenso Bände wie die beiden von mir zitierten IMDB-Kritiken: Dass ein Film derart polarisiert, ist wohl wirklich selten. Sagen wir so: Es ist eine wahrliche Weird Xperience... *hint* *hint* *hint* ;)
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Salvatore Baccaro
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Re: Bildbuch - Jean-Luc Godard (2018)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Aus gegebenem Anlass gibt's Godards finalen Mind- und Eye-Fuck derzeit noch einmal auf Arte gemeinfrei zum Streamen:

https://www.ardmediathek.de/video/arte/ ... NC0wMDAtQQ
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