Originaltitel: Climax
Produktionsland: Frankreich 2018
Regie: Gaspar Noé
Darsteller: Sofia Boutella, Romain Guillermic, Souheila Yacoub, Kiddy Smile, Giselle Palmer
Einige kurze Notizen, die ich mir nach meiner Sichtung von Gaspar Noés neuem Film CLIMAX im Zug von Hannover nach Braunschweig gemacht habe:
2. Was ich am meisten an Gaspar Noé bewundere, ist, wie sehr sich in jedem seiner Filme Form und Inhalt derart gegenseitig bedingen, dass man gar nicht zu unterscheiden weiß, ob denn nun der Inhalt die Form vorgibt, oder ob die Form zuerst da ist, und gewaltsam einen ganz bestimmten Inhalt fordert. Noé ist möglicherweise der konsequenteste Formalist des zeitgenössischen Kinos. Seine Filme sind streng durchorchestriert, mit fast schon mathematischer Präzision. Weder dreht Noé Filme, deren Plot so zentral ist, dass die Inszenierung zweitklassig, sprich, eine von der Stange wird, noch sind seine Filme reine Formexperimente, die sich kaum oder gar nicht für ihre Figuren, deren Schicksale und die Handlungen, in die sie verstrickt sind, interessieren. Noé schafft es, mich emotional ungemein zu engagieren, obwohl seine Filme, wenn man sie mal auf ihre reine Struktur runterbricht, aussehen wie nüchtern kalkulierte Bauhaus-Skizzen. Dass sie mich derart emotional engagieren, hat aber gerade mit dieser nüchtern kalkulierten Struktur zu tun, bei der kein Schnitt, keine Kamerabewegung, keine Großaufnahme, kein Zwischentitel, kein Soundeffekt willkürlich ist, sondern ein Partikel in einem hochkomplexen System, in dem sämtliche Rädchen ineinandergreifen, um auf Rezipienten-Seite das größtmögliche Affizierungspotential freizusetzen. CLIMAX ist darin keine Ausnahme.
3. Müsste ich die Struktur von CLIMAX beschreiben, würde ich sie als Abfolge von Solo-Stücken, Duetten und dem zunehmend kakophonisch werdenden Zusammenspiel des vollen Orchesters bezeichnen. Nach den Solo-Einlagen in Gestalt der Casting-Sequenzen zu Beginn, bei denen die Figuren stets alleine frontal vor der Kamera sitzen, wechselt der Film zum ersten Orchestereinsatz, wenn wir einer Tanzprobe der Künstlertruppe in einem entlegenen (ehemaligen?) Schulgebäude beiwohnen. In einer etwa zwanzigminütigen Plansequenz ohne (sichtbare) Schnitte dreht Noé nichts weniger als die möglicherweise atemberaubendste Tanzszene der Filmgeschichte. Nicht nur, dass die Kamera quasi selbst zum Tänzer wird, eine Figur umkreist, becirct, sich dann abrupt von ihr ab-, und einer anderen zuwendet, hat mich zutiefst beeindruckt, sondern vor allem: Nachdem die Tanzprobe zu Ende ist, hört die Sequenz noch immer nicht auf; stattdessen tanzen manche der Figuren weiter, andere unterhalten sich, bedienen sich bei Buffet und Sangria-Bowle, während überlauter 90er-Techno die Halle erfüllt, kurzum: Handlungsszenen und Tanzszenen verwischen in einer zugleich epischen und beiläufigen Choreographie vollkommen ineinander, während die von Noé geführte Handkamera durch dieses Panorama an Storyfragmenten und sich verausgabenden Körper freimütig umherschwirrt, mal diesen Dialog belauscht, dann wieder dieser Person durch den Raum folgt, sich an dieser Tanzeinlage festbeißt, verdächtig oft rüber zum Gefäß mit dem Sangria linst. Danach sind die Duette an der Reihe, erneut frontal gefilmte Zwiegespräche zwischen immer zwei Figuren, bei denen nie klar wird, wo genau im Raum sich diese aufhalten: Zwei Typen ergehen sich in sexistischsten Phantasien darüber, welche Kollegin sie anal beglücken wollen – zur Not wider ihren Willen. Zwei Damen scheinen vor den Trümmern ihrer gemeinsamen Liebesbeziehung zu stehen. Eine Tänzerin bringt ihren kleinen Sohn zu Bett. Der DJ und ein homosexueller Jüngling unterhalten sich über dessen noch nicht stattgefundenen Jungfräulichkeitsverlust. Zwei andere Frauen debattieren die Problematik des Schwangerschaftsabbruchs. Konflikte werden angerissen, Tiefenschichten freigelegt. Auf jeden Fall haben die intimen Duette nichts mit der oberflächlichen Freundlichkeit zu tun, mit denen die Tanzgruppenmitglieder sich nach erledigter Probe gegenseitig die Komplimente wie besonders zähen Honig um die Münder geschmiert haben. Der Vorspann des Films läuft erst nach einer weiteren Reihe Soloeinlage ab: Aus der Vogelperspektive gefilmt, darf jeder Tänzer, jede Tänzerin zeigen, was sie kann. Als sich herausstellt, dass irgendwer Drogen in den Sangria gemischt haben muss, sich die ersten (Wahn-)Visionen einstellen, und eifrig nach Sündenböcken gesucht wird, denen man den Kollaps der Party in die Schuhe schieben kann, spielt das Orchester auf wie ein explodierendes Schachspiel: Während Noés Kamera eine Dreiviertelstunde lang scheinbar schnittlos abwechselnd unterschiedlichen Protagonisten an den Fersen klebt, von der Halle in die hinteren Schlafräume des Schulgebäudes und wieder zurück gleitet, sich auf diesen Konflikt einschießt, und einen anderen ausspart, und dabei kontinuierlich die immer besessener und psychotischer werdenden Tanzexzesse wie hypnotisiert anstarrt, verwandelt sich der zuvor symphonische Gleichklang der involvierten Individuen in ein eskalierendes Chaos, an dessen Ende unsere Helden und Heldinnen erneut als Solisten vorgeführt werden, von denen einige nicht mehr am Leben sind, andere zumindest in einem erbarmenswerten Zustand, nur die wenigsten (sexuell) beglückt.
4. Noé ist vielleicht der einzige Regisseur, dem ich es nachsehen kann, dass er offensiv die ikonischste Szene meines absoluten Lieblingsfilm zitiert: Isabelle Adjani in der Berliner U-Bahn, wie sie, laut Zulawskis eigenen Worten, die Luft fickt. Natürlich erreicht Sofia Boutella in CLIMAX nicht ansatzweise die Intensität dieses delirierendsten Moments der Filmgeschichte. Intensiv ist sie aber, keine Frage, trotzdem – und, was zu ihrer Existenzberechtigung beiträgt, fundamental anders gefilmt als ihre Referenz in POSSESSION: Obwohl Zulawski in seinem Meisterwerk ebenfalls vorzugsweise mit Handkamera arbeitet, gerade, wenn es ans Eingemachte geht, schneidet er oft und gerne, wechselt unvermittelt zu Großaufnahmen, lässt Kamerabewegungen über Schnitte hinweg sich vollziehen. Noé demgegenüber scheint Godards Diktum, jeder Schnitt sei eine Lüge, schon seit CARNE, schon seit SEUL CONTRE TOUS, derart verinnerlicht zu haben, dass er seine Filme entweder, wie IRREVERSIBLE oder ENTER THE VOID, so ausschauen lässt, als seien sie eine einzige kontinuierliche Kamerafahrt, oder aber seine Schnitte, wie in LOVE, eindeutig als Interventionen in die Handlungskontinuität markiert – sei es durch Schwarzblenden, sei es durch Soundeffekte. CLIMAX vereint beide Herangehensweise an das „Problem“, dass das filmische Medium zwangsläufig mit montagemotivierten Diskontinuitäten arbeitet: Jeder Schnitt in diesem Film verdient einen solchen Namen auch. Es sind Risse im Gewebe, gewaltsame jump-cuts, die die Handlung nicht, wie im klassischen Hollywood, mit unsichtbarer Hand zusammenkitten, sondern sie brutal aufbrechen. Demgegenüber stehen Kamera-Choreographien, bei denen ich gar nicht wissen möchte, wie viele Takes notwendig gewesen sind, um sie derart perfekt in den Kasten zu bekommen. Die Mixtur aus beidem – sich als Inszenierungen enthüllende Inszenierungen und quasi in Echtzeit stattfindende Studien des um sich greifenden Purgatoriums – evoziert letztlich das ungemeine emotionale Engagement, gegen das zumindest ich mich bei den Filmen Noés genauso wenig wehren kann wie bei denen Zulawskis.
5. Dass Noé Geschichten erzählt, geht, glaube ich, immer ein bisschen unter. Das liegt wohl daran, dass die Geschichten regelrecht verwoben mit der Form sind, in der sie erzählt werden. Sicherlich kann man CLIMAX, was seinen puren Plot betrifft, in dem schalen Satz zusammenfassen: Irgendwelche exzentrischen Tänzer und Tänzerinnen feiern eine Techno-Party, bekommen LSD verabreicht, und drehen völlig ab. Wer CLIMAX nur darauf reduziert, der wird dem Film wenig bis nichts abgewinnen kann. Dass Noés technisch-ästhetischen Handschriftzeichen wie, was CLIMAX betrifft, eine in den letzten zehn Minuten im wahrsten Wortsinne kopfstehende Kamera, grelle Farb- und Toneffekte, explizite Darstellungen menschlicher Körperlichkeit, bloße Gimmicks seien, darauf aus, das Publikum zu provozieren, zu überfordern, zu verstören, ist ein weiterer Vorwurf, den ich immer wieder lese und höre. Sicherlich kann man auch CLIMAX vorwerfen, dass Noé sein wildes Kamerafuchteln, seinen Fokus für die eher abseitigen Seiten der menschlichen Existenz, seinen plakativen Soundtrack als reine Sensationswerte ins Spiel bringt, um ein Mainstream-Publikum schachmatt zu setzen, sprich, aus dem Kino zu scheuchen. Wer CLIMAX aber nur darauf reduziert, verkennt, dass beides, technisch-ästhetische Faktoren sowie die Handlung mit all ihren philosophischen, politischen, gesellschaftskritischen Implikationen nicht zwei Seiten derselben Medaille sind, sondern ein und dieselbe Medaille, deren beide Hälften untrennbar aneinanderkleben.
6. Bataille ist das Stichwort. Ich hätte natürlich auch irgendeinen beliebig anderen Titel der Filme und Bücher zum Stichwort ummünzen können. Aber mit Bataille habe ich mich die letzten Jahre immer mal wieder ausführlich beschäftigt. Außerdem ist er wohl derjenige der von Noé aufgeführten Autoren, deren literarisches und theoretisches Werk sich am leichtesten mit CLIMAX kurzschließen lässt. Geboren 1897, gestorben 1962. Hauptberuflich Bibliothekar und Archivar. Quasi nebenbei schreibt er eins der eigenwilligsten Werke der französischen Literaturgeschichte. Sexualität, Tod, mystische Erfahrung, transzendentaler Rausch. Wir sind alle diskontinuierliche Wesen per se, schreibt er in „Die Erotik“, und allein eine Kontinuität zu unserer Umwelt herstellen können transgressive Momente wie Orgasmen, Tod, oder aber auch das Betrachten von Gewalt und Grausamkeit, die an Menschen vollzogen werden, die nicht wir selber sind. Opferriten, Initiationsriten, Gegenentwürfe zur kapitalistischen Akkumulationsgesellschaft unter dem Banner eines Lobes der Verschwendung. In den archaischen Gesellschaften, die Bataille untersucht, funktionieren Praktiken wie Kannibalismus, orgiastische Feste, rituelles Töten systemstabilisierend. Ein ausgeklügeltes Normen- und Regelwerk schreibt vor, wann welcher transgressiver Akt vonnöten ist, wann welches Tabu eingehalten werden muss, wann es ausnahmsweise übertreten werden darf. Selbst der kollektive Rausch ist normiert. Im Frankreich des Jahres 1996 laufen solche unfreiwilligen Grenzzustände der Gruppe, die Noé untersucht, völlig aus dem Ruder, sprich, in eine diametral entgegengesetzte Richtung: In einer Gesellschaft, die, wie Bataille schreibt, ihre Transgressionen unter gutbürgerlichen Deckmäntelchen versteckt, sogar Orte wie das Schlacht- oder Leichenhaus als verfemt brandmarkt, und die Verschwendung (sexueller) Energie höchstens im Privaten, unter Ausschluss der Öffentlichkeit, vollzieht, kann der Moment, in dem die Schleusen geöffnet werden, eigentlich nur zu Desorganisation, willkürlicher Gewalt, Chaos führen: Die animalischen Triebe, einst in präzisen Zeremoniellen organisiert und kanalisiert, brechen sich zügellos Bahn. Zwar funktioniert der Exzess in CLIMAX zunächst noch systemstabilisierend, indem erstmal alle Elemente der Alterität aus der Gemeinschaft exkludiert werden: Die Mutter sperrt, ahnend, dass das nicht gut ausgehen wird, ihr Kind in die Stromversorgungskabine. Der Muslim wird, da er nicht von der Bowle getrunken hat, und also möglicherweise der Brunnenvergifter ist, nach draußen, in eine feindliche Schneelandschaft, geschmissen, wo er jämmerlich erfriert. Auch eine Schwangere, die aus verständlichen Gründen ebenfalls den Sangria nicht anrühren will, wird zu autodestruktivem Verhalten getrieben, und schließlich genauso vor die Tür gesetzt. Dann aber richten sich sexuelle Freizügigkeit, Aggression, Todestrieb gegen alles und jeden, ohne System, ohne Grund. Noés Menschenbild ist nicht so sehr menschenverachtend, wie ich in einer Kritik zu CLIMAX kürzlich gelesen habe. Es wirkt eher so, dass er, wie Bataille, einem menschlichen Zustand hinterhertrauert, in dem der Exzess als ernstzunehmender ökonomischer Faktor betrachtet wurde, und dass er das Kino – das heißt: sein Kino – als einen der letzten Zufluchtsorte versteht, an denen noch nach aller Herzens Lust, und unter Einsatz ungezügelter Leiblichkeit, jene Schwelle überschritten werden darf, über die der Alltagsmensch nur dann zufällig stolpert, wenn man ihm einmal einen Drogencocktail heimlich untermischt.
7. Nichtdestotrotz muss man CLIMAX im Vergleich mit Noés bisherigen Oeuvre konstatieren, dass er – vielleicht einmal abgesehen von obskureren Frühwerken wie TINTARELLA DI LUNA – sein bislang auf graphischer Ebene zahmster Film ist: Keine erigierten Geschlechtsteile, kein Eintauchen der Kamera in Uteri und Fehlgeburten, keine Köpfe, die von Feuerlöschern zerstampft werden. Oftmals wendet sich die Kamera, wenn das Treiben heftiger wird, zur Seite, und überlasst die Antwort auf die Frage, wie der jeweilige Konflikt denn nun enden mag, der Vorstellungskraft seiner Zuschauer. Der Intensität tut das indes keinen Abbruch, im Gegenteil: Die schrillen Schreie, die im letzten Drittel fortwährend aus verschlossenen Zimmern an die Ohren desjenigen oder derjenigen, dem oder der die Kamera gerade wie ein Schatten folgt, dringen – und damit an unsere – verwandeln, neben dem gefahrroten Farbstrich, den der Film sukzessive einnimmt, die Schulhalle und ihre angrenzenden Räume zunehmend in eine waschechte Höllenvision, aus der ich immer noch nicht ganz aufgewacht bin, und, mir die Augen reibend und mit benebeltem Kopf, vor mich hinmurmele, dass sie, wie das "Rektum" in IRREVERSIBLE, wie das Schlachthaus in CARNE, das 21.-Jahrhundert-Äquivalent zu den infernalischen Landschaften eines Breughels oder Hieronymus Bosch sein könnten.
Der Zug erreicht den Hauptbahnhof. Es ist ein Uhr nachts. Ein leiser Nieselregen fällt. Ich laufe heim, nass bis auf die Knochen.