Gloria Mundi - Nikos Papatakis (1976)

Moderator: jogiwan

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jogiwan
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Gloria Mundi - Nikos Papatakis (1976)

Beitrag von jogiwan »

Gloria Mundi

Bild

Originaltitel: Gloria Mundi

Alternativtitel: Tortura / In Hell

Herstellungsland: Frankreich / 1976

Regie: Nikos Papatakis

Darsteller: Olga Karlatos, Roland Bertin, Philippe Adrien, Mehmet Ulusoy, Armand Abplanalp

Story:

Regisseur Hamdias plant in Frankreich den ultimativen Film über kriegerische Folter zu drehen, setzt seine Hauptdarstellerin Gaila psychisch und physisch unter Druck und gerät so auch rasch ins Visier staatlicher Institutionen. Als der radikale Filmemacher mit terroristischem Hintergrund eines Tages spurlos verschwindet hinterlässt er der ebenfalls verfolgt fühlenden Gaila Kassetten mit Instruktionen und diese beginnt weiter für sein unkonventionelles Projekt zu kämpfen. Dieses stößt jedoch aufgrund seiner herben Thematik und politisch fragwürden Botschaft überall auf Ablehnung und auch Gaila entwickelt zunehmend eine höchst ungesunde Obsession für das Werk des Mannes und dessen Inhalt, dass sie schließlich zu einer Verzweiflungstat treibt...
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jogiwan
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Re: Gloria Mundi - Nikos Papatakis (1976)

Beitrag von jogiwan »

Nach dem kolumbianischen "Bloody Flesh" von Carlos Mayolo ist "In Hell" a.k.a. "Gloria Mundi" der nächste unkonventionelle Streifen, der versucht die Gräuel seiner Zeit auf künstlerische Weise zu verarbeiten. Im Falle von Nikos Papatakis geht es um den Algerienkrieg bzw. Folter und die Rolle von französischen Militärgeheimdiensten, die hier auf sehr drastische Weise in einem sehr radikalen und wütenden Film präsentiert werden. Papatakis schont weder Darsteller noch Zuschauer und vor allem Olga Karalatos ("Woodoo") musste für ihre Rolle augenscheinlich so einiges über sich ergehen lassen, was man eigentlich nicht so bringen sollte. "Gloria Mundi" ist dann auch kein Genre-Wohlfühlfilm für Zwischendurch, sondern ein wütendes und bisweilen auch schwer erträgliches Stück Film mit zeitgeschichtlichen Hintergrund, dass auch noch recht anstrengend erzählt ist. Trotzdem aufgrund seiner verstörenden Form und sehr radikalen Ansatz nicht uninteressant, auch wenn man als Zuseher schon etwas aushalten sollte.
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Salvatore Baccaro
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Re: Gloria Mundi - Nikos Papatakis (1976)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Bevor ich mich in die internetfreie Zeit verabschiede, dachte ich, sozusagen als Testament, falls ich denn nicht zurückkehren sollte, eine kleine Retrospektive zu hinterlassen, die sich mit einem Regisseur befasst, den ich letztes Jahr im Sommer erst kennen, dafür aber umso heftiger lieber lernte. Das hört sich dann wie folgt an:

"Immer mal wieder stoße selbst ich noch auf einen Regisseur, von dem ich bislang nicht ein Sterbenswörtchen gehört habe, obwohl er exakt in dem Zeitabschnitt seine wichtigsten, einzigen oder meisten Arbeiten vorgelegt hat, nämlich den 60ern und 70ern, dem mein besonderes Interesse gilt. Bei Nikos Papatakis handelt es sich genau um einen solchen Filmemacher, der, scheint es, aus dem cineastischen Gedächtnis völlig herausgefallen ist, sofern er dort denn überhaupt einmal einen Platz gehabt haben sollte. Geboren 1918 in Addis Ababa, gestorben 2010 in Paris, kennt man ihn heutzutage wohl einzig und allein wegen einer in gewissen Kreisen immer noch gern erzählten Anekdote. Angeblich soll der Photograph Herbert Tobias dem deutsche Model Christa Päffgen aufgrund ihres für fremde Zunge sperrigen Namens den Nicknamen Nico verpasst haben, weil diese zu dem Zeitpunkt mit Papatakis liiert war, ein Name wiederum, unter dem sie schnell Berühmtheit gelangt hat, zunächst als Chanteuse bei The Velvet Underground, später als Schöpferin solcher muskalischer Meisterwerke wie DESERT SHORE oder THE MARBLE INDEX, und, nicht zuletzt, als Muse und langjährige Lebens- und Leidensgefährtin des französischen Filmemachers Philippe Garrell. Ich finde es interessant zu sehen, wie der Vorname Papatakis, einmal von seinem ursprünglichen Träger gelöst und jemand anderem übergestülpt, quasi ein merkwürdiges, von seinem früheren Standort immer weiter weg führendes Eigenleben entwickelt, sodass er am Ende durch überhaupt nichts mehr auf seine eigentliche Herkunft verweist.

Nikos Papatakis hat relativ spät mit dem Filmemachen begonnen. Zuvor kämpfte er auf Seiten Haile Selassis in Äthiopien, lebte im Exil im Libanonn und in Griechenland, sodann ab 1939 in Paris, wo er mit Intellektuellen und Künstlern wie André Breton oder Jean-Paul Sartre verkehrte, eröffnete ein legendäres Literatencafé mit Stammgästen wie Boris Vian und Juliette Gréco, unterhielt eine eheliche Liebesbeziehung mit Anouk Aimée und half sowohl mit, John Cassavettes Frühwerk SHADOWS als auch den einzigen Film von Jean Genet, UN CHANT D'AMOUR, zu finanzieren. Sein erster eigener Film datiert von 1963 und zog einen Skandal nach sich, der darin gipfelte, dass die Filmfestspielleitung von Cannes sich gegen seine Aufführung sperrte. Sein Titel ist LES ABYSSES und tatsächlich: es tun sich Abgründe in ihm auf, die in einem Werk der frühen 60er durchaus überraschen.

Aber der Reihe nach: zunächst ist es wichtig zu wissen, dass Papatakis Debut auf einer wahren Begebenheit beruht, die in den 30ern einen noch heftigeren Skandal auf die französische Gesellschaft losließ. Es handelt sich um einen sensationellen Mordfall, in dessen Mittelpunkt die beiden Schwestern Papin, Christine und Léa, stehen. Diese waren Angestellte in einem gutbürgerlichen Haushalt, unzertrennlich voneinander und sozialen Kontakten ansonsten völlig verschlossen. Aus ihrer Unscheinbarkeit traten sie erst Anfang Februar des Jahres 1933 hervor, und zwar mit einer Blutttat, die der Frau und der Tochter ihres Arbeitgebers nicht nur das Leben kostete, sondern sie, unter Zuhilfenahme eines Hammers, eines Messers, eines Bügeleisens und purer physischer Gewalt, als bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leichname zurückließ. Neben dem üblichen Nervenkitzel, den so ein grausamer Kriminalfall in einer normalerweise lethargischen, gesättigten Bürgerschaft hervorruft, ist es vor allem die intellektuelle Rezeption der Ereignisse, die für spätere Generationen, und damit eben auch für Papatakis, entscheidende Bedeutung gewann, haben doch Denker und Dichter wie Lacan, Sartre oder Genet, allesamt damals noch in der Blüte ihrer Karrieren stehend, in ihren sorgsamen, wissenschaftlichen und/oder künstlerischen Analysen des Papin-Dramas immer wieder auf die diesem zugrundeliegenden politische und ökonomische Faktoren hingewiesen, das Abschlachten von Frau und Tochter ihres Herrn wenn nicht gedeutet als eine Art Ausdruck von Klassenkampf, so doch zumindest aus überaus linken, wenn nicht gar marxistisch getünchten Brillengläsern heraus betrachtet. Dieser Ansatz ist es dann, den Papatakis in LES ABYSSES konsequent weiterverfolgt. Ihn interessiert weniger der Mordfall an sich – LES ABYSSES ist alles andere als ein Kriminalfilm wie ihn zur gleichen Zeit beispielweise Clouzot hätte drehen können -, sondern die Frage nach dem Warum: was genau mag es sein, dass zwei junge Mädchen zu einem derartigen Gewaltausbruch veranlasst?

Dass LES ABYSSES einen Skandal generiert hat, wundert mich dabei kaum, lehnt er sich für einen Film von 1963 doch bereits ziemlich weit aus den Fenstern und überschüttet die darunter Vorbeilaufenden auf eine ganz eigentümliche Weise mit subversivem Spott. Papatakis ist nichts heilig, keine Institution wie die Ehe, keine Hervorbringung der Gesellschaft wie ihr hierarchisch geordnetes System, schon gar nicht die historischen Fakten, die er für seine Adaption verformt und verzerrt wie es ihm beliebt. Sein liebstes Mittel ist dabei die Übertreibung. Weder die Bürgerfamilie, in der die Papin-Schwestern unterbezahlt schuften, noch die Mädchen selbst erwecken zu irgendeinem Zeitpunkt den Eindruck, mehr oder weniger treue Abbilder der Realität zu sein. Gerade die Hauptdarstellerinnen, gespielt von Colette und Francine Bergé, die, ihr identischer Nachname deutet es schon an, außerhalb der Leinwand ebenfalls Geschwister sind, zeichnen sich durch eine Hysterie aus, das man fast schon von einer Antizipation der Exzesse sprechen könnte, die Andrzej Zulawski seinen vornehmlich weiblichen Akteurinnen knapp eine Dekade später durchleiden lassen wird. Sie schreien, sie zerstören, was ihnen in die Finger gerät, sie schimpfen, sie toben, sie gebärden sich wie Verrückte und sie küssen sich innig in inzestuöser Liebe. Abwechselnd wirkt das grotesk, albern oder erschütternd, wobei die Übergänge der Emotionen, meine ich, fließend sind.

Diesem wirklich außerordentlichen Schauspiel der beiden jungen Damen gegenüber steht die betuchte Bürgerfamilie, bei der ein mehr karikaturistisches Element zum Tragen kommt, wenn sie sich hinter leerer Empörung, leeren Floskeln und leeren Drohungen verschanzen, leer deshalb, weil sie den Papin-Schwestern, selbst über beide Ohren verschuldet, zu viel Geld schulden, um sie einfach rauszuwerfen zu können, worauf die in eine kindlich-brutale Revolte übergehen, in deren Verlauf das halbe, zum Verkauf stehende Haus demoliert wird. Diese Zerstörungsorgie ist, wenn auch im kleinen Rahmen, vielleicht noch etwas, das Paptakis in diesem Film an Vorlieben mit Zulawski teilt. Da fliegen Teller und Schüsseln umher, da wird mit Lebensmitteln gespielt, dass es eine wahre Sauerei ist (hierbei könnte man noch an Vera Chytilovás SEDMIKRÁSKY denken), und am Ende, völlig aus dem Nichts heraus, sind es eben die Mutter und Tochter des Hauses, die mehr oder minder zufällig in die Schusslinie der fast komplett dem Wahnsinn anheimgefallenen Mägden geraten. Wie Papatakis diese emotionalen Grenzsituationen indes vermittelt, ist schwer zu beschreiben. Zuweilen muss man lachen, dann fühlt man sich äußerst unangenehm berührt, manchmal regelrecht schockiert, nur um sich sofort wieder in einer Szene zu finden, die gnadenlos klamaukhaft rüberkommt.

In einem komischen Spannnungsverhältnis stehen außerdem Inszenierung und Inhalt zueinander. Da LES ABYSSES ein Kammerspiel ist – es gibt kaum eine Szene außerhalb des Herrenhauses, zudem läuft der Film quasi in Echtzeit ab, seine Handlung ist auf wenige Stunden komprimiert -, hat Papatakis ihn wie eine Theateraufführung gefilmt, streng, was Kamerabewegung und Schnitt betrifft, stets mit dem Gefühl, als sitze man gerade in einem Auditorium und würde dem Treiben auf einer Bühne beiwohnen, streng aber auch in seiner vorzüglichen Schwarzweißphotographie, in der viel mit Licht und Schatten hantiert wird, und die ihr ihriges dazu tut, die Ausstattung des Films äußerst minimalistisch und aufs Wesentliche reduziert wirken zu lassen. Schauwerte gibt es demnach keine, jedenfalls keine, die über die unbeherrschte Mimik und Gestik der beiden Heldinnen hinausführen würden. So revolutionär LES ABYSSES daher in der Art und Weise ist wie er einen konkreten historischen Kriminalfall ummünzt in eine gesamtgesellschaftliche Revolution der auf jegliche Autorität spuckenden Jugend gegen eine als verknöchert, fossilienhafte empfundene und in keinem Punkt ernstzunehmende Erwachsenenwelt, und seiner Zeit damit um mehrere Jahre vorauseilt, so klassisch ist er in der Bebilderung dieses mit überschlagender Stimme vorgebrachten Protestschreis. Weit entfernt ist Papatakis Inszenierungsstil beispielweise von den Filmen der Nouvelle Vague, von den wilden, unbändigen jump-cuts eines Godard oder den genüsslich sämtliche filmische Stilmittel auskostenden Werken eines Truffaut, und ein ganz eigener Reiz liegt in der Kluft, oder besser: dem Abgrund, der zwischen dem Steinewerfen der Protagonisten und dem fehlenden Bildersturm des Regisseurs entsteht, so, als wolle Papataiks unterstreichen, dass sein Film, so viel Zündstoff er auch beherbergen mag, immer noch einer ist, der in einem bestimmten System gedreht wurde, aus dem es, rein formal, (noch) keinen wirklichen Ausbruch gibt.

Dieser Ausbruch findet in seinem nächsten Film statt, der 1967 erschienen ist. OI VOSKOI wurde, allerdings hauptsächlich mit französischen Geldern, im griechischen Hinterland gedreht und ähnelt aus unterschiedlichsten Kulturkreisen hervorgehenden, jedoch sich in ihrer aufrührerischen Agenda und ihrem Gegenüberstellen von Tradition, d.h. verknöcherten Autoritätsstrukturen, anti-aufklärerischem Aberglauben, überkommenen Moralvorstellungen, und einer unzufriedenen Gegenwart, die in Form aufbegehrender, ihre politische und individuelle Freiheit fordernder junger Menschen auftritt, durchaus wie Geschwister zueinander verhaltenden Filmen wie beispielweise Peter Fleischmanns JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN, Djibril Diop Mambétys TOUKI BOUKI oder Glauber Rochas Debut-Langfilm, dem indes teilweise von Nelson Pereira dos Santos fertiggestellten BARRAVENTO. Mit allen diesen Filmen hat OI VOSKOI gemein, dass er auf der Folie einer von der sogenannten Moderne noch weitgehend unberührten, im Grunde archaischen Gesellschaft eine Liebesgeschichte erzählt, deren Tragik daraus resultiert, dass die angebliche Dorfidylle, die die Protagonisten wie eine nahezu unlösbare Zange umschlossen hält, alles daran setzt zu verhindern, dass die Liebenden zueinander finden. Wobei man jedoch sofort unterstreichen sollte, dass Papatakis scheinbar weniger im Sinn gehabt hat, sein Pärchen als wandelnde Romantik-Stereotypen zu behandeln.

Seine Helden sind Despina, die Tochter eines der reichsten Landbesitzer der Gegend, und Thanos, der, seiner Heimat überdrüssig, einige Zeit als Gastarbeiter in Deutschland verbracht hat, nun aber von dort zurückgekehrt ist – mancher munkelt, dass sei aufgrund diverser Delikte nicht ganz freiwillig geschehen -, seine Tage als Schafshirt zubringt und von den meisten Dörflern wenn nicht gehasst, so doch zumindest misstrauisch als unangepasster Außenseiter und subversives Element beäugt wird. Es dauert eine Ewigkeit bis Thanos und Despina sich das erste Mal leibhaftig gegenüberstehen. Bis dahin schildert Papatakis ihre Leben relativ unabhängig voneinander, schneidet hin und her zwischen den Bestrebungen ihrer Eltern, sie unter fremdbestimmte Hauben zu bringen, ohne dass ihre Meinung dabei groß etwas zählen würde. Despinas Vater beispielweise hat sich den überaus wohlhabenden Städter Yankos für sein Töchterchen ausgesucht und präsentiert ihr ihren Bräutigam wie ein lang ersehntes Geschenk. Despina, offenbar so sehr durchdrungen von den geistigen Mechanismen, die das Dorfleben bestimmen, akzeptiert Yankos sofort als Gatten, und nicht mal eine leidenschaftliche Predigt ihres Bruders, der sie beinahe zum Aufstand aufzustacheln versucht, bringen sie von ihrem Vorhaben ab, in allem dem Willen ihres Vaters zu folgen, auch wenn da natürlich die sehnsüchtigen Blicke und Herzschläge sind, deren Ziel Thanos bildet, mit dem sie vor seiner Abreise eine nie ganz offen ausgesprochene Liebe zu unterhalten haben scheint. Der leidet inzwischen unter seiner herrischen, sich fortwährend der Lächerlichkeit preisgebenden Mutter, die, des Müßiggangs ihres missratenen Zöglings allmählich überdrüssig, verzweifelt versucht, eine Frau für ihn zu finden. In Thanos jedoch gärt die Revolte und er beschließt, dem Dorf in offenem Kampf zu begegnen.

Inhaltlich schreibt OI VOSKOI genau das fort, was Papatakis in LES ABYSSES begonnen hat. Wo er dort die Machtverhältnisse einer gutbürgerlichen französischen Familie in grotesker Verzerrung schildert, ist es in OI VOSKOI die Welt seiner Kindheit und Jugend, in der Freiheit und Selbstbestimmung hochkochen und, im Zusammenprall mit den verknöcherten Werten der Vergangenheit, eine Katastrophe auslösen. Groß macht den Film dabei, dass er, mehr noch als LES ABYSSES, auf jede offensichtliche Pragmatik verzichtet. Im Mittelpunkt von OI VOSKOI steht seine, anders als die obige Kurzinhaltsangabe vermuten lässt, überaus komplexe, wie eine Übersetzung der komplexen Vernetzungen innerhalb der Dorfgesellschaft fungierende Geschichte. Papatakis hat, während er sie uns erzählt, einerseits die Position eines Beobachters inne, der seine Figuren, ohne wirklich in ihr Treiben einzugreifen, scheinbar wertfrei bei ihren Handlungen beobachtet, andererseits kommentiert er die Geschehnisse durch die meisterhaften Bilder, mit denen er sie uns vermittelt. OI VOSKOI ist voller großer Szenen, deren kontrastreiches Schwarzweiß noch heftiger als in LES ABYSSES regiert, und die mich nicht selten an die etwa zeitgleich entstandenen Filme Philippe Garrells erinnert haben: vor allem die Szene, in der Thanos und Despina sich endlich gegenüberstehen, und in der Thanos einen leeren Schulhof betritt, während Despina in den Schatten auf ihn wartet, die Kamera ihm endlos lange in einer ruhigen, komplett im Gegensatz zu den in unseren Protagonisten aufwallenden Emotionen stehenden Plansequenz folgt, könnte problemlos in einem Werk wie LE LIT DU LA VIERGE auftauchen, wobei die in ihrer Nüchternheit prächtigen Landschaftsaufnahmen für mich wirken wie aus einem Frühwerk Werner Herzogs, namentlich LEBENSZEICHEN oder AUCH ZWERGE HABEN KLEIN ANGEFANGEN, entsprungen.

Ansonsten greifen die oben genannten Verweise nicht nur auf inhaltlicher Ebene. Wie Peter Fleischmann stellt Papatakis die antiquierten Konventionen, die das Leben der Dorfbewohner wie übermächtige Ideen beherrschen, die irgendwann ein Eigenleben entwickelt zu haben scheinen und nun bloß noch mittels Gewalt von ihrem Thron gestoßen werden können, in einer Weise dar, bei der man sich manchmal ein Lachen nicht verkneifen, kann, das einem jedoch oftmals schnell schon im Hals steckenbleibt. Wie Mambéty eröffnet Papatakis, als wolle er gleich zu Beginn sein Publikum filtern, seinen Film mit dem graphischen Tod eines Tieres, hier einer Ziege, der, an allen Vieren auf dem Rücken liegend unter praller Sonne gefesselt, in Großaufnahme der Bauch aufplatzt. Wie Rocha ist Papatakis erfolgreich darin, um die eigentliche Story herum so viele Aussagen wie möglich über politische, soziale, ökonomische Verhältnisse der griechischen Landbevölkerung und, was beispielweise Thanos immer wieder erwähnter Deutschlandaufenthalt betrifft, ihr Zusammenhängen mit globalen Entwicklungen zu treffen, und vor allem verschiedene Kulturen innerhalb eines Kultursystems, ohne offensiv Stellung zu beziehen, gegenüberzustellen, dort eine mit ungewissen Ahnungen einer möglichen Freiheit beseelte Jugend, hier eine in heidnischen Hexenrituale befangene Erwachsenenwelt, die seit Jahrhunderten nach den gleichen Schemata abläuft.

Durch die Wahl seines Schauplatzes erhält OI VOSKOI dabei eine fast schon mythische Qualität. Man kommt einfach nicht umhin, an die Epen der klassischen Antike zu denken, wenn die Schauspieler vor impressiver Naturkulisse, umgeben von meckernden, glöckchenklingelnden Ziegenherden, stehen und sich über ihre Gefühle unterhalten, und Paptakis muss sich dessen völlig bewusst gewesen sein, wie gerade die Brüche beweisen, die seinen nur auf den ersten Blick komplett homogen gestalteten Film durchziehen: ein Bruch wie zum Beispiel der, wenn Thanos einen aus Deutschland mitgebrachtes Kofferradio benutzt, um in die sakrale Stille der Einöde vollkommen verzerrte Popmusik preschen zu lassen, oder wenn am Ende eine halbe Armee auf den Plan tritt, die flüchtigen Liebenden wieder einzufangen. Schauspielerisch sticht in OI VOSKOI vor allem Papatakis damalige, nach seiner Ehe mit Anouk Aimee zweite Gattin hervor, die Griechin Olga Karlatos, die man heutzutage hauptsächlich noch aus Fulcis ZOMBI 2 und der einen oder anderen italienischen Genreproduktion wie, erneut von Fulci, MURDER ROCK oder Ugo Liberatores NERO VENEZIANO kennt. Eine Szene ist besonders ergreifend, und weist zurück auf die Hysterie von LES ABYSSES, die in dem eher ruhigen, mit lange Einstellungen und langsamer Erzählweise arbeitenden OI VOSKOI ansonsten reichlich heruntergekocht ist, wenn Despina, nachdem sie ihrem Vater das Versprechen geleistet hat, zu heiraten, was er ihr vorsetzt, in ihrem Zimmer andeutungsweise einen hysterischen Anfall erleidet. Ebenso bewegend fand ich einen orthodoxen Gottesdienst, den Papatakis ziemlich dokumentarisch einfängt und bei dem die bärtigen, in Weihrauchnebel gehüllte und Unverständliches murmelnden griechisch-orthodoxen Priester eine ganz eigenwillige Stimmung in mir hervorriefen, sowie, vielleicht meine liebste Szene in Papatakis gesamten, mir bis jetzt bekannten Oeuvre, eine von Thanos Protestaktionen, bei der er einer fremden Herde zwei Schafe stibitzt, und die, auf sehr ungewöhnliche Weise montiert und bebildert, mit einem ikonenhaften Bild endet, das Thanos zeigt wie er, wohl um nicht von etwaigen Vorbeikommenden entdeckt zu werden, sich auf dem Bauch robbend von den blökenden Bestohlenen entfernt, wobei er an jeden seiner Fußknöchel ein erschlagenes Lämmchen gebunden hat, die er so hinter sich her durch den Staub zieht. OI VOSKOI ist wahrscheinlich jener Film Papatakis, der mich, ästhetisch, intellektuell, emotional, bis jetzt am meisten berührt hat.

Während Papatakis mit LES ABYSSES, obwohl der Film sich einen historischen Kriminalfall Frankreichs als Folie aussucht, meiner Meinung nach nationen- und kulturübergreifende Konflikte zwischen einer in starren Strukturen stagnierenden Gesellschaft und in ihr brodelndem Aufbegehren illustriert hat, wählt er für OI VOSKOI eine spezifisch griechische Sicht auf die Dinge, um, ganz folgerichtig, mit seinem dritten Spielfilm GLORIA MUNDI von 1976 vordergründig ein primär französisches Problem in den Fokus zu nehmen, nämlich den Algerienkrieg und vor allem die Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit seiner medialen Repräsentation. Im Subtext schwebt hier natürlich noch viel mehr herum, der generelle Diskurs beispielweise, inwieweit Gewalt an sich überhaupt fiktional darstellbar ist, und ob sie, einmal dargestellt, den Effekt erzielt, ein zahlendes Kinopublikum abzuschrecken oder nicht vielleicht doch unterschwellig mit Reizen zu versorgen, die unter dem Deckmäntelchen der Betroffenheit nicht mit Befriedigung geizen. GLORIA MUNDI, dessen Ästhetik sich himmelschreiend von LES ABYSSES sowie OI VOSKOI unterscheidet, und in seiner Sprödheit, Ruppigkeit, Schmutzigkeit sehr stark an gewisse Filme Alberto Cavallones oder Romano Scavolinis erinnert – ich denke da zum Beispiel an AFRIKA des ersteren oder SAVAGE HUNT des letzteren – lehnt sich dabei, ähnlich wie später CANNIBAL HOLOCAUST, so weit aus dem Fenster, dass Fiktion und Realität ineinander überzugehen scheinen. Papatakis erklärt dem Krieg den Krieg, indem er seine Zuschauer mit Bildern bombardiert, die eben dieses Gefühl vermitteln, mitten in einer unsauberen Kampfhandlung zu stecken, bei der man Täter und Opfer zugleich ist. Man selbst, der sich diesen Film anschaut, partizipiert an der Gewalt, die in ihm ausgeübt wird, man selbst, der von diesem Film attackiert wird, ist wehrlos dieser Gewalt ausgesetzt, der man, indem man seinen Media Player gestartet hat, in vollem Umfang zustimmt.
Papatakis ist freilich klug genug, GLORIA MUNDI, fernab jeglicher pauschalen Phrasen, zu einem hochkomplexen Meta-Film zu machen, der auf schwierige Fragen keine einfachen Antworten liefert und außerdem, was mir besonders gefällt, permanent auf sich selbst reflektiert.

Olga Karlatos, noch immer mit Paptakis liiert, spielt eine Schauspielerin namens Galai, die in einer beinahe schon sadomasochistischen Beziehung zu dem politischen Filmregisseur Hamdias steht. Dieser ist zu Beginn von GLORIA MUNDI bereits spurlos verschwunden und keiner scheint zu wissen, wo er steckt, dabei hatte er bereits einen Film zu drehen begonnen, der die an algerischen Zivilisten, vornehmlich Frauen, vorgenommen Folterspielchen französischer Soldaten zum Thema haben sollte. Dann jedoch ist das eingetreten, was Regisseuren in Filmen dauernd passiert: der Geldstrom versiegte, Hamidas, scheinbar vor allem aus politischen Motiven, da diverse Geheimdienste mit ihm noch ein Hühnchen zu rupfen haben, musste untertauchen und Galai, allein in einer nicht wirklich einladenden Wohnung lebend, wo ihr Herr und Gebieter per Tonbandaufnahmen mit ihr kommuniziert, probt weiter verbissen ihre Rolle als Opfer unmenschlicher Grausamkeiten. Gerade diese Szenen werden die wenigstens als besonders angenehm empfinden. Von den Tonbandaufnahmen erklingt Hamidas körperlose Stimme, Galai zu immer neuen Selbstverletzungen anstachelnd, einen Schrei von ihr verlangend, so echt, dass man meinen könnte, sie sei wirklich jene namenlose algerische Frau, deren Martyrium er verfilmen möchte. In der Badewanne liegend versetzt Galai ihrer Vagina Stromstöße, schreit dabei wie ein wildes Tier, das Aufnahmegerät dokumentiert mitleidlos.

Schließlich komplizieren sich die Dinge, als Galai sich aufmacht, Hamidas aktuellen Aufenthaltsort zu erfahren, und auf ihrer Odyssee durch Paris verschiedene mehr oder minder obskure Gestalten trifft, die allesamt Manifestationen gewisser politischer und/oder philosophischer Theorien zu sein scheinen, darunter ein geiler Künstler, der jeglichen Aktivismus ablehnt, so lange er von seiner Kunst gut zu leben vermag, oder ein sadistischer Produzent, der Galai, die bei ihm um Geld für Hamidas Projekt bettelt, nachdem er einen Vortrag über die allmächtige Gewalt des Kapitals gehalten hat, mit brennenden Zigaretten verstümmelt. Auf einer Party, die ausnahmslos von oberflächlichen High-Society-Hipstern besucht wird, bekommen wir letztlich, gemeinsam mit Galai, die Szenen zu sehen, die Hamidas für sein Projekt bereit fertiggestellt hat. Gerade hier wird für mich die geistige Verwandtschaft zwischen Papatakis und Cavallone deutlich. Sowohl bizarr als auch zutiefst erschreckend ist die lange Sequenz, in der ein französischer Soldat eine Prostituiete und ihren Säugling erniedrigt, um dann, Jahre später - inzwischen ist aus dem Säugling eine erwachsene Frau geworden - die physischen und psychischen Qualen, die schon die Mutter zu erdulden hatte, an der Tochter fortsetzt. Wirklich graphisch wird es zwar nie, jedoch versteht Papatakis es, ähnlich wie viel später Haneke in FUNNY GAMES, sein Publikum selbst ohne explizite Details oder allzu heftige visuelle Grenzüberschreitungen den Schmerz der unter der männlichen Barbarei zusammenbrechenden Frau, die stellvertretend stehen kann für jedes kolonialisierte oder noch kolonialisiert werdende Land der Erde, wahrhaftig fühlbar werden zu lassen.

GLORIA MUNDI, der in weiten Teilen stark von solchen anti-kolonialistischen Schriften wie Frantz Fanons LES DAMNÈS DE LA TERRE inspiriert scheint, bietet eine Auseinandersetzung mit dem Algerienkrieg wie ihn selbst so progressive Regisseure wie Godard, der mit seinem eigenen Beitrag zu der Thematik, LE PETIT SOLDAT, gehörig mit der französischen Zensur kollidierte, oder Resnais nicht in dieser aufrührerischen Drastik vertreten haben. Der mitunter surreale, feinsinnige Humor, den Paptakis in LES ABYSSES und OI VOSKOI noch stellenweise durchschimmern ließ, ist in GLORIA MUNDI in einer kalten, spröden Welt versickert, deren Mundwinkel höchstens noch zucken, wenn man sie mit einem Rasiermesser aufschneidet. Es ist ein gewaltiger, gewalttätiger Underground-Film, der scheinbar bewusst so wirken soll wie ein unbehauener Klotz, der sich jeder Ornamentik, jeder Zierde mit seiner Granithaut sperrt. Vor allem das verausgabende Schauspiel Olga Karlatos, deren Hysterie und absolute Leidensbereitschaft mich erneut zwangsläufig Parallelen zu den Frauenfiguren eines Andrzej Zulawski entdecken ließ, kann einen, mal abgesehen von der harten Thematik, dem verwirrenden Plot und dem wenig schönen Look, vor GLORIA MUNDI wesentlich leichter zurückzucken lassen als vor seinen beiden Vorgängern, bei denen in ihren finalen Szenen immerhin noch ein zarter Funken Hoffnung gefunden werden konnte, ein Funken, den GLORIA MUNDI mit Maschinengewehrsalven regelrecht über den Haufen schießt oder mit selbstgebasteltem Sprengstoff in die Luft jagt.

Nach diesem unbequemen Drücken seines Fingers auf eine genuin französische Wunde, die allerdings natürlich stellvertretend stehen kann für alle erdenklichen und unerdenklichen Kriegsverbrechen und der mediale Umgang mit diesen, kehrt Papatakis, erneut nach einer dekadenlangen Pause, erst 1987 mit seinem vierten Film nach Griechenland zurück, um mit I FOTOGRAFIA eine wirklich beeindruckende Studie über das, wie ich es interpretiert habe, Entstehen diktatorischer Systeme zu entwerfen. Dabei beginnt alles noch recht hoffnungsvoll, und zwar im Jahre 1971, als in Griechenland ein Militärregime herrscht, das dem jungen Ilias allein deshalb feindlich gegenübersteht, weil er der Sohn eines Kommunisten ist. Obwohl er seinen kurz nach seiner Geburt bei Kampfhandlungen gefallenen Vater nie kennengelernt hat, trägt er seine Herkunft wie ein Stigma mit sich herum. Beim Militärdienst erniedrigt und misshandelt, nun ohne Aussicht auf einen Job, der ihn und seine alte Mutter ernähren könnte, nutzt Ilias die erste Chance, die sich ihm bietet, nach Paris zu emigrieren, um sich dort ein Leben ohne Repressionen aufzubauen. Nachdem er üble Machenschaften aufgedeckt hat, die einem entfernten Verwandten namens Gerassimo bislang das Geld aus der Tasche gezogen haben, ist dieser, der sich schon vor Jahren nach Frankreich abgesetzt hat, bereit, den jungen Mann solange bei sich aufzunehmen bis dieser Fuß in der Fremde gefasst hat und auf eigenen Beinen stehen kann. Paris, das ist für Papatakis allerdings nicht der Eiffelturm, nicht der Louvre, nicht die Cafés voller philosophierender Nouvelle-Vague-Helden, sondern eine düstere Vorortgegend voller Exilgriechen, deren baufällige Gebäude, triste Atmosphäre und überall hervorquellender Schmutz physischer und psychischer Art sich im Grunde durch nichts von den Bildern unterscheidet, mit denen er im Auftakt das griechische Hinterland illustriert hat. Tatsächlich deutet nichts, außerhalb der sprachlichen Ebene der Narration, überhaupt darauf hin, dass Ilias sein Heimatverland verlassen hat und inzwischen nach Paris gereist ist. Deutlicher hat Papatikes nie zuvor unterstrichen, dass es sich bei der Welt, die er darzustellen versucht, für ihn um eine zusammenhängende Masse aus Korruption, Regression und Gewalt handelt, die innerhalb der einzelnen Nationen einzig und allein qualitativen Unterschieden unterworfen ist.

Nun, Ilias ist in Paris, doch seine Vergangenheit bedeckt ihn nach wie vor wie eine Rußwolke, und natürlich sind die Exilgriechen, bei denen er um einen Job anfragt, längst darüber informiert, dass sie es nicht nur mit dem Sohn eines überzeugten roten Freiheitskämpfers zu tun haben, sondern auch mit einem Denunzianten, der hohe Parteigänger verraten hat, um Gerassimos Vertrauen zu gewinnen. Freundlich, aber bestimmt macht man ihm klar, dass er hier nie Arbeit finden werde, er solle sich zudem besser nicht wieder in der Gegend sehen lassen. Ilias, der sich nicht an das Verbot erhält, wird daraufhin mit schlagkräftigeren Argumenten konfrontiert, nämlich einer prügelnden Bande, die ihn überfällt und übel zurichtet. Es ist der pure Zufall, der ihm die Möglichkeit zuspielt, in Paris bleiben zu können. Die Photographie einer griechischen Popsängerin, die ihm vor seiner Abreise zufällig in die Hände gefallen ist und die er aus Gründen, die er wohl selbst nicht nachvollziehen kann, mit nach Frankreich genommen hat, erweckt die Aufmerksamkeit Gerassimos, dem er, ebenfalls aus irrationalen Gründen, vielleicht aus reiner Fabulierlust, die Geschichte auf die Nase bindet, das hübsche Mädchen sei seine Schwester, die bei der Mutter in Griechenland lebe. Während Ilias selbst damit beginnt, der Photographie in langen Mitternachtsgesprächen sein Herz auszuschütten, verliebt Gerassimo sich unsterblich in das hübsche Mädchen, die Idee und Hoffnung keimt in ihm, nach Jahren der Enttäuschung eine Frau zu finden, mit der er seinen Lebensabend verbringen kann. Selbst des Schreibens nicht mächtig lässt er Ilias lange Briefe an die Fiktive schreiben, eine Korrespondenz entfaltet sich, Ilias wird in Gerassimos Haushalt aufgenommen, bekommt eine Lehrstelle in dessen Textilwerkstatt, bald schon hört der eine bereits die Hochzeitsglocken läuten, währen der andere sich mehr und mehr in seine Lügengespinste verstrickt.

Ein Satz Ilias‘, im Selbstgespräch geäußert, fasst für mich den gesamten Film zusammen. Es seien die Illusionen, sagt er sinngemäß, die die Menschen lieben, nicht die Fakten – und dass die Illusionen oftmals so stark werden, dass sie sich in Fakten verwandeln, dass sie ein Eigenleben entwickeln, das nicht mal mehr derjenige, der sie erschaffen hat, noch zu bändigen vermag, dass sie über einen hinauswachsen und plötzlich mächtiger sind als jedes Mittel, ihnen beizukommen, erzählt I FOTOGRAFIA in einem derart ruhigen, schlichten, beinahe banalen Stil, dass Ilias‘ Lügenmärchen und die daraus resultierenden tragischen Konsequenzen umso schrecklicher wirken. Zu Beginn des Films sind die griechischen Straßen gepflastert von Propagandaplakaten der Regierung. Als am Ende des Films Ilias und Gerassimo in Griechenland eintreffen, um Hochzeit mit einem Phantom zu feiern, wurde die Regierung gerade gestürzt und die Plakate sind im Begriff abgetragen zu werden wie Theaterkulissen. Als sie durch die Straßen fahren, erblickt Ilias ein großes Transparent mit dem Gesicht der Popsängerin, die er für seine Schwester ausgegeben hat. Er fragt Gerassimo, ob er das Mädchen nicht erkenne, ob sie ihn nicht an irgendwen erinnere, an seine Schwester vielleicht. Der alte Mann lacht darüber nur. Die Frau, die er heute heiraten wird und die er nie zuvor gesehen hat, sei doch viel schöner, viel anmutiger, gar kein Vergleich zu dem Popsternchen auf dem Plakat. Der Fall der einen Illusion, einer auf Militärgewalt und christlichen Grundsätzen gegründeten Tyrannis, bedeutet nicht zwangsläufig den Fall aller Illusionen. Die, die von Ilias, zunächst wohl völlig ohne böse Hintergedanken ersonnen worden ist, hat sich zu einem Selbstläufer gemausert, der in Gerassimos Kopf im Laufe der Zeit eigene Plakatwände voller glaubenssatzähnlicher Slogans errichtete.

I FOTOGRAFIA ist, obwohl auf den ersten Blick wesentlich weniger radikaler als alle seine Vorläufer in Paptakis‘ Oeuvre, nichtsdestotrotz ein Film, der eine geballte Faust in seiner Hosentasche versteckt. Seine Größe liegt für mich auch gerade darin. Wir haben es mit einer Familiengeschichte vor politischem Hintergrund zu tun, die von einer gewissen Melancholie durchzogen ist, und nie in die hysterischen Ausbrüche oder extremen Gewaltdarstellungen von beispielweise LES ABYSSES oder GLORIA MUNDI verfällt. Unter dieser Oberfläche gähnt indes ein Abgrund schwärzesten Schwarz, in dem man, wenn man will, die gesamte Menschheitsgeschichte als ein Tableau aus Fiktionen erkennen kann, Ideen, Religionen, Ideologien, die, erstmal ins Leben gesetzt, ihren Erfindern entgleiten und nie Frieden stiften, sondern stets den Krieg im Gepäck haben. Dabei bemüht sich Paptakis, seinen Film selbst von jeder Lüge fernzuhalten. Er beobachtet seine Figuren aus relativer Distanz, einem naturalistischen Autor gleich, und enthält sich Kommentaren oder Bewertungen. Er ist ein Historiker der Illusionen, und I FOTOGRAFIA ein schmales, eigentlich unbedeutendes Kapitelchen in deren Kulturgeschichte, in dem jedoch trotzdem oder gerade deshalb das gesamte restliche Werk angelegt ist, das deshalb gar nicht mehr geschrieben zu werden braucht.

Obwohl ich Papatakis' fünften und letzten Spielfilm LES ÉQUILIBRISTES von 1992 mangels Verfügbarkeit bislang nicht habe sehen können, zählt das Oeuvre dieses wundersamen Manns bereits jetzt definitiv zu meinem persönlichen Ewigkeitskanon."
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