Haus der Sünde - Bertrand Bonello (2010)
Moderator: jogiwan
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Haus der Sünde - Bertrand Bonello (2010)
Originaltitel: L'Apollonide (Souvenirs de la maison close)
Herstellungsland: Frankreich 2010
Regie: Bertrand Bonello
Darsteller: Hafsia Herzi, Adele Haenel, Jasmine Trinca, Louis-Do de Lencquesaing, Noémie Lvovsky, Céline Sallette
Vielleicht sollte ich von meiner letzten rauschhaften Kinoerfahrung berichten, sinnigerweise sogar an meinem Geburtstag. Geboten wurde der neuste Film von Bertrand Bonello (wobei neu relativ zu verstehen ist, da ich die Werbeplakate schon vor einem Dreivierteljahr in Metz bewundern durfte), den ich ja generell, allerspätestens seit seinem letzten Werk DE LA GUERRE, für einen der Meister des jungen französischen Kinos halte, gerade weil bislang alle drei Filme, die ich vor L’APOLLONIDE von ihm sehen durfte, irgendetwas in mir auslösten, und selbst wenn es wie bei TIRESIA eine wahre Grenzerfahrung war, die mich das Werk kaum durchstehen ließ, oder eben das ironische Lächeln, das LE PORNOGRAPHE bei mir hervorrief, diese trief-tragische Symbiose aus Neo-Nouvelle-Vague und postmoderner Pornoreflexion. Über L’APOLLONIDE belas ich mich vorher überhaupt nicht. Alles, was ich wusste, war der Name des Regisseurs und besagtes Filmposter, das mich von diesem winzigen Lichtspielhaus in einer Altstadtgasse von Metz anlächelte und mich irgendwie an Borowczyk erinnerte. Nun, was soll ich sagen? Die 10.90 Euro, die man mir in Mannheims größtem Kommerzkino, dem Cineplex in den Planken, abknöpfte (inklusive Zuschlag, weil der Film länger als zwei Stunden dauert!), lohnten sich nicht nur, sie waren eine der am besten investiertesten Ausgaben der letzten Wochen.
L’APOLLONIDE, und deshalb war da eine ziemlich witzige Diskrepanz zwischen Kontext und Werk (ich frage mich immer noch, seit wann in einem Cineplex solche Filme gezeigt werden, und das dann vor insgesamt 5 Personen, mich und meine Begleitung schon mit eingerechnet), ist zu einhundert Prozent das, was man reines Kunstkino nennen kann, je nach Sichtweise anstrengend und verkopft, oder eben spielerisch und belebend. Für mich ist das Höchste, was ein Film in mir auszulösen imstande ist, ein Gefühl, das ich am ehesten im Bereich des Religiösen verorten kann. Das heißt nicht unbedingt, dass solch ein Film nach objektiven Kriterien, was auch immer das ist, gut sein muss. Ein Film wie THE GODFATHER ist, das kann keiner leugnen, der ernstgenommen werden will, ein gut gemachter, professionell inszenierter, bei dem, auf den ersten und zweiten Blick, alles stimmt, alles am rechten Fleck sitzt. Trotzdem verbinde ich mit ihm keine spirituelle Erfahrung. Verantwortlich dafür ist das Fehlen von etwas in ihm, das ich für mich als arkanen Winkel bezeichne, d.h. die Stelle in einem Kunstwerk, die man so oft und so ausgiebig interpretieren kann wie man will, man stößt nicht zu ihrem Innersten vor, die Fragezeichen, die nach einem Lynch in einem herumschwirren und sich einfach nicht in Ausrufezeichen verwandeln können. Deshalb sind wohl Leute wie Zulawski oder Godard meine favorisierten Regisseure, weil die sich gar nicht erst die Mühe machen, alles zu entschlüsseln. Vor allem Zulawskis Filme sind regelrecht verzaubert und so voller dunkler Nischen und voller Momente, die keinen pragmatischen Zweck erfüllen, dass sie dadurch nie auch nur ansatzweise in die Nähe des Punkts kommen, wo sie einem völlig klar wären, man sie wirklich bis ins Letzte verstanden hätte. Was natürlich diejenigen frustriert, die es nicht ertragen können, wenn ein Film nicht auf jede Frage eine Antwort hat, Antworten auf Fragen gibt, die nicht gestellt wurden, oder Fragen nicht stellt, wenn sie normalerweise nötig wären. Wobei das natürlich über die reine Lust daran hinausgeht, dass da etwas ist, was man nicht bis zuletzt decodieren kann. Ich vergleiche solche Filme gerne mit Mysterienspielen, die in früheren Zeiten vor einer Landbevölkerung abgehalten wurden. Das Volk nimmt für bare Münze, was ihm da an Wundersamen vor Augen geführt wird. Ein bisschen Budenzauber und schon glauben sie an ein Wunder. In dem Falle bin ich der gemeine Bauer und stehe mit offener Kinnlade vor dem Mysterium eines solchen Films, das ich genauso wenig ergründen kann wie die Kinogänger in der gerne kolportieren Anekdote zu erklären imstande sind, wieso der Lumiére-Zug, vor dem sie sich in Sicherheit brachten, sie nicht überrollte. Meine Religion besteht nicht aus frommen Texten und Heiligenikonen, sondern aus 24 Bildern in der Sekunde.
L’APOLLONIDE passt nun so genau in diesen mystischen Bereich wie lange nichts mehr. Dieser Film ist nicht erklärbar. Natürlich könnte ich nun anfangen und versuchen, die Geschichte zu erzählen, die wiederum er erzählt: ein Edelbordell in den Jahren 1899 – 1900, das dem finanziellen Ruin entgegentreibt und die Einzelschicksale der in ihm arbeitenden Frauen. Nur wäre das eben nur die äußere Form, nicht das, worum es in Wirklichkeit geht. Und zudem auch bereits nicht ganz richtig. Denn Bonello erzählt eben keine Geschichte. Wenn überhaupt, erzählt er viele Geschichten. Oder liefert besser gesagt nur Einzeleindrücke. Die Geschichten selbst entstehen woanders. In den Köpfen der Zuschauern. Deswegen werde ich über die Handlung nun kaum noch etwas schreiben und mich fast ausschließlich zwei, drei Aspekten der Inszenierung zuwenden, die L’APOLLONIDE für mich so GROSS machen:
1. L’APOLLONIDE ist ein Film, der sich der Tradition, die er zerstört, durchaus bewusst ist. Genre: Historienfilm. Das wäre keine Lüge. Oder eben Historiendrama. In jeder Szene ist die Geschichte nämlich eindeutig sichtbar. Obwohl L’APOLLONIDE einen Mikrokosmos abbildet, eine Welt in der Welt, eben die hermetisch abgeschlossene des Edelbordells, dessen Prostituierte es so gut wie nie verlassen und die darin eine Gesellschaft im Kleinen errichteten, eine große Familie, in der auch die Kinder der Bordellbesitzerin nicht fehlen dürfen, die außerhalb der Betriebszeiten munter zwischen den Huren umherspringen oder lesend zwischen ihnen herumliegen, ist die äußere Welt zu jedem Zeitpunkt spürbar, und wenn auch nur in ihrem Fehlen. Nur in einer einzigen Szene öffnet sich das Draußen unseren Protagonistinnen. In verklärten David-Hamilton-Bildern gehen sie baden, sitzen auf einer Wiese, klettern auf Bäume. Ansonsten befinden sie sich, und damit auch der Betrachter, permanent hinter geschlossenen Türen, in geschlossenen Räumen, in die selbst das Tageslicht nur spärlich hereinfällt. Das hat etwas Zeitloses, erweckt den Eindruck, das Bordell sei mit seiner immanenten Struktur so universell, dass es zu jeder Zeit, an jedem Ort existiert haben könnte. Womit man sich täuscht. Die Geschichte findet ihren Weg trotzdem herein. Die Freier reden über die Tagespolitik, von Dreyfus. Die Kleider der Prostituierten sind eindeutige Zeichen ihrer Zeit. Durch schmale Nischen zwängt die Gegenwart der Jahre 1899-1900 sich in den Bordellkosmos, nicht zuletzt durch zwei Zwischentafeln, in denen Bonello exakt Ort und Zeit benennt. Somit ist L’APOLLONIDE ein Film, dessen Inhalt sich zeitgleich auf zwei Ebenen anspielt. Die eine ist tatsächlich eine historische, die etwas vermittelt über eine bestimmte Epoche, die man definieren und darstellen kann, eben weil sie vergangen ist und dadurch nicht mehr virulent. Zum anderen hat L’APOLLONIDE natürlich dennoch dieses Universelle, allein dadurch, dass die Geschichte zwar zu den Prostituierten hineinschaut, sie umgibt, sie indes aber zu keinem Zeitpunkt aktive Teilnahme an ihr nehmen, sie selbst wie Betrachter eines Historienfilms sind, die das, was auf der Leinwand passiert, nicht wirklich viel angeht. Seinen größten Trumpf, was das betrifft, spielt Bonello in der Schlussszene aus, in der beide Linien sich zu einer einzigen vereinigen.
2. Bonello hat die Postmoderne im Blut. Oder die Postpostmoderne, je nachdem. Selbstverständlich setzt sich L’APOLLONIDE über Normen und Konventionen des herkömmlichen Kinos hinweg. Er ist nahe bei Godard, wenn Schnitte vermeintlich deplatziert gesetzt werden, Szenen sich nicht richtig auflösen, die Zeit- und Raum-Einheit nicht streng beachtet wird. Im kurzen ersten Teil des Films nähert er sich gar einer Traumhaftigkeit, in der die einzelnen Szenen eher assoziativ als einem System folgend aneinandergereiht werden. Auch später, wenn der Film chronologischer und geerdeter wird, erlaubt er sich feine Spiele mit den Regeln, die er mal beachtet und mal nicht, je nachdem, wie es ihm passt. Da haben wir augenzwinkernde Verweise zu Stilmitteln des Mainstream-Historienfilms, wenn langsam auf Briefe, die aus dem Off von ihren Verfassern vorgelesen werden, gezzomt wird, Szenen, die sich so oder so ähnlich in wohl jedem größeren Historienschinken finden. Da haben wir Warhols Split-Screen, den Bonello, wie der Meister in CHELSEA GIRLS, anwendet, um parallele Handlungen im gleichen Gebäude zu veranschaulichen, d.h. in jedem der vier Bildausschnitte bspw. eine andere Prostituierte bei ihrem Alltag, oder eben in einer genialen Verwendung als Triptychon. Da haben wir einen absolut anachronistischen Soundtrack, mit Stücken, die weit vor 1900 entstanden, sowie Pophits der 60er: eine der ergreifendsten Szenen des Films kombiniert die über den Verlust ihrer relativen Sicherheit weinenden Prostituierten bei ihrem Abschiedstanz kurz vor dem Verkauf des Bordells mit Nights In White Satin.
3. Schlussendlich ist L’APOLLONIDE ein Tableau, dessen verschiedene Seiten sich zuweilen widersprechen und sich nicht in Einklang bringen lassen. Tatsächlich an Borowczyk erinnernde Softsexszenen verbinden sich mit scheinbar unspektakulären Alltagsplaudereien der Huren, surrealen Elementen wie einem Panther, den ein Freier stets als Schoßtier ins Bordell mitbringt, beklemmenden Traumszenen, die mich stark an Cavallones BLOW JOB erinnerten, und echten Horror im ersten Drittel des Films. Dabei ist L’APOLLONIDE alles auf einmal: wehmütig, hoffnungsvoll, niederschmetternd, stellenweise sogar ehrlich lustig, vor allem aber übervoll an Emotionen. Gerade der Kritikpunkt, der in fast jeder der wenigen bisher erschienenen deutschen Rezensionen angeführt wurde, dass Bonello sich nämlich angeblich nicht entscheiden kann, von was L’APOLLONIDE nun eigentlich handeln soll, ist das, was ich als seinen größten Vorteil auslege. Gemäß Godard bringt Bonello alles in seinem Film unter, was er findet. Er hat keine spezielle Agenda, keinen roten Faden, dem er folgen müsste. Da alles in der Wirklichkeit parallel zueinander vorliegt, bringt er es eben genauso ungefiltert in seinen Film ein. Dadurch wird L’APOLLONIDE ungeheuer vielschichtig und lässt sich nicht auf eine einfache Formel runterbrechen. Er ist kein feministischer Film, der die Ausbeutung der Frau durch den Mann über die Jahrhunderte hinweg an einem historischen Beispiel aufzeigen möchte. Er ist keine Milieustudie der Halbwelt um 1900 herum, die am Ende einen Bogen in die Jetztzeit schlägt und dazu animiert, selbstständig Vergleiche zu ziehen. Er ist kein Liebesfilm in dem Sinne, dass hier alle Schatten- und Lichtseiten der Liebe behandelt werden, und man romantisch von einem glücklichen Leben in den Armen eines edlen Ritters träumt. Er ist kein Experiment in Form und Inhalt, bei dem die Normen im Gestalten von Ton und Bild permanent hinterfragt und neu definiert werden. Und dennoch ist er all das und noch viel mehr. Für mich bis jetzt der Film des Jahres 2012. Obwohl schon von 2010.
Re: Haus der Sünde - Bertrand Bonello
Leider habe ich erst jetzt diese schöne Rezension zu dem Film gesehen, der mich auch sehr beeindruckt hat. Sehr gut beobachtet finde ich, dass der Film in so einer Art Spannungsfeld zwischen einer genau festgehaltenen zeitlichen Einordnung und eben einer Zeitlosigkeit spielt, die teilweise aus der schon im Titel benannten Abgeschlossenheit des Handlungsortes erwächst. Die Einzelschicksale, vor allem der "lachenden Frau", fand ich schon sehr eindrücklich festgehalten. Mich erstaunt es ja, dass der tatsächlich hierzulande im Kino lief. Sehr geglückt finde ich auch die Balance zwischen den möglichen Problemen einer Beschönigung einerseits und einer moralisierenden Verdammung andererseits bezogen auf den Bordellbetrieb.