Originaltitel: La Frontière de l'aube
Produktionsland: Frankreich 2008
Regie: Philippe Garrel
Darsteller: Louis Garrel, Laura Smet, Clémentine Poidatz
Eine Liebeserklärung in sechs, sieben Sätzen
1. Es ist eine der ältesten Geschichten seit Menschengedenken. Ein Mann liebt eine Frau. Eine Frau liebt einen Mann. Sie kommen zusammen, verleben eine kurze, leidenschaftliche Zeit. Doch dann verlässt der Mann die Frau für eine andere. Oder: die Frau stirbt, und der Mann vertröstet sich schnell, trotz seines Schwurs, an dieser Liebe festzuhalten, über den Tod hinaus, für immer. Auf jeden Fall ist die eine schließlich tot, und der andere verliebt, glücklich, denkt nicht mehr an die Vergangenheit. Die aber holt ihn alsbald ein. Seine tote Liebe erscheint ihm in Träumen, als Gespenst, als Wiedergängerin. Sie mahnt ihn an seinen Schwur, droht ihm, fleht ihn an, zu ihr zu kommen, sie vermisse ihn, sie liebe ihn. Er kann dem allem nicht widerstehen, stirbt von eigener Hand oder von ihrer. Im Tod sind die Beiden endlich wieder vereint.
2. Francois lernt Carole eher zufällig kennen, und zwar durch die Linse seiner Kamera. Er ist Photograph, sie Starschauspielerin. Er soll sie photographieren, sie möchte sich nicht so recht photographieren lassen – ein Anfang wie in Zulawskis L’IMPORTANT C’EST D’AIMER, nur ohne die Tragik, ohne den Schmerz, ohne die unterschwellige Gewalt. Man trifft sich, ein einziger Blick scheint über das Schicksal der beiden jungen Menschen zu entscheiden, und einen Schnitt später küssen sie sich bereits leidenschaftlich vor laufender Kamera. Das Problem jedoch ist: Carole hat einen Ehemann, der ebenfalls eine gewisse Zeit seines Lebens hinter Kameras verbringt. Er ist Filmregisseur, gerade in Hollywood, wo er im Auftrag irgendeines Produzenten irgendeinen Film fertigstellt. Viel wichtiger ist sowieso der, in dem Carole und Francois eine Affäre beginnen. Sie versprechen sich nichts, sie schwören einander nichts, und dennoch flüstern Schwüre und Versprechen kaum hörbar, aber mit steigender Präsenz unter den Bildern. Die sind, wie man es von Garrell gewöhnt ist: von einem kontrastreichen Schwarz und Weiß, irgendwie elegant und zugleich voller Nostalgie, so, als würden sie in eine Vergangenheit zurückweisen, die man nie erlebt, nur gefühlt hat. Sie mögen karg, streng wirken, frei von allem überflüssigen Ballast, mit dem moderne Filme ihre Kader vollstellen, als dürfe keine Stelle ungenutzt in ihnen bleiben. Trotzdem strahlen sie eine Zärtlichkeit, eine Intimität, eine stille, unaufgeregte, unprätentiöse Poesie aus, die bewirkt, dass man sich, obwohl Garrel von einer gewissen Distanz auf seine Figuren blickt, ihnen trotzdem nahefühlt. Fast so wie wenn man in Trödelläden oder auf Flohmärkten Photographien von Menschen findet, die längst tot und begraben sind, die man nie kennengelernt hat, die man nie kennenlernen wird. Man könnte die Achseln zucken, sie in ihren Pappkisten lassen. Trotzdem kauft man sie, denn diese Toten sprechen zu einem, auch wenn man sie nicht immer ganz versteht.
3. Für Carole ist es mehr als für Francois. Sie liebt ihn wirklich. Als sie beruflich nach London muss – was genau denn nun ihr Beruf ist, außer Celebrity zu sein, erfahren wir natürlich zu keiner Sekunde -, vermisst sie ihn auf physisch schmerzende Weise. Dennoch kann oder will sie sich nicht von ihrem Ehemann trennen. Einmal erwischt der die Beiden beinahe in flagranti. Einzig der Umstand, dass Caroles Mann seinen Wohnungsschlüssel verlegt hat, gibt Francois die Möglichkeit, sich schnell aus dem Schlafzimmer zu stehlen, sich im Salon zu verstecken und, als Carole ihren Gatten ablenkt, halbnackt auf die Straße zu flüchten. Diese Straßen sind, wie man es von Garrel gewöhnt ist: mehr eine minimalistische Bühnenkulisse als ein authentischer Ort, entleert von etwaigen Statisten, reduziert auf das Allernötigste. Sein Paris ist an sich bereits eine völlig zeitlose Stadt, schon immer. Kaum hat es sich verändert in seiner nunmehr fünfzigjährigen Regiekarriere. Autos fahren in ihm herum, aber nicht viele. Die Menschen tragen Kleidung, die zwar nach der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts aussieht, einem konkreten Jahrzehnt zugeordnet werden kann sie nicht. Von summenden Handys fehlt jede Spur. Stattdessen E-Mails oder SMSen schreiben sich die Personen in Garrels Privatkosmos noch lange Briefe voller bedeutungsschwangerer Phrasen. Vielleicht hat man Glück (oder Unglück?) und sieht irgendwo mal im Hintergrund einen Fernsehapparat flimmern. Als in LA FRONTIÉRE DE L’AUBE einmal ein Grabstein zu sehen ist, auf dem man als Todesdatum der Verstorbenen das Jahr 2007 lesen kann, wirkt das mehr noch als wie ein Anachronismus, nämlich wie ein regelrechter Schock. Denn dieser Film spielt nicht im Jahre 2007. Er spielt in jedem Jahr, und zugleich in keinem. Warum zeigt uns aber Garrel diese Jahreszahl? Bestimmt ist das seine Art von Humor, genauso still und streng wie seine Filme.
4. Mit Carole geht es allmählich bergab. Ihr Alkoholkonsum ist schon seit Beginn des Films einer, der gerne über die Stränge schlägt. Nun, wo Francois sich langsam von ihr abwendet und sie nicht die Kraft oder den Mut hat, ihm zu folgen, und/oder sich von ihrem Ehemann zu scheiden, beginnt sie eine ausgemachte Psychose zu entwickeln. Eines Tages trifft Francois, der schon seit Wochen keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt hat, auf der Straße einen gemeinsamen Bekannten. Der erzählt ihm, dass Carole versucht habe, ihre Wohnung in Brand zu stecken, sich bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Zurzeit befindet sie sich in der Psychiatrie. Dort geht es zu wie man es von Garrel gewöhnt ist. Ein bisschen wirkt es wie ein Remake seines eigenen L’ENFANT SECRET, wohl einem der trostlosesten Werke der gesamten Kinogeschichte, wenn Carole – wohlgemerkt: im Jahre 2007! – an eine Maschine angeschlossen wird, die ihren Schläfen Elektroschocks verpasst, und nicht wesentlich glaubwürdiger oder moderner aussieht als die in Sam Fullers SHOCK CORRIDOR. Um zu unterstreichen, dass er es nicht auf Naturalismus abgesehen hat, setzt Garrel gerade in diesen Szenen vermehrt seine geliebte Lochblende ein. Einmal erlöst sie uns von dem Anblick der leidenden Carole. Das Bild schließt sich von seinen Rändern her exakt in dem Moment, als der Storm zu fließen anfängt. Sowieso ist LA FRONTIÈRE DE L’AUBE zusammengesetzt genau aus den Bausteinen, aus denen sich Garrels gesamtes Oeuvre zusammensetzt. Manche Bilder, manche Themen, manche Figuren kehren immer wieder. Da ist Caroles Briefmonolog vom Traum einer Revolution, die niemanden auch nur einen einzigen Tropfen Blut kostet. Da ist die Kamera als Stifterin zwischenmenschlicher Beziehungen. Da ist die Frage, was das denn sei, die Liebe, und ob man sie überhaupt definieren kann, wenn man in der glücklichen Lage ist, lieben zu können. Da sind die Protagonisten, die keinem geregelten Berufsleben nachzugehen scheinen, keinen sozialen, ökonomischen Kontext haben, in den sie eingebettet sind, und die an reichgedeckten Tischen tafeln, Wein trinken, intellektuelle Gespräche führen, scheinbar den ganzen Tag und mindestens die halbe Nacht. Natürlich ist da das Kino, in LA FRONTIÈRE DE L’AUBE weit im Hintergrund, in Gestalt von Caroles Mann, schwebend über der Liebe wie ein Damoklesschwert.
5. Carole begeht Selbstmord. Erneut: Zulawskis L’IMPORTANT C’EST D’AIMER, diesmal die dornenreiche Suizidszene Jacques Dutroncs wie er sich in einer Kneipentoilette mit Tabletten tötet. Carole wählt denselben Weg. Viel Alkohol schüttet sie zuerst in sich, torkelt ins Badezimmer, schluckt, was sie in die Finger bekommt. Mehrere Minuten dauert diese schier unerträgliche Szene, die nicht damit endet, dass Francois sie, wie in einem schlechten Film, rechtzeitig findet. Nein, sie stirbt, und wird begraben, auf einem jüdischen Friedhof. Er besucht sie dort, macht Photos von ihrem Grabstein. Darauf: die Zahl 2007. Abends schläft er mit und bei seiner neuen Freundin, die Eve heißt. Sie wirkt wie das exakte Gegenteil von Carole. Sie ist ruhig, beherrscht, etwas spießig vielleicht sogar. Sie hat einen Plan für ihr Leben, möchte eine Familie haben, Kinder. Als sie schwanger wird, wächst Francois die Beziehung kurzzeitig über den Kopf. Er fordert von ihr eine Abtreibung. Doch sie fängt an zu weinen, und er fügt sich in sein Schicksal. Beinahe stolz erzählt er einem alten Freund davon, dass er nun bald Vater sein wird. Alles scheint seine geregelten Bahnen zu laufen, so wie immer: von der leidenschaftsvollen Revolte hin zu der von geregelten Emotionen bestimmten bürgerlichen Ehe. Diese Liebe wirkt zwar weniger aufbrausend als die zu Carole, aber nicht weniger schön. Dazu trägt nicht zuletzt die Musik bei, die klingt wie man es von Garrel gewöhnt ist. Zuständig ist, als Hauptkomponist, Jean-Claude Vannier. Ihn unterstützt Didier Lockwood an der Geige. Zurückhaltend, beinahe schüchtern entfalten die Beiden einen Klangteppich, der den Bildern niemals von außen irgendwelche fremden Emotionen aufdrängt, sondern vielmehr dazu führt, dass die in ihnen sowieso bereits angelegten Emotionen noch etwas stärker hervortreten. Sowieso verwendet Garrel nie Musik, die einen didaktischen Zweck verfolgt. Stets ist sie nur als Rahmung da, weiter wagt sie sich nicht. Aber, hört man genau hin, muss man erkennen, dass sie ebenfalls ohne die Bilder funktioniert, die sie begleitet. So wie die Bilder ohne sie funktionieren würden. Garrels frühste Filme sind komplett ohne Ton gedreht worden.
6. Francois unternimmt mit Eve einen Ausflug zu einer Hütte mitten im Wald. Während des gemeinsamen Mittags-schlafes hat er einen verstörenden Traum. Es ist Carole, die sich durch eins der Fenster zu dem Pärchen hereinbeugt. Sie flüstert davon, er solle tief in den Wald gehen, dort einen bestimmten Baum suchen, und bei diesem auf sie warten. Was für Francois zunächst ein Traum ist, das ist es für uns, das Publikum, nicht. Die Phantastik bricht mit einer Heftigkeit wie nie zuvor in die filmische Welt Garrels hinein. Heftigkeit, das heißt bei Garrel natürlich so viel wie: still und leise. Dennoch: ein mulmiges Gefühl bleibt. Francois glaubt, geschlafen zu haben. Doch wir, das Publikum, wissen: Carole ist wirklich dort gewesen, hat durch das Fenster geguckt, während Eve und er schliefen, und diese kryptischen Sätze gewispert, fast wie aus einem Märchen. Von nun an wird es, sofern das in einem derart schwarzweißen Schwarzweißfilm überhaupt Sinn macht, bunter und bunter. Carole kommuniziert mit Francois über Spiegel. Ist das nun seine Psyche, die ihn foppt? Wird Francois wahnsinnig? Hat er Caroles Selbstmord, für den er sich unbewusst die Schuld in die Schuhe schiebt, nicht verwunden? Spiegel sind schon bei Jean Cocteau beliebte Mittler zwischen dem Reich der Toten und dem der Lebenden. Orpheus dringt durch einen Spiegel ein, um seine Geliebte aus dem Orkus zu retten. Der Dichter in LE SANG D’UNE POETE stürzt durch einen Spiegel ins Königreich der Poesie. Soll Francois dem Ruf folgen? Sein Geist ist verwirrt, und während er vor Eve die heile Fassade hochhält – immerhin: sie wollen heiraten, er hat inzwischen ihre Eltern kennengelernt, er steckt so tief in der einst verhassten Bourgeoisie wie nie zuvor -, schüttet er bei einem alten Freund – man begrüßt sich mit: Kamerad! - sein wundes Herz aus. Er rät ihm, mit Carole zu kommunizieren. Natürlich, als ausgemachter Materialist und Kommunist, glaubt er nicht daran, dass Carole tatsächlich irgendwo weiterexistiere. Francois selbst ist es, der ihr Erscheinen hervorruft. Doch sei das nicht eine Möglichkeit, sich selbst näher zu ergründen? Francois hilft das nicht weiter. Niedergeschlagen wandert er durch die menschenleeren Straßen. Zu diesem Zeitpunkt sind Schauspieler und Rolle endgültig miteinander ver-schmolzen. Der Hauptdarsteller ist, wie man es von Garrel gewöhnt ist, ein alter Bekannter, nämlich sein eigener Sohn, Louis, mit dem er kurz zuvor bereits das dreistündige Mai68-Epos LES AMANTS REGULIERS gedreht hat. Außerdem hat man ihn als Kind gesehen, in LES BAISERS DE SECOURS. Garrels Filme sind autobiographisch, immer. Nicht nur, weil er gerne Familienmitglieder in ihnen versammelt, seine Kinder, seinen Vater, seine Frauen und ExFrauen. Sie scheinen, rein vom limitierten Sujet her, stets Ausdruck der Träume, Ängste und Gedanken eines einzelnen Individuums zu sein. Deswegen variieren sie in ihren Kernen kaum, deswegen erkennt man von den 60ern bis in das Jahr 2013 in ihnen allen eine bestimmte Handschrift mit bestimmten Eigenarten, deswegen kann man einen lieben und liebt sie alle.
7. Und trotzdem: jeder Film Philippe Garrels ist anders. LA FRONTIÈRE DE L’AUBE fällt aus dem Rahmen, weil er einen grenzenlosen, für manchen Cannes-Besucher bei seiner dortigen Erstaufführung offenbar peinlich wirkenden Romantizismus mit einer eindeutigen als solche bezeichneten Phantastik paart. Rückwärtsgewandt, könnte man das nennen, einem Kino huldigend, das vor fünfzig Jahren vielleicht noch bahnbrechend gewesen ist, wenn überhaupt. Oder aber man bescheinigt LA FRONTIÉRE DE L’AUBE, dass seine Subversion gerade aus dem Fehlen offensichtlich subversiver Tendenzen erwächst. Garrel wagt es, im Jahre 2007 – und sogar noch im Jahre 2013, was das betrifft: man schaue und schwelge in LA JALOUSIE – einen Film zu inszenieren, der ohne große Effekte auskommt, ohne Sex und Gewalt, ohne in irgendeiner Form spektakuläre Elemente. Deshalb vielleicht kann ein Film wie LA FRONTIÉRE DE L’AUBE ein Film sein, der überdauert. Irgendwann heißt es: es ist einer der ältesten Filme seit Menschengedenken. Paris verändert sich von Tag zu Tag, der technische Fortschritt wächst sich selbst über den Kopf, die Jahre purzeln wie Laub. Aber: diesen Film versteht man vielleicht noch in einhundert, zweihundert Jahren. Weil sich diese Fragen jede Generation immer wieder von Neuem stellen wird: was ist Liebe?, was ist der Tod?, wie hängt beides zusammen? Eine solche Geschichte zieht immer.
2. Francois lernt Carole eher zufällig kennen, und zwar durch die Linse seiner Kamera. Er ist Photograph, sie Starschauspielerin. Er soll sie photographieren, sie möchte sich nicht so recht photographieren lassen – ein Anfang wie in Zulawskis L’IMPORTANT C’EST D’AIMER, nur ohne die Tragik, ohne den Schmerz, ohne die unterschwellige Gewalt. Man trifft sich, ein einziger Blick scheint über das Schicksal der beiden jungen Menschen zu entscheiden, und einen Schnitt später küssen sie sich bereits leidenschaftlich vor laufender Kamera. Das Problem jedoch ist: Carole hat einen Ehemann, der ebenfalls eine gewisse Zeit seines Lebens hinter Kameras verbringt. Er ist Filmregisseur, gerade in Hollywood, wo er im Auftrag irgendeines Produzenten irgendeinen Film fertigstellt. Viel wichtiger ist sowieso der, in dem Carole und Francois eine Affäre beginnen. Sie versprechen sich nichts, sie schwören einander nichts, und dennoch flüstern Schwüre und Versprechen kaum hörbar, aber mit steigender Präsenz unter den Bildern. Die sind, wie man es von Garrell gewöhnt ist: von einem kontrastreichen Schwarz und Weiß, irgendwie elegant und zugleich voller Nostalgie, so, als würden sie in eine Vergangenheit zurückweisen, die man nie erlebt, nur gefühlt hat. Sie mögen karg, streng wirken, frei von allem überflüssigen Ballast, mit dem moderne Filme ihre Kader vollstellen, als dürfe keine Stelle ungenutzt in ihnen bleiben. Trotzdem strahlen sie eine Zärtlichkeit, eine Intimität, eine stille, unaufgeregte, unprätentiöse Poesie aus, die bewirkt, dass man sich, obwohl Garrel von einer gewissen Distanz auf seine Figuren blickt, ihnen trotzdem nahefühlt. Fast so wie wenn man in Trödelläden oder auf Flohmärkten Photographien von Menschen findet, die längst tot und begraben sind, die man nie kennengelernt hat, die man nie kennenlernen wird. Man könnte die Achseln zucken, sie in ihren Pappkisten lassen. Trotzdem kauft man sie, denn diese Toten sprechen zu einem, auch wenn man sie nicht immer ganz versteht.
3. Für Carole ist es mehr als für Francois. Sie liebt ihn wirklich. Als sie beruflich nach London muss – was genau denn nun ihr Beruf ist, außer Celebrity zu sein, erfahren wir natürlich zu keiner Sekunde -, vermisst sie ihn auf physisch schmerzende Weise. Dennoch kann oder will sie sich nicht von ihrem Ehemann trennen. Einmal erwischt der die Beiden beinahe in flagranti. Einzig der Umstand, dass Caroles Mann seinen Wohnungsschlüssel verlegt hat, gibt Francois die Möglichkeit, sich schnell aus dem Schlafzimmer zu stehlen, sich im Salon zu verstecken und, als Carole ihren Gatten ablenkt, halbnackt auf die Straße zu flüchten. Diese Straßen sind, wie man es von Garrel gewöhnt ist: mehr eine minimalistische Bühnenkulisse als ein authentischer Ort, entleert von etwaigen Statisten, reduziert auf das Allernötigste. Sein Paris ist an sich bereits eine völlig zeitlose Stadt, schon immer. Kaum hat es sich verändert in seiner nunmehr fünfzigjährigen Regiekarriere. Autos fahren in ihm herum, aber nicht viele. Die Menschen tragen Kleidung, die zwar nach der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts aussieht, einem konkreten Jahrzehnt zugeordnet werden kann sie nicht. Von summenden Handys fehlt jede Spur. Stattdessen E-Mails oder SMSen schreiben sich die Personen in Garrels Privatkosmos noch lange Briefe voller bedeutungsschwangerer Phrasen. Vielleicht hat man Glück (oder Unglück?) und sieht irgendwo mal im Hintergrund einen Fernsehapparat flimmern. Als in LA FRONTIÉRE DE L’AUBE einmal ein Grabstein zu sehen ist, auf dem man als Todesdatum der Verstorbenen das Jahr 2007 lesen kann, wirkt das mehr noch als wie ein Anachronismus, nämlich wie ein regelrechter Schock. Denn dieser Film spielt nicht im Jahre 2007. Er spielt in jedem Jahr, und zugleich in keinem. Warum zeigt uns aber Garrel diese Jahreszahl? Bestimmt ist das seine Art von Humor, genauso still und streng wie seine Filme.
4. Mit Carole geht es allmählich bergab. Ihr Alkoholkonsum ist schon seit Beginn des Films einer, der gerne über die Stränge schlägt. Nun, wo Francois sich langsam von ihr abwendet und sie nicht die Kraft oder den Mut hat, ihm zu folgen, und/oder sich von ihrem Ehemann zu scheiden, beginnt sie eine ausgemachte Psychose zu entwickeln. Eines Tages trifft Francois, der schon seit Wochen keinen Kontakt mehr zu ihr gehabt hat, auf der Straße einen gemeinsamen Bekannten. Der erzählt ihm, dass Carole versucht habe, ihre Wohnung in Brand zu stecken, sich bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Zurzeit befindet sie sich in der Psychiatrie. Dort geht es zu wie man es von Garrel gewöhnt ist. Ein bisschen wirkt es wie ein Remake seines eigenen L’ENFANT SECRET, wohl einem der trostlosesten Werke der gesamten Kinogeschichte, wenn Carole – wohlgemerkt: im Jahre 2007! – an eine Maschine angeschlossen wird, die ihren Schläfen Elektroschocks verpasst, und nicht wesentlich glaubwürdiger oder moderner aussieht als die in Sam Fullers SHOCK CORRIDOR. Um zu unterstreichen, dass er es nicht auf Naturalismus abgesehen hat, setzt Garrel gerade in diesen Szenen vermehrt seine geliebte Lochblende ein. Einmal erlöst sie uns von dem Anblick der leidenden Carole. Das Bild schließt sich von seinen Rändern her exakt in dem Moment, als der Storm zu fließen anfängt. Sowieso ist LA FRONTIÈRE DE L’AUBE zusammengesetzt genau aus den Bausteinen, aus denen sich Garrels gesamtes Oeuvre zusammensetzt. Manche Bilder, manche Themen, manche Figuren kehren immer wieder. Da ist Caroles Briefmonolog vom Traum einer Revolution, die niemanden auch nur einen einzigen Tropfen Blut kostet. Da ist die Kamera als Stifterin zwischenmenschlicher Beziehungen. Da ist die Frage, was das denn sei, die Liebe, und ob man sie überhaupt definieren kann, wenn man in der glücklichen Lage ist, lieben zu können. Da sind die Protagonisten, die keinem geregelten Berufsleben nachzugehen scheinen, keinen sozialen, ökonomischen Kontext haben, in den sie eingebettet sind, und die an reichgedeckten Tischen tafeln, Wein trinken, intellektuelle Gespräche führen, scheinbar den ganzen Tag und mindestens die halbe Nacht. Natürlich ist da das Kino, in LA FRONTIÈRE DE L’AUBE weit im Hintergrund, in Gestalt von Caroles Mann, schwebend über der Liebe wie ein Damoklesschwert.
5. Carole begeht Selbstmord. Erneut: Zulawskis L’IMPORTANT C’EST D’AIMER, diesmal die dornenreiche Suizidszene Jacques Dutroncs wie er sich in einer Kneipentoilette mit Tabletten tötet. Carole wählt denselben Weg. Viel Alkohol schüttet sie zuerst in sich, torkelt ins Badezimmer, schluckt, was sie in die Finger bekommt. Mehrere Minuten dauert diese schier unerträgliche Szene, die nicht damit endet, dass Francois sie, wie in einem schlechten Film, rechtzeitig findet. Nein, sie stirbt, und wird begraben, auf einem jüdischen Friedhof. Er besucht sie dort, macht Photos von ihrem Grabstein. Darauf: die Zahl 2007. Abends schläft er mit und bei seiner neuen Freundin, die Eve heißt. Sie wirkt wie das exakte Gegenteil von Carole. Sie ist ruhig, beherrscht, etwas spießig vielleicht sogar. Sie hat einen Plan für ihr Leben, möchte eine Familie haben, Kinder. Als sie schwanger wird, wächst Francois die Beziehung kurzzeitig über den Kopf. Er fordert von ihr eine Abtreibung. Doch sie fängt an zu weinen, und er fügt sich in sein Schicksal. Beinahe stolz erzählt er einem alten Freund davon, dass er nun bald Vater sein wird. Alles scheint seine geregelten Bahnen zu laufen, so wie immer: von der leidenschaftsvollen Revolte hin zu der von geregelten Emotionen bestimmten bürgerlichen Ehe. Diese Liebe wirkt zwar weniger aufbrausend als die zu Carole, aber nicht weniger schön. Dazu trägt nicht zuletzt die Musik bei, die klingt wie man es von Garrel gewöhnt ist. Zuständig ist, als Hauptkomponist, Jean-Claude Vannier. Ihn unterstützt Didier Lockwood an der Geige. Zurückhaltend, beinahe schüchtern entfalten die Beiden einen Klangteppich, der den Bildern niemals von außen irgendwelche fremden Emotionen aufdrängt, sondern vielmehr dazu führt, dass die in ihnen sowieso bereits angelegten Emotionen noch etwas stärker hervortreten. Sowieso verwendet Garrel nie Musik, die einen didaktischen Zweck verfolgt. Stets ist sie nur als Rahmung da, weiter wagt sie sich nicht. Aber, hört man genau hin, muss man erkennen, dass sie ebenfalls ohne die Bilder funktioniert, die sie begleitet. So wie die Bilder ohne sie funktionieren würden. Garrels frühste Filme sind komplett ohne Ton gedreht worden.
6. Francois unternimmt mit Eve einen Ausflug zu einer Hütte mitten im Wald. Während des gemeinsamen Mittags-schlafes hat er einen verstörenden Traum. Es ist Carole, die sich durch eins der Fenster zu dem Pärchen hereinbeugt. Sie flüstert davon, er solle tief in den Wald gehen, dort einen bestimmten Baum suchen, und bei diesem auf sie warten. Was für Francois zunächst ein Traum ist, das ist es für uns, das Publikum, nicht. Die Phantastik bricht mit einer Heftigkeit wie nie zuvor in die filmische Welt Garrels hinein. Heftigkeit, das heißt bei Garrel natürlich so viel wie: still und leise. Dennoch: ein mulmiges Gefühl bleibt. Francois glaubt, geschlafen zu haben. Doch wir, das Publikum, wissen: Carole ist wirklich dort gewesen, hat durch das Fenster geguckt, während Eve und er schliefen, und diese kryptischen Sätze gewispert, fast wie aus einem Märchen. Von nun an wird es, sofern das in einem derart schwarzweißen Schwarzweißfilm überhaupt Sinn macht, bunter und bunter. Carole kommuniziert mit Francois über Spiegel. Ist das nun seine Psyche, die ihn foppt? Wird Francois wahnsinnig? Hat er Caroles Selbstmord, für den er sich unbewusst die Schuld in die Schuhe schiebt, nicht verwunden? Spiegel sind schon bei Jean Cocteau beliebte Mittler zwischen dem Reich der Toten und dem der Lebenden. Orpheus dringt durch einen Spiegel ein, um seine Geliebte aus dem Orkus zu retten. Der Dichter in LE SANG D’UNE POETE stürzt durch einen Spiegel ins Königreich der Poesie. Soll Francois dem Ruf folgen? Sein Geist ist verwirrt, und während er vor Eve die heile Fassade hochhält – immerhin: sie wollen heiraten, er hat inzwischen ihre Eltern kennengelernt, er steckt so tief in der einst verhassten Bourgeoisie wie nie zuvor -, schüttet er bei einem alten Freund – man begrüßt sich mit: Kamerad! - sein wundes Herz aus. Er rät ihm, mit Carole zu kommunizieren. Natürlich, als ausgemachter Materialist und Kommunist, glaubt er nicht daran, dass Carole tatsächlich irgendwo weiterexistiere. Francois selbst ist es, der ihr Erscheinen hervorruft. Doch sei das nicht eine Möglichkeit, sich selbst näher zu ergründen? Francois hilft das nicht weiter. Niedergeschlagen wandert er durch die menschenleeren Straßen. Zu diesem Zeitpunkt sind Schauspieler und Rolle endgültig miteinander ver-schmolzen. Der Hauptdarsteller ist, wie man es von Garrel gewöhnt ist, ein alter Bekannter, nämlich sein eigener Sohn, Louis, mit dem er kurz zuvor bereits das dreistündige Mai68-Epos LES AMANTS REGULIERS gedreht hat. Außerdem hat man ihn als Kind gesehen, in LES BAISERS DE SECOURS. Garrels Filme sind autobiographisch, immer. Nicht nur, weil er gerne Familienmitglieder in ihnen versammelt, seine Kinder, seinen Vater, seine Frauen und ExFrauen. Sie scheinen, rein vom limitierten Sujet her, stets Ausdruck der Träume, Ängste und Gedanken eines einzelnen Individuums zu sein. Deswegen variieren sie in ihren Kernen kaum, deswegen erkennt man von den 60ern bis in das Jahr 2013 in ihnen allen eine bestimmte Handschrift mit bestimmten Eigenarten, deswegen kann man einen lieben und liebt sie alle.
7. Und trotzdem: jeder Film Philippe Garrels ist anders. LA FRONTIÈRE DE L’AUBE fällt aus dem Rahmen, weil er einen grenzenlosen, für manchen Cannes-Besucher bei seiner dortigen Erstaufführung offenbar peinlich wirkenden Romantizismus mit einer eindeutigen als solche bezeichneten Phantastik paart. Rückwärtsgewandt, könnte man das nennen, einem Kino huldigend, das vor fünfzig Jahren vielleicht noch bahnbrechend gewesen ist, wenn überhaupt. Oder aber man bescheinigt LA FRONTIÉRE DE L’AUBE, dass seine Subversion gerade aus dem Fehlen offensichtlich subversiver Tendenzen erwächst. Garrel wagt es, im Jahre 2007 – und sogar noch im Jahre 2013, was das betrifft: man schaue und schwelge in LA JALOUSIE – einen Film zu inszenieren, der ohne große Effekte auskommt, ohne Sex und Gewalt, ohne in irgendeiner Form spektakuläre Elemente. Deshalb vielleicht kann ein Film wie LA FRONTIÉRE DE L’AUBE ein Film sein, der überdauert. Irgendwann heißt es: es ist einer der ältesten Filme seit Menschengedenken. Paris verändert sich von Tag zu Tag, der technische Fortschritt wächst sich selbst über den Kopf, die Jahre purzeln wie Laub. Aber: diesen Film versteht man vielleicht noch in einhundert, zweihundert Jahren. Weil sich diese Fragen jede Generation immer wieder von Neuem stellen wird: was ist Liebe?, was ist der Tod?, wie hängt beides zusammen? Eine solche Geschichte zieht immer.