Le poème - Bogdan Borrowski (1985)

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Salvatore Baccaro
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Le poème - Bogdan Borrowski (1985)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: Le poème

Produktionsland: Frankreich 1985

Regie: Bogdan Borrowski
Als Arthur Rimbaud LA BATEAU IVRE schreibt, befindet er sich in seinem Elternhaus in Charleville, es ist Sommer und er gerade mal sechzehn Jahre alt. Dass er den Text einem Brief an den Dichter Paul Verlaine belegt, wird sein Leben nachhaltig verändern. Verlaine lädt ihn nach Paris ein, Rimbaud und er beginnen eine leidenschaftliche Liebesaffäre, reisen gemeinsam durch Europa, trennen sich schließlich nach einem folgenschweren Schusswechsel. Das lyrische Ich seines Gedichts LA BATEAU IVRE schildert die Ausfahrt des titelgebenden Schiffs, sein Hadern mit Sturm und Gezeiten, sein letztendliches Abdriften und Sinken in für seine Zeit außergewöhnlich radikalen, fragmentarischen, symbolüberladenen Bildern. In nicht wenigen französischen Literaturgeschichten kann man LA BATEAU IVRE als eins der epochemachenden Werke vermerkt finden, mit denen die moderne Lyrik eingeläutet worden sein soll. Im Jahre 1985 verwendet der Regisseur Bogdan Borrowski sein knappes erstes Drittel in einer von Bernard Lavilliers gelesenen Fassung für den zwölfminütigen Kurzfilm LE POÈME, der sich ausschließlich aus Bildern einer Autopsie an einem Männerkörper zusammensetzt.

Was wir zuerst vom Körper des alten Mannes sehen, sind seine Fußsohlen. Er wird ins Bild geschoben: sein schlaffer Penis [wie viele Hände haben ihn gestreichelt?], sein eingefallener Brustkorb [wie lange ist der letzte Herzschlag in ihm her?], sein faltiges Gesicht [was hat es zuletzt gesehen?]. Zwei Männer hieven ihn von der fahrbaren Bahre auf eine fixierte. Sie tragen gelbe Handschuhe, berühren den Toten ohne Zärtlichkeit. Die Kamera befindet sich auf seiner rechten Seite. Der Länge nach durchschneidet sein Körper das Bild. Es ist, als würde er auf etwas warten. Wir hören Möwengekreisch, Meeresbranden, Kinderjauchzen, Sturmgetöse, schließlich schweres Atmen. Eine Männerstimme, aus dem Off.

Hinab glitt ich die Flüsse, von träger Flut getragen,
da fühlte ich: es zogen die Treidler mich nicht mehr.
Sie waren, von Indianern ans Marterholz geschlagen,
ein Ziel an buntem Pfahle, Gejohle um sich her.

Die Pathologen betreten den Raum, gruppieren sich um den Toten. Ihre erste Handlung ist, seine Augen freizulegen. Mit Zange und Skalpell werden ihm die Lider abgetrennt. [Wozu?, frage ich mich, der so etwas noch nie gesehen hat.] Zwei Schnitte in den Brustkorb folgen, einer links, einer rechts, von den Schultern her. Dann ein dritter, hinab bis zum Nabel. Sie beginnen, ihm die Haut abzuziehen. Rohes Fleisch tritt darunter zutage. [Ich muss an meinen toten Vater denken. Man hatte mich gefragt, ob ich eine Autopsie wolle. Ich habe verneint. Man hatte mich gefragt, ob ich ihn noch einmal sehen wolle. Ich habe verneint.] In der Mitte des Mannes klafft ein saftiges Rot, in dem die Rippen wie knöchernes Geäst verlaufen. Seine Augen starren ins Leere. Er ist unbeteiligt, kalt.

Ich scherte mich den Teufel um Männer und um Frachten;
wars flämisch Korn, wars Wolle, mir war es einerlei.
Vorbei war der Spektakel, den sie am Ufer machten,
hinunter gings die Flüsse, wohin, das stand mir frei.

Sie entfernen ihm das Brustbein und legen es, fast wie ein Ahornblatt, vor sein Geschlechtsteil. Überall sind gelbe Handschuhe. Eine Schere taucht in das nachgiebige Fleisch. Ich sehe wie man ihm das Herz entnimmt. [Ich muss an die tote Spitzmaus denken, die ich unten vor dem Haus fand. Ich legte sie auf meine Fensterbank, damit sie trockne. Eine Krähe hat sie mir stibitzt. Vom Bett aus konnte ich die schwarzen Flügel schlagen sehen. Als ich aufgestanden war, um nachzusehen, fehlte von meinem Mäuschen jede Spur.] Nun schließen sie ihm den Brustkorb wieder. Es ist wie das Zuklappen eines Altarbilds, erst die eine Seite, dann die andere. Aber ganz funktioniert die Illusion nicht. Ein rot-entzündeter Streifen verläuft zwischen den Triptychonflügeln, eine Naht, die sich nicht verhehlen lässt.

Derweil die Tide tobte und klatschte an den Dämmen,
flog ich, und es war Winter, wie Kinderhirne stumpf,
dahin. Und wär es möglich, daß jemals Inseln schwämmen,
kein solcher Gischt umbraust’ sie, kein ähnlicher Triumph.

Sie öffnen ihm den Schädel. [Wo kommen meine Erinnerungen hin, wenn ich gestorben bin? In meinem Kopf sind sie nicht mehr, nicht mehr in meinem Herzen. Ich müsste alles, wirklich alles, aufschreiben, um es nicht zu verlieren. Nur für wen? Nur wieso?] Um leichter an die Schädeldecke zu kommen, müssen sie ihm das Gesicht abziehen, zumindest zur Hälfte. Wie eine verrutschte Maske hängt ihm die Stirn über die Augen. Sein Schädel wird regelrecht aufgebrochen. Von hinten schaut die Kamera zu wie sie ihm die Decke abnehmen, wie sie ihm das Gehirn entnehmen, wie eine Leerstelle zurückbleibt, höchstens ein bisschen klebrig schimmernd noch. Das Gehirn kommt in ein Behältnis, das selbst einem Schädel gleicht. Mit leichten Faustschlägen schließen sie den Deckel. Es ist vollbracht.

So süß kann Kindermündern kein grüner Apfel schmecken,
wie mir das Wasser schmeckte, das grün durchs Holz mir drang.
Rein wuschs mich vom Gespeie und von den Blauweinflecken,
fort schleudert es das Steuer, der Draggen barst und sank.

Bloß zwei behandschuhte Hände sind noch übrig, links im Bild, während die Kamera frontal von oben auf den toten Körper blickt. Sie sind gefaltet. [Beten sie?] Dann scheint der Raum leer zu sein, der Tote allein mit sich, ohne Herz, ohne Hirn. Sein Mund steht offen. [Ich muss an eine Ex-Freundin denken. Sie hatte sich die Pulsadern aufgeschnitten. Man fand sie in ihrem Badezimmer. Später sagte sie: warum habt ihr mich nicht sterben lassen?] Zwei Männer treten auf, gemeinsam mit einem Leichensack: helles, undurchsichtiges Plastik. Die Zeit läuft davon. Man muss sich beeilen. Gehetzt wird die Stimme aus dem Off, atemloser je näher der Plastiküberzeug dem Mund rückt. Ein letzter Betrug – mitten im Satz erstickt die Stimme, als das Plastik den toten Körper vollends überschwemmt hat -, danach die große Stille.

Des Meers Gedicht! Jetzt konnt ich mich frei darin ergehen,
Grünhimmel trank ich, Sterne, taucht ein in milchigen Strahl
und könnt die Wasserleichen zur Tiefe gehen sehen:
ein Treibgut, das versonnen und selig war und fahl.

Mit gerade mal neunzehn Jahren schließt Arthur Rimbaud mit der Dichtkunst ab. Nach 1873 wird er keine einzige Zeile Poesie mehr publizieren – was unter seinem Namen erscheint, gibt Verlaine ohne sein Wissen heraus. Statt zu schreiben zieht es den jungen Mann in die Welt hinaus. Er geht nach Abessinien, wird Kolonialwarenhändler. Eine Photographie von 1883 zeigt ihn in Harar mit vor dem Körper verschränkten Armen, hinter sich einen exotischen Baum. Er stirbt am 10.November 1891 um 10 Uhr morgens in einer Marseiller Klink an einem Knochenkrebsleiden, das ihm zuvor schon ein Bein gekostet hat. Zuvor hat er sich bemüht, sämtliche Materialien aus seiner Jugendzeit als poète maudit zu vernichten. Die Nachwelt wird seine Lyrik höher schätzen als er selbst zum Zeitpunkt seines Todes. Am 1. August 1957 erhält Christoph Graf Schwerin folgende euphorische Zeilen von seinem Freund, dem Dichter Paul Celan: „Denken Sie: ich habe das ‚Bateau Ivre‘ übersetzt! In drei Tagen und es war ein ganz merkwürdiger Zustand. Und – nun, mein Stolz hält sich im Augenblick in meiner Nähe auf: es ist, auf Deutsch, das Bateau Ivre. Alles ist gewahrt, Wort, Gestimmtheit, Gestalt.“ Celan begeht am 20. April 1970 vermutlich Suizid, indem er sich in die Seine stürzt. Seine Leiche wird erst am 12. Mai zehn Kilometer stromabwärts aus den Fluten geborgen.
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