Wie so oft, wenn ich mir etwas vornehme, durchkreuze ich die eigene Agenda nur kurze Zeit später selbst. Also finde ich mich fast vor Zapfenstreich des Jahres in einem Screening von UN COUTEAU DANS LE COEUR aus dem Jahre 2018 wieder, der, laut unserem Bux, (der wiederum „Cinema“ zitiert), „eine Mischung aus Psycho-Thriller, Erotikdrama und Neo-Giallo im "Tenebrae"-Stil, mit Vanessa Paradis (!) als Porno-Produzentin“ sein soll. Das Sichtungsergebnis verrate ich schon jetzt: UN COUTEAU DANS LE COEUR ist einer der besten Neo-Gialli, der jemals meinen Weg gekreuzt haben, und dabei eine kuriose Mischung aus den beiden oben so sorgfältig voneinander separierten Vorgehensweisen, wenn man diesem wundervollen Genre als zeitgenössischer Filmschaffender huldigen möchte. Woran liegt das? Ich habe gleich drei Antworten auf die Frage, und weil ich nicht zu viel (oder besser: so gut wie gar nichts) vom Plot verraten möchte, liste ich die nun in aller gebotener Abstraktion auf. Wichtig ist sowieso nur, dass ihr euch den Film anschaut: Bald!, am besten: Sofort!
1) Zwar operiert UN COUTEAU DANS LE COEUR ganz offensichtlich mit etlichen Stilmitteln des Giallo – ein behandschuhter Killer; kunstvolle und kunstblutvolle Morde, die sich mehr ausnehmen wie Ballette denn wie Schlachtfeste; ein einprägsamer Soundtrack der Elektro-Band M83; voyeuristisch blickende Augen als Symbol der dem Film immanenten Schaulust –, zuallererst würde ich ihn aber als Exponenten des Queer Cinema einordnen: UN COUTEAU DANS LE COEUR ist angesiedelt im Kosmos des Spät-70er-Porno-Paris, konkret: der Homo-Porno-Szene – ein Schauplatzwahl, die weniger geschmackvollen Regisseuren als Gonzalez sicherlich zu allerhand Zoten und Plakativismen verleitet hätten. Was Gonzalez daraus macht, ist jedoch bar sowohl jeder Skandalisierung des zeigefreudigen Treibens wie auch jeder Glorifizierung. Nein, völlig selbstverständlich hantiert der Film mit dem Milieu aus lesbischen Pornoregisseurinnen, Drag Queens, Toy Boys. Was UN COUTEAU DANS LE COEUR so sehr adelt, ist, dass der Film es gar nicht für nötig hält, sein Figurenensemble, seinen Schauplatz, seine ganze Bandbreite an gesellschaftlich marginalisierten Gruppen, Themen, Handlungen irgendwie rechtfertigen zu wollen. Es ist, als würden wir einen beliebigen Streifen des klassischen Hollywoods schauen: Niemand fühlt sich bemüßigt, großartige Worte darüber zu verlieren, weshalb wir uns in einer heteronormativen Welt befinden, in der alles am Ende auf den Hafen der Ehe, Kinderglück, Hausfrauentugend und Männlichkeitserprobung hinausläuft. Da wird nichts erklärt, nichts kontextualisiert, nicht mal für irgendetwas um Verständnis geworben, weil es schlicht nicht nötig ist.
2) Damit einhergeht, dass Gonzalez jede einzelne seiner Figuren ernstnimmt: Es sind keine Schablonen, keine austauschbaren Genre-Zitate, keine bloßen Funktionsträger, mit denen wir es zu tun haben. Nein, überall schlummert Tiefe, und wenn sie nur in einem Blick, einer Geste, einem beiläufig fallengelassenen Satz besteht. In einer Szene macht unsere Heldin die Bekanntschaft einer Frau, die zusammen mit ihrem Vater eine Herberge irgendwo in der Pampa betreibt. Für den Plot eher redundant ist eine Szene, in der unsere Heldin dieser Frau ihren Flachmann anbietet. Später bittet sie deren Vater, sie solle seiner Tochter zukünftig den Alkohol verwehren, denn: Schon einmal habe sie zu viel getrunken, und da seien ihr ganz komische Ideen gekommen, nämlich ihn allein zu lassen und auszuziehen und ein eigenes Leben zu beginnen. Was für eine Lebenstragödie hat Gonzalez allein in dieser kurzen Dialogszene versteckt! Oder aber ein Jüngling, der von unserer Heldin quasi vom Straßenrand weg als Pornodarsteller rekrutiert wird, und der völlig verzückt in einem Blue-Movie-Theater sich selbst auf der Leinwand anhimmelt: Ist das nicht wirklich die bessere Alternative zu einer ganz ähnlichen Szene mit Margot Robbie in Tarantinos ONCE UPON A TIME IN HOLLYWOOD? Oder aber der dickliche Mann am Porno-Set, der nur dazu da ist, erschlaffende Darsteller mit seinem Mund wieder aufzurichten, und der antwortet, als man ihn fragt, wie viel er denn für den Job bekomme: Oh, ich wohne doch noch bei meiner Mutter, ich brauche nichts. Oder, überhaupt, Vanessa Paradis in der Hauptrolle, dieses liebenswerte Wrack auf zwei Beinen, ständig betrunken, am Rande der Eskalation, aber auch zutiefst verzweifelt und verletzlich, dass man sie wahlweise in den Arm nehmen oder sie ohrfeigen möchte, um sie wachzurütteln. Völlig unabhängig von der filigran und spannend entwickelten Krimihandlung ist UN COUTEAU DANS LE COEUR angereichert mit Figuren, deren Geschicke mir ehrlich am Herzen liegen.
3) UN COUTEAU DANS LE COUER ist in seinem eigenen Herz aber vor allem eine Selbstreflexion über die Macht der Bilder, die Magie des Kinos, oder besser: verflossener Bilder, verflossenen Kinos, denn, wie gesagt, die Handlung spielt 1979 und die Referenzen erschöpfen sich eben nicht nur bei Argento und Fulci, (dessen wohl schmierigste Szene aus NEW YORK RIPPER – Stichwort: Foot Job – ich mir niemals derart geschmackvoll reinszeniert hätte vorstellen können), sondern zielt vor allem auf die französische Porno-Szene des Goldenen Zeitalters: So ist nicht nur Paradis Charakter einer tatsächlich existenten Pornoregisseurin nachgebildet, sondern in Figurennamen und (fiktiven) Filmtiteln verbergen sich zahllose Querverweise, die für einen Laien auf dem Gebiet, wie mich, kaum zu decodieren sind. Was jedoch relativ leicht verständlich ist: Das wohlüberlegte Türmen von Meta-Ebenen. Ohne den Finaltwist preisgeben zu wollen: UN COUTEAU DANS LE COEUR handelt von Filmen, die dazu gedacht sind, sexuell zu affizieren, von denen aber ein bestimmter rein zufällig über seinen visuell-narrativen Code in einem bestimmten Zuschauer Erinnerungen an einen ganz bestimmten tragischen Vorfall wachruft, die diesen bestimmten Zuschauer zu Morden verführen, die ausnahmslos Menschen treffen, die wiederum an diesem einen bestimmten Film mitgewirkt haben, während zugleich die Regisseurin dieses einen bestimmten Films die Mordtaten als Inspirationsquelle aufgreift, und in ihrem eigenen aktuellen Film verarbeitet. Was ich sagen will: Gonzalez versteht Kino weder als der Realität hinterherhinkend noch als etwas, das die Realität (über)formt. Was Kino ist in UN COUTEAU DANS LE COUER: Ein Möbiusband, in dessen Schlingen Fiktion und Wirklichkeit derart verzahnt sind, dass es eigentlich gar keinen Sinn mehr macht, Distinktionslinien zwischen ihnen zu ziehen. Bonjour Baudrillard!, möchte man rufen, und dann staunen: Da ist endlich einmal ein Neo-Giallo, der kapiert hat, was die Plattitüde wirklich bedeuten könnte: dass man zwischen Traum und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden vermag. UN COUTEAU DANS LE COEUR bringt das nicht nur pointiert auf den Punkt, indem der Film andauernd zwischen Film und Film-im-Film wechselt, oder indem er seine Schlussszene in einem Kino ansiedelt. Heraussticht für mich vor allem seine schlafwandlerische Coda: So zärtlich hat schon lange kein Film mehr gesagt, dass, wenn es keine Träume mehr geben sollte, es auch keine bittere Realität mehr gibt, die man mit diesen Träumen versüßen muss.
Zu erwähnen, dass mich UN COUTEAU DANS LE COEUR ästhetisch-technisch, schauspielerisch, dramaturgisch, thematisch von den Füßen auf den Kopf gestellt hat, erübrigt sich. Um ehrlich zu sein, habe ich von ABRAKADABRA inzwischen bloß noch verschwommene Bilder im Kopf.