Out 1: Noli me tangere - Jacques Rivette (1971/1990)
Moderator: jogiwan
- Salvatore Baccaro
- Beiträge: 3071
- Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10
Out 1: Noli me tangere - Jacques Rivette (1971/1990)
Originaltitel: Out 1 - Noli Me Tangere
Produktionsland: Frankreich 1971/1990
Regie: Jacques Rivette
Cast: Jean-Pierre Léaud, Juliet Berto, Michael Lonsdale, Michèle Moretti, Bulle Ogier, Bernadette Lafont, Francoise Fabian, Eric Rohmer
Abt. Salvatores Torture Chamber of Extreme Cinematic Experiences
Vor einigen Jahren kam mir, von einer ziemlich heftigen Erkältung ans Bett gefesselt, die Idee, die Zeit zu nutzen, mir endlich einmal Filme anzuschauen, für die ich aufgrund ihrer Länge sonst niemals die Gelegenheit finden würde. Darunter befand sich auch Jacques Rivettes OUT 1: NOLI ME TANGERE aus dem Jahre 1971, der regelmäßig weit oben auf Listen der Spielfilme mit den überbordendsten Laufzeiten geführt wird. Meine Erinnerungen an OUT 1 sind brüchig, was vielleicht mit meinem angeschlagenen Gesundheitszustand, vielleicht auch mit dem Film selbst zu tun hat: Manche Bilder geistern erstaunlich plastisch vor meinem inneren Auge herum; andererseits sind diejenigen Bilder, die ich nicht vergessen habe, eigentlich doch einigermaßen wenige für einen Film, der insgesamt 760 Minuten dauern soll. Ich kann retrospektiv nicht mal mehr mit Bestimmtheit sagen, ob mir OUT 1 behagte, ob ich ihn anstrengend fand, was der Streifen konkret emotional in mir ausgelöst hat. Er ist wie ein Fiebertraum, eng verbunden mit vollgeschwitzten Decken, mit pochenden Schläfen, mit Taschentüchern, die wie zerknüllte Tauben um meine Matratze herum liegen. Wie könnte ich also die Chance ausschlagen, OUT 1 einmal in seiner vollen Pracht auf der Großen Leinwand wiederzutreffen? Kurz vor Weihnachten wird einem nämlich genau dieses Angebot an der hiesigen Kunsthochschule gemacht. Morgens um 9 Uhr darf man sich im hauseigenen Kino einfinden, und sich, wenn einem vorher nicht die Pobacken wundgeworden sind, um 22 Uhr nach Hause begeben. Die Straßen sind von Glatteis überzogen, als ich kurz nach 8 aus der Haustür stolpere: Sämtliche Termine wurden abgesagt; ich habe mir vollumfänglich freigenommen, um diesen einen Tag nicht bei meinem Tête-à-Tête mit Rivette gestört zu werden; einzig auf den Fahrbahnen kann man sich halbwegs gefahrlos fortbewegen, jeder Schritt auf den Bürgersteig bedeutet eine Wette mit dem eigenen Hals, dass er nicht gebrochen wird.
Gedreht hat Rivette OUT 1 im Frühjahr 1970. Eine erste Schnittfassung dauert bereits 13 Stunden. Kein Verleih ist bereit, das Risiko auf sich zu nehmen, ein solches Filmmonstrum regulär in die Kinos zu bringen, weshalb Rivette endlich klein beigibt und eine, sagen wir, zugänglichere Version erstellt, die lediglich vier kompakte Stunden in Anspruch nimmt und Ende 1972 unter dem bezeichnenden Titel OUT 1: SPECTRE erscheint. OUT 1 als Gespenst, als Phantom, als Schatten seiner selbst: Über und über mit Fleisch und Haut beladen wird das Projekt erst fast zwei Dekaden später, als Rivette finanzielle Unterstützung vom Westdeutschen Rundfunk und vor allem dem französischen Kulturministerium erhält, um sein Rohmaterial in eine Form zu bringen, die seiner ursprünglichen Vision entspricht. Das Ergebnis heißt nun OUT 1: NOLI ME TANGERE und wird als eine Art Mini-Serie veröffentlicht: Acht Episoden von je circa eineinhalb Stunden Länge. Besonders ernst scheint mir Rivette das Serienformat indes nicht zu nehmen, vielmehr wirkt es außerordentlich parodistisch, wenn jede Episode mit einem Cliffhanger endet, der im Grunde gar keiner ist, oder wenn jede Episode mit Schwarzweiß-Stillphotographien beginnt, die den Anschein erwecken, sie würden markante Szenen der vorherigen Folge zusammenfassen, in Wirklichkeit aber völlig wahllos zusammengewürfelte Impressionen darstellen, anhand derer nun wirklich kein Mensch die zurückliegende Handlung rekonstruieren könnte. Ach, und überhaupt: Handlung? Welche Handlung? Gibt es überhaupt eine Handlung? Und wenn ja, wie viele? Anfang der 90er soll OUT 1 im Programm des WDR gezeigt worden sein. Gerne hätte ich die Gesichter der Menschen gesehen, die reinzappten, weil sie eine handelsübliche Vorabendserie erwarteten.
Zunächst bin ich mit dem Organisator, einem jungen, enthusiastischen Filmstudenten, allein im Kinosaal. Erst im Laufe des Morgens und Vormittags trudeln mehr Interessierte ein. Zwei bleiben bis zum bitteren Ende, die meisten schauen nur kurz herein, lassen sich früh vom Treiben auf der Leinwand in die Flucht schlagen, oder lassen sich nur nieder, um sich am bereitgestellten Bier oder den Baguettes zu laben. Pausen gibt es nur dann, wenn der Organisator die Datenträger wechseln muss: OUT 1 gibt es auf vier Blu-Rays, von denen jede zwei Episoden beherbergt. Nur einmal verlasse ich für fünf bis zehn Minuten die Vorstellung, um ein wichtiges Telefonat zu führen; ansonsten bin ich in meinem Sessel in der vordersten Reihe wie fixiert, rühre mich nur vom Fleck, wenn Blase oder Magen rebellieren, saufe literweise Bio-Cola, lasse mich so sehr von dem Treiben auf der Leinwand einsaugen, dass ich selbst den Kopf eines Freundes, der plötzlich bekifft in meinem Sichtfeld auftaucht und mich zu irgendeiner Party mitnehmen möchte, die zeitgleich im selben Gebäude stattfindet, unwirsch wegwedele: Nein, jetzt nicht! Siehst Du nicht, ich schaue gerade einen Film!?
Nouvelle Vague ins Extrem gesteigert, so könnte man OUT 1 vielleicht zusammenfassen. Oder als Grabkranzniederlegung der französischen Neuen Welle: Eine Sache, die so weit auf die Spitze getrieben wird, dass sie letztendlich sich selbst verliert. Rivettes vorherigen drei Spielfilme zeichneten sich bereits durch Überlängen aus: PARIS NOUS APPARTIENT (1961) und die Diderot-Adaption LA RELIGIEUSE (1966) dauerten zwar nur knapp zweieinhalb Stunden, bei L’AMOUR FOU (1969) musste sich ein ungeduldigeres Publikum in Anbetracht der Laufzeit von 252 Minuten schon hilflos geschlagen geben. Ebenso hat sich bei Rivettes vorheriger Film-Trias gezeigt, dass der Regisseur ein großer Freund des wilden Improvisierens ist: Wie auch in OUT 1 wird die Story vor Drehbeginn lediglich grob skizziert; das Schauspielensemble nimmt eine entscheidende kreative Rolle darin ein, die rudimentäre Grundidee mit Leben zu füllen. Während aber beispielweise LA RELIGIEUSE als Romanverfilmung noch über eine klar nacherzählbare Handlung verfügt, braucht darauf bei OUT 1 niemand zu hoffen: Wirklich alles in diesem Streifen wirkt wie mit der heißen Nadel gestrickt, angefangen von den Figuren über das, was diese Figuren im Verlauf der 13 Stunden tun, bis hin zu technisch-ästhetischen Aspekten wie der oftmals handgeführten, dokumentarisch an den Darstellern klebenden, ihnen hinterhereilenden oder sie neugierig beäugenden Kamera oder der Montage, die immer wieder scheinbar zufällig in statische Plansequenzen plötzlich sekundenbruchteillange Close-Ups von Gesichtern, Gegenständen oder irgendwelchen Straßenszenen einschleust, die wohl ganz bewusst wie ein Bruch wirken sollen – so wie OUT 1 überhaupt mit allem bricht, mit dem man vom Konfektionskino vertraut ist: Nein, kein linearer Plot, nicht mal einer, den man in verständliche Worte fassen könnte; nein, keine psychologisch ausgefeilte Figuren, mit denen man mitfühlen könnte, die man lieben, die man hassen kann; nein, keine Schauwerte jedweder Art, - stattdessen: Flüchtig hingeworfen Situationen, in denen Menschen endlose Monologe halten, sich in endlosen Gesprächen verhaspeln, in denen Menschen seltsame Dinge tun, sich in ihrer Einsamkeit wälzen, ziellos durch ein tristes, graues Paris wandern, in denen jedes neues Ereignis zwar vorgibt, ein Bausteinchen zu sein, das dabei mitwirkt, einen Sinn zu konstruieren, der nach 13 Stunden zu einem Aha-Effekt führt – „Ach, darum ging es also die ganze Zeit!“ -, in Wirklichkeit aber kein bisschen beim Verständnis von irgendwas hilft. Bezeichnenderweise schließt Rivette mit drei beliebigen Frames, die OUT 1 definitiv zu keinem runden Abschluss bringen, sondern vielmehr die generell offene Struktur des Films über Gebühr betonen: In einem Interview erklärt der Maestro, OUT 1 würde von Menschen handeln, die sich nach Nähe sehnen, es allerdings nie fertigbrächten, irgendwen zu berühren oder von irgendeiner Seite her Berührung zuzulassen. Gewissermaßen trifft das auch auf OUT 1 zu, von daher: Mission erfolgreich umgesetzt!, denn OUT 1 ist kein Film, der mich im Herzen packt, der es möglich machen würde, dass man mit Haut und Haar in seiner Fiktion abtaucht, vergessend, dass es sich bloß um eine solche handelt, dem es sein Anliegen wäre, uns irgendeiner seiner Figuren nahefühlen zu lassen. Nouvelle Vague ins Extrem gesteigert, eben: Jeder Dialog in dem Moment ersonnen, in dem er ausgesprochen wird; ein schmuckloses Paris mit Passanten, die andauernd irritiert beim Vorbeigehen in die Kameralinse gucken; willkürliche Schnitte, willkürliche Schwarzblenden; Genre-Versatzstücke, völlig arbiträr zusammengerührt, so wie eine Schießerei mit dem künstlichsten Filmblut aller Zeiten; Selbstreferenzen en masse, wenn Eric Rohmer einen Balzac-Experten spielt, (mit herrlichem angeklebtem Bärtchen!), wenn der Gründer der Cahiers du Cinéma, Jacques Doniol-Valcroze, einen etwas biederen älteren Herrn spielt, der vorzugsweise mit sich selbst Schach spielt, wenn Nouvelle-Vague-Ikone Jean-Pierre Léaud als angeblicher Taubstumme fast schon im Modus zeitgenössischer Street Pranks arglose Café-Gäste belästigt, indem er ihnen so lange schiefe Melodien auf seiner Mundharmonika vorspielt, bis sie ihm kapitulierend endlich den verlangten Franc aushändigen.
Zwei Theatergruppen in Paris. Die eine probt Aischylos „Prometheus“; die andere „Sieben gegen Theben“. Nach drei, vier Stunden erfahren wir beiläufig, dass es ursprünglich eine einzige Truppe gewesen ist, die sich separierte, nachdem auch ihre beiden Leiter, einst ein Paar, sich entschlossen, getrennte Wege zu gehen. In schnittlosen Sequenzen von teilweise bis zu 30 Minuten Länge wohnen wir den Theaterproben bei, beziehungsweise diversen experimentellen Rollenspielen, die die Mitglieder miteinander veranstalten, um, wie es heißt, sich selbst und die Menschen um sie herum ezu ergründen: Man versetzt sich in Trance, verfällt in zulawski-esque Hysterie, brüllt einander mit Tierstimmen an, schmiert sich mit Lebensmitteln ein, wünscht sich in wechselnden Emotionslagen einen „Guten Tag". Das hat etwas Dokumentarisches, zumal Rivettes Handkamera immer dicht am Geschehen verbleibt. Sicherlich stellt es auch ein Abbild der Methoden dar, die prägend für das Schauspiel in OUT 1 selbst gewesen sind. Auf die Dauer sind gerade aber die Theaterszenen wirklich hartes Brot: Wer immer mal miterleben wollte, wie ein und derselbe Akt aus Aischylos „Prometheus“ mit immer anderer Stoßrichtung einstudiert wird, kommt hier auf seine Kosten, - und bekommt als Bonus auch noch die nachfolgende Analyse geliefert, bei der die Schauspieler das, was sie soeben auf die Bühne gebracht haben, im Anschluss noch zusammen bis ins Mark erörtern.
Jean-Pierre Léaud täuscht seine Taubstummheit nur vor, um Parisern ihr Münzgeld aus den Taschen zu locken: Er verteilt Visitenkärtchen, die ihn als „Gesandten des Schicksals“ ausweisen, wofür er jeweils 1 Franc verlangt. Später kann er doch sprechen, nämlich, als er von einer Telefonzelle aus seine Eltern anruft, und Papa bittet, ihm den Presseausweis eines Bekannten zu leihen. Colin, wie Léauds Figur heißt, ist einer großen Sache auf der Spur, wofür er sich als Journalist auszugeben plant: Mysteriöse Briefe erreichen ihn, hinter deren kryptischen Reimen er alsbald meint, Hinweise auf eine Geheimgesellschaft zu erkennen. Diese „Gruppe der Dreizehn“ wiederum beruft auf sich Romane Balzacs, und soll, im Verborgenen operierend, die gesamte Welt in ihren Händen halten, oder so ähnlich. Jedenfalls driftet Colin völlig in bizarre Decodierungspraktiken ab, indem er die Buchstaben bestimmter Briefzeilen zählt, und sich jeden dreizehnten notiert, um daraus irgendwelche weitere Rückschlüsse darauf zu finden, wie er diesen dubiosen Dreizehn auf die Schliche kommen kann. Erst in der Hippie-Boutique von Bulle Ogier aka Pauline kommt er endlich zur Ruhe – und dazu, sich in die Besitzerin zu verlieben. Sämtliche Abschnitte mit Léaud sind in höchstem Maße unterhaltsam: Dieser Mensch kann einfach irgendwelche Sybillismen vor sich hin rezitierend durch die Gassen wandeln und schon habe ich ein Lächeln im Gesicht.
Juliet Berto spielt Frédérique, die gerade ihr Abitur nachholt, ansonsten keinen müden Pfennig in der Tasche hat, und deshalb mit Vorliebe Männer abzockt, indem sie sich beispielweise von ihnen auf einen Drink einladen lässt und, während die Kerle auf einen romantischen Abend hoffen, mit langen Fingern ihre Portemonnaies plündert. Auch zwei Typen, die mit Pornos handeln, diese aber als erzfromme Religionsschriften tarnen, versucht sie zu erpressen; außerdem erleichtert sie einen großspurigen Herrn, der vor ihr im Suff kollabierte, um die Geldscheine, mit denen er vorher noch protzig herumgewedelt hat. In ihrem Innersten jedoch ist Frédérique sterbenseinsam, sitzt tagsüber mit Dolchen spielend in ihrer kargen Wohnung, oder veranstaltet Shoot-Outs, bei denen sie mit verteilten Rollen Angreiferin und Verteidigerin verkörpert, im eigenen Treppenhaus. Eines Tages erbeutet sie bei einer Raubtour ein Bündel Briefe, das ihr kompromittierendes Material zu enthalten scheint, – auf jeden Fall stehen diese Briefe in Verbindung mit der Verschwörung der Dreizehn, die Colin parallel aufzudecken versucht. Alle Beteiligten, die Frédérique indes kontaktiert, haben bloß ein müdes Lächeln für sie übrig: Sie kann die Briefe behalten, wenn sie wolle; keinen Cent würde sie dafür sehen! Dann findet Frédérique spontan die große Liebe, schließt mit dem Jüngling Renaud Blutsbrüderschaft und wird am Ende, weil er sie für jemand anderen hält, von ihrem Augenstern über den Haufen geschossen.
Es stellt sich heraus: Mitglieder der Theatergruppen sind genauso Teil der Dreizehn wie Pauline und der schachspielende Doniol-Valcroze. Allerdings kann von unbegrenzter Macht, die der Gruppe innewohnen soll, keine Rede sein: Eher ist es ein elaborierter Spaß einiger exzentrischer Bekannter gewesen, die sich etwas zu intensiv der Balzac-Lektüre hingegeben haben. Eine Verschwörung als literarischer Inside-Joke, mehr nicht. Das muss auch Colin realisieren: Pure Hirngespinste, nichts sonst! Für den Ausgang von OUT 1 macht es ja, wie gesagt, sowieso keinen Unterschied, ob die Verschwörung nun real ist oder nicht. So wie überhaupt für den Ausgang von OUT 1 nichts irgendeinen Unterschied macht: Ob Colin oder Frédérique nun glücklich bis zu ihrem letzten Atemzug leben oder vor Abspann sterben; ob die Theatergruppen ihre Stücke jemals aufführen oder nicht; ob diese oder jene Person nun jenes oder dieses tut oder nicht. OUT 1 ist ein filigranes Netz, in dem sich alles irgendwie aufeinander bezieht, in dem jede mit jedem irgendwie zu tun hat, in dem alles das Echo von irgendwas anderem darstellt, und in all dieser Überdetermination bleibt letztlich nur ein schönes, bedeutungsloses Nichts, bei dem drei willkürliche Frames vielleicht der einzig sinnvolle Weg ist, es irgendwie abzuschließen.
Am unterhaltsamsten: Léaud nervt ein Ehepaar, das eigentlich nur in Ruhe vor einem Café chillen möchte, so lange mit seiner Mundharmonika, bis der männliche Part desselben, der partout keinen Franc herausrückt, aggressiv wird, anscheinend kurz davorsteht, Léaud an die Gurgel zu springen; Julie Bertos Schießerei mit sich selbst, fast wie aus einem unbeschwerteren Godard-Film; Julie Berto und Doniol-Valcroze in einem langen Gespräch darüber, wie man Schach mit sich selbst spielt; Eric Rohmer als Balzac-Experte; Léaud beim Entschlüsseln seiner Geheimbotschaften und beim Verliebtsein, fast wie ein weiterer Antoine Doinel; die Schildkröte, die Bulle Ogiers Kinder von Michael Lonsdale geschenkt bekommen.
Am anstrengendsten: All die Theaterexperimente mit Schreien, Schnauben, Summen; all die Szenen, in denen Michael Lonsdale mit seiner ehemaligen Geliebten am Meer entlangflaniert und man sich gefühlte Ewigkeiten über Personen unterhält, die nicht anwesend ist und die teilweise den gesamten Film über niemals in Erscheinung treten werden; fast die komplette Episode 8, in der Rivette wie zur finalen Provokation stellenweise die Dialoge durch enervierende Mundharmonikatöne ersetzt oder rückwärts abspielen lässt, damit ich sie ja nicht verstehe; sämtliche Szenen, in denen sich die Mitglieder der Dreizehn darüber unterhalten, wie wenig sie die Erpressungsversuche Frédériques oder die Nachforschungen Colins ernstnehmen, und es dann doch für notwendig halten, sich über diese Belanglosigkeiten gefühlte Ewigkeiten auszutauschen.
Inszenatorisch reißt OUT 1 nicht vom Hocker – und soll es sicher auch nicht: Das ist kein Film, der einen visuell in den Kinosessel blasen möchte, sondern einer, der wirkt, wie aus dem Bauch heraus gedreht. Stellt die Kamera irgendwo hin, Action!, Improvisiert! Spiegel ziehen sich als Leitmotiv durch den Streifen, immerhin, und zuweilen gelingen Rivette hübsche Einstellungen von Figuren, die sich selbst im reflektierenden Glas betrachten – und immer dann, wenn es droht, manieristisch zu werden, folgt eine random Ansicht irgendeiner Pariser Straßenecke oder folgen verwackelte Handkamerabilder eines minimalistischen Theaterproberaums. Extradiegetische Musik: Fehlanzeige. Dafür Mikrofone, die keck ins Bild hängen, oder der Schatten des Kameramanns, der gegen Innenraumwände oder Sandstrände geworfen wird.
13 Stunden später ist nicht nur Rivettes Opus Magnum am Ende, ich bin es erst recht: Meine Schläfen pochen; unter meiner Schädeldecke kräuseln sich Kopfschmerzen; meine Augen sind trocken wie meine Kehle. Tatsächlich hat wohl der Aufenthalt in diesem stickigen Filmstudiosaal, wo nie frische Luft hineinkommt, dafür gesorgt, dass sich mir die Nebenhöhlen regelrecht mit Rotz vollgesogen haben, dass ich einen ganz kratzigen Hals bekommen habe, dass sich meine Wangen anfühlen, als hätte sie das Fieber geküsst – oder hat sich mein Körper einfach automatisch in denjenigen Zustand zurückversetzt, den er damals, vor Jahren, innegehabt hat, als er OUT 1 zum ersten Mal sah, wenn auch nicht am Stück, sondern untereilt in handliche Häppchen, und lediglich auf einem schmalen Laptopbildschirm und nicht auf einer Leinwand, so groß, dass man sich dem, was auf ihr stattfindet, kaum entziehen kann? Kein einziges Mal hab ich an Flucht gedacht, zu ausgeliefert bin ich dem Film gewesen, - dann aber, als die Studis noch anfangen, den Streifen lang und breit analysieren zu wollen, gar einen Stuhlkreis zur Auswertung bilden, fehlen mir die Kräfte und ich schleppe mich wie ein geprügelter Hund davon. Welch Wohltat es ist, eine kühle Dezembernacht einatmen zu können!
Zuletzt geändert von Salvatore Baccaro am Mi 21. Dez 2022, 20:00, insgesamt 1-mal geändert.
Re: Out 1: Noli me tangere - Jacques Rivette (1971/1990)
Tja... Respekt!
it´s fun to stay at the YMCA!!!
» Es gibt 1 weitere(n) Treffer aus dem Hardcore-Bereich (Weitere Informationen)
» Es gibt 1 weitere(n) Treffer aus dem Hardcore-Bereich (Weitere Informationen)
Re: Out 1: Noli me tangere - Jacques Rivette (1971/1990)
Die Veröffentlichung von Arrow steht schon länger auf der Wunschliste. Meine Angst ist nun nicht geringer ...
Das Blap™ behandelt Filme wie Frauen
- buxtebrawler
- Forum Admin
- Beiträge: 40635
- Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
- Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
- Kontaktdaten:
Re: Out 1: Noli me tangere - Jacques Rivette (1971/1990)
Warum nur hatte ich beim Lesen deiner Rezension folgende Zeilen aus einem Zwakkelmann-Song im Kopf?
"Ein französischer Film mit zwei lesbischen Frauen
die sich drei lange Stunden... unterhalten
Tut mir leid, da kann ich echt nicht hinschauen
und muss meines Amtes walten und abschalten
Bei so was fehlt mir schlicht der Thrill
ich verrat' dir, was ich wirklich will:
Ich will 'nen Film mit Bud Spencer und Terence Hill"
"Ein französischer Film mit zwei lesbischen Frauen
die sich drei lange Stunden... unterhalten
Tut mir leid, da kann ich echt nicht hinschauen
und muss meines Amtes walten und abschalten
Bei so was fehlt mir schlicht der Thrill
ich verrat' dir, was ich wirklich will:
Ich will 'nen Film mit Bud Spencer und Terence Hill"
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!
- CamperVan.Helsing
- Beiträge: 10905
- Registriert: Sa 26. Dez 2009, 12:40
Re: Out 1: Noli me tangere - Jacques Rivette (1971/1990)
Dann war das definitiv der falsche französische Film.buxtebrawler hat geschrieben: ↑Do 22. Dez 2022, 09:11
"Ein französischer Film mit zwei lesbischen Frauen
die sich drei lange Stunden... unterhalten
Brigitte, Morgane in Position. Und: Action!
My conscience is clear
(Fred Olen Ray)
(Fred Olen Ray)
- buxtebrawler
- Forum Admin
- Beiträge: 40635
- Registriert: Mo 14. Dez 2009, 23:13
- Wohnort: Wo der Hund mit dem Schwanz bellt.
- Kontaktdaten:
Re: Out 1: Noli me tangere - Jacques Rivette (1971/1990)
ugo-piazza hat geschrieben: ↑Do 22. Dez 2022, 09:37 Dann war das definitiv der falsche französische Film.
Brigitte, Morgane in Position. Und: Action!
Ein-Mann-Geschmacks-Armee gegen die eingefahrene Italo-Front (4/10 u. 9+)Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
Diese Filme sind züchisch krank!
- Salvatore Baccaro
- Beiträge: 3071
- Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10
Re: Out 1: Noli me tangere - Jacques Rivette (1971/1990)
Mehr fällt mir zu alldem nicht ein...
- CamperVan.Helsing
- Beiträge: 10905
- Registriert: Sa 26. Dez 2009, 12:40
Re: Out 1: Noli me tangere - Jacques Rivette (1971/1990)
Man muss Prioritäten setzen!buxtebrawler hat geschrieben: ↑Do 22. Dez 2022, 15:00ugo-piazza hat geschrieben: ↑Do 22. Dez 2022, 09:37 Dann war das definitiv der falsche französische Film.
Brigitte, Morgane in Position. Und: Action!
Bei einer Spielzeit von 12-13 Stunden entspricht das ungefähr 10 klassischen Werken mit Brigitte Lahaie. Die würden vermutlich mehr Freude bereiten
My conscience is clear
(Fred Olen Ray)
(Fred Olen Ray)