Produktionsland: Frankreich 2010
Regie: Benoît Jacquot
Darsteller: Isild Le Besco, Nahuel Pérez Biscayart, Bernard Roquette, Mathieu Simonet, Jérôme Kircher
Obwohl der 1947 in Paris geborene Regisseur und Drehbuchautor Benoît Jacquot seit Mitte der 70er Jahre ein bereits relativ üppiges Oeuvre aus Spiel- und Dokumentarfilmen vorgelegt hat, hatte ich bis vor Kurzem lediglich zwei seiner Filme gesehen, zum einen LA FILLE SEULE aus dem Jahre 1995, der quasi in Echtzeit Virginie Ledoyen dabei begleitet wie sie in ihrer Rolle als normale, junge Frau namens Valérie ihren ersten Arbeitstag in einem Hotel hinter sich bringt, sowie LES ADIEUX À LA REINE von 2012, der aus der Sicht einer Kammerzofe den physischen wie psychischen Verfall des französischen Königshauses am Vorabend der Revolution schildert. Beide Filme haben mich nicht wenig dadurch begeistert, dass Jacquot es schafft, derart nahe bei seinen Figuren sein, dass selbst ein weitgehend ereignisloser Hotelarbeitsalltag wie in LA FILLE SEULE zu einem großen Spektakel wird, und dass er es andererseits bei den wirklich großen Spektakeln wie der Französischen Revolution in LES ADIEUX À LA REINE schafft, nie die üblichen Fehler von Kostümfilmen zu begehen, sich zu theatralischem Pomp und Prunk aufzublasen, sondern stets die gewählte bescheidene Perspektive einer mehr oder minder unbedarften Kammerzofe konsequent beibehält. In dem 2010 erschienenen AU FOND DES BOIS bin ich nun zum ersten Mal einem Film Jacquots begegnet, der mich derart nachhaltig verstört und aufgewühlt hat, dass ich kurz davor bin, ihn zum Meisterwerk auszurufen.
AU FOND DES BOIS beruht auf wahren Begebenheiten. Das behaupten zwar viele Filme, in diesem Fall scheint es jedoch ausnahmsweise zu stimmen. Offenbar hat Jacquot vor allem Gerichts- und Prozessakten gewälzt, in denen von merkwürdigen Ereignissen im Südfrankeich des Jahres 1895 berichtet wird. Ein unbekannter Fremder trifft in einem verschlafenen Provinznest ein, verliebt sich dort in die Tochter des Arztes, der ihn bei sich aufnimmt, und überzeugt sie, je nach Lesart, mittels Hypnose, Magie oder faulen Taschenspielertricks davon, ihr Elternhaus zu verlassen und ihm als willenlose Gefährtin auf seiner Wanderung durch die Wildnis zu folgen. Dabei beginnt AU FOND DES BOIS wie eine schmutzigere Variante von Truffauts L’ENFANT SAUVAGE. Der Arzt, der laut eigener Aussage zusammen mit seiner Tochter Josephine der einzige Mensch innerhalb der Dorfgemeinschaft ist, der über ein Grundmaß an Bildung und Kultur verfügt, d.h. beispielweise lesen und schreiben kann, nimmt den ziemlich verwahrlosten, humpelnden und sich taubstumm stellenden Timothee in seinem Haushalt auf, um ihn als Studienobjekt zu gebrauchen. An dem jungen Burschen, den er einmal wenig unverblümt als Wilden bezeichnet, sollen, ähnlich wie in Truffauts ebenfalls auf historischen Quellen basierendem Film, medizinische, soziologische und biologische Fragestellungen abgearbeitet werden. Schon beim ersten gemeinsamen Abendessen jedoch spürt man, dass zwischen Timothee und Josephine etwas in der Luft liegt und knistert, das mit Liebe auf den ersten Blick wohl zu possierlich, zu nett umschrieben wäre. Es ist wesentlich animalischer, triebgesteuerter, was die beiden jungen Menschen sofort miteinander verbindet, und wird, soviel kann ich verraten, bis zum Schluss des Films niemals in Bereiche rücken, wo es mit Sprache zu fassen wäre. Es sind kleine Gesten, mit denen Timothee Gewalt über Josephine zu gewinnen scheint. Er streicht mit seinem Finger am Rand eines Trinkglases entlang. Er berührt sie an einer bestimmten Stelle ihrer Wirbelsäule. Schließlich, als ihr Vater auf Krankenvisite im Dorf ist, überfällt er sie in der Küche, vergewaltigt sie. Josephine ist ihm völlig hörig, regelrecht an ihn gebunden, und läuft ihm in den Wald und eine ungewisse Zukunft hinterher. Auf ihrer Reise verdienen sie sich Geld mit Gauklertricks, schlafen mitten im Forst. Josephine ist Timothees Sexspielzeug: er nimmt sie sich, wann er will, wo er will und wie er will. Mehrmals versucht sie zu fliehen, doch etwas lässt sie immer wieder zu ihm zurückkehren. Die Frage, die bleibt: was ist dieses Etwas, das sie an ihren Entführer kettet?
Es sind wahre Besessenheitsszenen, in die AU FOND DES BOIS während seiner ersten Hälfte immer wieder verfällt, und in denen Isild Le Besco eine der hysterischsten schauspielerischen Leistungen absolviert, die ich jemals außerhalb eines Films von Andrzej Zulawski gesehen habe. Tatsächlich wirkt AU FOND DES BOIS über weite Strecken auf mich, als habe Louis Malle beim großartigen Finale seines LACOMBE LUCIEN nicht haltgemacht, sondern sich entschlossen, weitere neunzig Minuten darauf zu verwenden, ein Remake von Zulawskis SZAMANKA nach einem Skript von Werner Herzog zu drehen. Isild Le Besco bewegt sich mechanisch wie ein Automatenmensch, bricht in Schreie aus, reißt die Augen weit auf und wirft an Irrsinn kaum zu übertreffende Blicke in die Kamera, während Nahuel Pérez Biscayart mit verfaulten Zähnen und hämischem Grinsen wie ein koboldhafter Puppenspieler ihre Exzesse dirigiert. Sex und Gewalt dominieren diesen Film zwar definitiv nicht in graphischer Hinsicht, trotzdem greift AU FOND DES BOIS seine Zuschauer regelrecht physisch an, reißt die Grenze nieder, die normalerweise zwischen Betrachter und Spektakel besteht, um die Besessenheit seiner Hauptfigur über die Leinwand hinaus zu transportieren. Die fast schon unheimliche Nähe zu seinen Protagonisten, die ich schon bei LA FILLE SEULE und LES ADIEUX À LA REINE gespürt habe, steigert sich in AU FOND DES BOIS vor allem in den Szenen, in denen Timothee seine Macht über Josephine schonungslos ausspielt, in eine nahezu durchbohrende Intimität, die man als Zuschauer kaum zulassen möchte. AU FOND DES BOIS ist einer dieser Filme, die einen dritten Raum zwischen sich selbst und seinem Publikum etablieren. Man könnte auch, in Bezugnahme auf einen Slogan, mit dem Argentos TENEBRAE einst in Deutschland beworben worden ist, sagen: es ist ein Film wie ein Axthieb – und zwar ein Axthieb, der das gefrorene Eis zwischen Leinwand und Kinopublikum brechen soll.
Dabei ist AU FOND DES BOIS bestimmt von einer Offenheit in der Montage, den Kameraeinstellungen, dem Einsatz der teilweise leicht deplatzierten und leicht überzeichneten Streichermusik, dass prinzipiell jede Lesart möglich ist, mit der der Zuschauer an ihn herantritt. AU FOND DES BOIS gibt nichts vor, lässt alles offen, bezieht keine inhaltlichen, nur ästhetische Statements. AU FOND DES BOIS kann für den einen ein akkurater Historienfilm sein, für den anderen ein feministisches Filmpamphlet, das die Unterdrückung der Frau durch das Patriarchat anprangert. Es ist möglich, in AU FOND DES BOIS einen antifeministischen, das Patriarchat stützenden Film zu sehen, man kann ihn als äußerst grimmige, gegen den Strich gebürstete Liebesgeschichte verstehen, oder gar als düsteres Fantasymärchen, das von einer magiebeseelten Welt erzählt. Jacquot liefert einzig Bilder, keine Erklärungen dazu. Selbst das antiklimatische Ende, das in langen Verhören und Gerichtsverhandlungen mündet, stellt mehr Fragen als dass es Antworten geben würde. Dieser Film behandelt sein Publikum wie jemanden auf Augenhöhe, mündig genug, dort Sinn zu stiften, wo noch keiner ist, und sich selbst einen Weg zu bahnen durch die dichten Wälder Südfrankreichs.
In Deutschland ist AU FOND DES BOIS übrigens unter dem irreführenden, wenig nützlichen Titel DEEP IN THE WOODS – VERSCHLEPPT UND GESCHÄNDET auf einer DVD erhältlich, die ich trotzdem jedem ans Herz lege, sofern es für sprachlos machenden Frauen-Performances in Zulawski-Filmen wie LA FEMME PUBLIQUE, POSSESSION oder SZAMANKA, die wunderschön-märchenhafte, stille, andächtige aber auch bedrohlich-blutige Kinematographie und Ästhetik von Louis Malles BLACK MOON, den hypnotischen, schlafwandlerischen Zauber von Werner Herzogs HERZ AUS GLAS und generell für die Schönheit und Düsternis südfranzösischer Wälder schlägt. Was für ein grandioser Film!