Gherasim Luca - Le Vampire passif [1945]

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Salvatore Baccaro
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Gherasim Luca - Le Vampire passif [1945]

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Schon lange hat mich kein Text derart verstört und zugleich fasziniert wie dieser hier, in dem wir erfahren, wie der rumänische Surrealist Gherasim Luca sich Anfang der 40er Jahre, als Jude und Avantgardist von der Militärdiktatur in die innere Emigration gezwungen, bizarren Experimenten mit surrealistischen Objekten hingibt, die aus Gefundenem, selbst Hergestelltem und Ergänztem bestehen, und in deren Zuge er einen neuen Objekttypus, das "objektiv dargebotene Objekt" kreiert, mit dem es möglich sein soll, die eigenen unausgesprochenen Begierden nicht nur, wie im sattsam bekannten "objet trouvé", manifest werden zu lassen, sondern diese auch im Austausch mit jenem Individuum, dem man das jeweilige Objekt offeriert, auszuagieren; in dem wir jedoch ebenfalls Zeugen werden, wie Luca allmählich die Kontrolle über seine Versuchsanordnungen verliert, von den eigenen Objekten nahezu dämonisch besetzt wird, den Tod eines Kindes verursacht, den Tod des Vaters eines Freundes verursacht, letztlich gar ein Erdbeben auslöst, das halb Bukarest in Schutt und Asche legt, sich schließlich endlich lustvoll in die neue Rolle als Weltzerstörer hineinbegibt, einen Pakt mit dem Teufel schließt, sich als Kindsmörder imaginiert, als Blutsauger, als Gewaltstraftäter, was in hymnischen Anrufungen Satans, in exzessiven Gewaltphantasien, in die Kohärenz menschlicher Sprache und Logik überschreitenden ekstatischen Deklamationen von allem Schlimmen und Übeln gipfelt, bevor der Autor letztlich doch noch eine, wenn auch eigenwillige, Versöhnung darin findet, dass er auf eine Frau trifft, mit der er seine Sexualität via Objekttausch auszuleben vermag, so wie er es sich immer erhofft hat, meine Güte...!

Formal ist das Ganze ein Trip sondergleichen: Zum Teil objektkünstlerisches Manifest, zum Teil nüchtern vorgetragener Bericht der eigenen Forschungstätigkeiten im Objektsektor; vor allem in der zweiten Hälfte eigentlich ein langes Prosagedicht voller Gothic-Motive wie Schakale, Eulen, Fledermäuse, Vampirzähnen, Blutbächen; knietief watend im (Proto-)Surrealismus, wenn Huysmans direkt zitiert wird, Lautréamonts "Maldoror" erwähnt wird, wenn Bretons "Nadja" in manchen Passagen stilistisch Pate steht; dazwischen satanische Litaneien, Photographien der geschilderten Objekte, die teilweise wirklich creepy sind, offenherzige Auskünfte über die eigenen devianten Sexualpräferenzen des Autors usw.

Wenn man denkt, man hat schon alles im Bereich des Surrealismus beackert, begegnet einem dann doch ein Text wie dieser, und begräbt einen unter den Trümmern einer von Erdbeben niedergeschmetterten Altstadt...

In englischer Übertragung ist Lucas seinerzeit auf Französisch im Selbstverlag in einer Auflage von knapp 500 Stück erschienener "Vampir" 2009 bei Twisted Spoon von Krzysztof Fijalkowski herausgegeben worden, der sinnigerweise auch zu surrealistischen Objekten promoviert hat. Wer schon immer mal wissen wollte, wie sich ein konventioneller Horrorplot - ein Künstler gibt sich Objektritualen hin, um einem Bekannten die Potenz zu nehmen oder einem abwesenden Mann nahe sein zu können, wird dann aber selbst zum Spielball grimmiger Mächte, und bringt Tod und Leid über sich und andere - anfühlt, wenn er von einem fieberträumenden Avantgardisten irgendwo zwischen kunsttheoretischer Abhandlung und exzessiver Transgressionsprosa verfasste wurde, liegt hier so richtig wie Eckzähne in einer Halsgrube...
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