Julien Gracq - Au château d'Argol (1938)

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Salvatore Baccaro
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Julien Gracq - Au château d'Argol (1938)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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…und dann, wenn man überhaupt nicht damit rechnet, stößt man plötzlich auf einen literarischen Text, von dem man nie gedacht hätte, dass er einen derart kickt, wie er es dann tatsächlich tut, in einer überfüllten S-Bahn irgendwo nördlich von Hannover, während draußen die Felder und Äcker zu Binnenmeeren geworden sind, inzwischen zugefroren, sodass man, wie mir das meine Großmutter immer wieder vom Rhein in ihrer Jugend erzählt hatte, eine Kirmes darauf errichten könnte…

Auf Julien Gracqs 1938er Debüt-Roman „Au château d’Argol“ stoße ich erstmals als Referenz in Neil Mathesons 2017 veröffentlichter Studie „Surrealism and the Gothic“, die absolut lesenswert den Spuren nachgeht, die der Schauerroman respektive die Gothic Novel innerhalb der surrealistischen Kunst hinterlassen hat – und da ich selbst nunmehr seit Jahren an einem Projekt bastle, dessen Grundpfeiler sowohl der Surrealismus wie die Schauerromantik um 1800 sein sollen, (nur eben fortgedacht zu jenen Kino-Poeten der 60er, 70er, 80er Jahre wie Renato Polselli, die beides, die Avantgarde und die Populärkultur, auf sprachlos machende, tatsächlich genuin surrealistische Weise miteinander vermengen), komme ich nicht umhin, mir das Buch einmal als Fernleihe zu bestellen und dann zeitnah aufzuschlagen.

Der 1910 geborene Gracq ist ein absoluter Outsider im französischen Literaturbetrieb: „Argol“ lehnt der renommierte Verlag Gallimard ab, später revanchiert sich Gracq, der bürgerlich Louis Poirier heißt, damit, dass er den ebenso renommierten Prix Goncourt ablehnt, was zu einem Skandal führt, der sicherlich kalkuliert gewesen ist, denn zeitlebens fühlt sich Gracq, obwohl nie offizieller Teil der Surrealistentruppe um André Breton, dieser eng verbunden. Zu seinen weiteren Steckenpferdchen zählen: Richard Wagner; mittelalterliche Dichtung; die deutsche Romantik; die deutsche Philosophie à la Kant und Hegel; massenhaft vertriebene Groschenromane des 18. und 19. Jahrhunderts mit bedrohlichen Burgruinen, glitschigen Geheimgängen, wildwuchernden Wäldern - und all das lässt sich, mehr oder weniger stark, auch in „Au château d’Argol“ finden.

Die Story selbst ist hermetisch, simpel, zusammengebaut aus tradierten Genre-Versatzstücken, eigentlich kaum der Rede wert: Unser offenbar schwerreicher Held Albert kauft sich das titelgebende Schlösschen „Argol“, um sich in dessen Einsamkeit ganz und gar philosophischen Studien zu widmen. Dann aber stören ihn Gäste in seiner selbstgewählten Isolation: Es ist sein Jugendfreund Herminien, der sich in Begleitung einer neuen Liebschaft namens Heide befindet. Sogleich fühlen sich Heide und Albert zueinander hingezogen – was Herminien zwar bemerkt, jedoch niemals interveniert, sondern es bei beiläufigen Bemerkungen belässt, die jedoch deutlich machen, dass er das Techtelmechtel längst durchschaut hat. Eines Tages nimmt Herminien Heide mit in den furchteinflößenden Wald, von dem das Schloss regelrecht umzingelt ist. Albert macht sich besorgt auf die Suche nach den beiden – und findet Heine allein, nackt, blutüberströmt, gefesselt wie bei einer Bondage-Session. Albert kümmert sich um sie, allmählich setzt der Genesungsprozess ein. Doch dann denken beide nur noch an Herminien und suchen ihn. Während eines langen Waldspaziergangs finden sie ihn wie tot auf dem Boden liegend, wahrscheinlich von seinem Pferd gestürzt. Er wird wiederum ebenfalls behandelt und geheilt. Dann aber zieht sich Heide mehr und mehr in ihre Gemächer zurück, begeht schließlich Suizid per Gift. Herminien nimmt daraufhin Abschied von Albert. Auf dem Fußweg durch den Forst hört er Schritte hinter sich, beschleunigt die eigenen, erhält dennoch einen tödlichen Dolchstoß in den Rücken. Fin.

Peter Bürger schreibt Anfang der 70er in seiner ebenfalls lesenswerten Monographie zum „französischen Surrealismus“, in der er sich nicht unbedingt als Gracq-Fan outet, davon, dass die ellenlangen Beschreibungen von Landschaften, von Interieurs, vom Äußeren der Charaktere in „Au château d’Argol“ – im Gegensatz zum realistischen Roman, wo die Beschreibung funktional auf das erzählte Geschehen hin angeordnet sei – einen „eigenständigen Handlungsträger“ darstelle. In anderen Worten, (so wie man das auch aus zahllosen italienischen Horrorfilmen kennt): Style over Substance. Oder, wie es mir inzwischen viel mehr behagt: Style = Substance. Peter Bürger: „Das Schloß und die es umgebende wilde Landschaft werden nicht als Milieu geschildert, das in einer Beziehung wechselseitiger Abhängigkeit zu den Personen steht, sondern als Elemente, die das ,fatale‘ Geschehen mit hervorbringen.“ (SUSPIRIA ist da echt nicht weit. Jemand, mit dem ich vor Jahren etwas mehr als eine halbe Woche lang amourös in Bologna verbunden war, brachte es auf den Punkt: In SUSPIRIA sind die Räume, die Kamera, die Musik etc. die Hauptfiguren, nicht die menschlichen Protagonisten).

Tatsächlich sucht man psychologische Erklärungen für das Handeln der Figuren, eine Auflösung all der aufeinandergeschichteten Mysterien, selbst eine ansatzweise nachvollziehbare Plotlinie in Gracqs Roman vergebens – dafür werden wir pausenlos mit ausgesprochen detailfreudigen Schilderungen äußerer Vorgänge, (wenn zum Beispiel ein komplettes Kapitel einem gemeinsamen Bad unserer drei Helden gewidmet ist), von Objekten, (wenn ein weiteres Kapitel fast ausnahmslos aus Beschreibungen von Kupferstichen besteht, die sich Herminien vor seinem Verschwinden scheinbar angeschaut hat), von der zuweilen regelrecht phantasmagorischen Natur beschossen, (wenn ein weiteres Kapitel schildert, wie Albert und Herminien sich bei einem Flusslauf treffen, und man ihren Spiegelbildern auf der Wasseroberfläche bis zu einer halbverfallenen Kapelle folgt, die wirkt wie aus einem beliebigen Gothic-Horror-Werk extrahiert - oder wie aus Dreyers VAMPYR, wenn man an die dortigen Schattenreigen denkt).

Gerade dieser Umstand jedoch verzauberte mich wie schon lange nichts mehr: Ich muss jeden dieser meist extrem verschachtelten, fast schon geometrisch angeordneten Sätze mehrmals lesen, um seinen Sinn zu verstehen, nur um dann festzustellen, dass es gar nicht um den Sinn als solchen geht, sondern um die Verschachtelung, die Geometrie, dass ich quasi in eine Falle getappt bin: Gracq schreibt nur so kompliziert, damit ich denke, ich müsse mich anstrengen, um irgendwas unter dieser komplexen Sprache freizulegen, eine Botschaft, ein wichtiges narratives Element, aber Pustkuchen, es geht um die Sprache an sich, es geht darum, wie die Wörter verschlungen sind, selbst ein ganz eigener Wald, in dem man sich verirren kann wie im Märchen, und vielleicht nie wieder herausfindet; ich zucke zusammen bei all den kühnen Metaphern, wenn es von Gefühlen heißt, sie seien „entmutigender als eine Zeitmaschine“, oder der Sand an einem Flussufer knirscht wie die „frische, raue Zunge eines Ochsen“, vor all dem, was man als Pastiche des, wie Breton ihn getauft hat, Ahnvater des Surrealismus, Lautréamont, bezeichnen könnte, wenn es nicht so wunderbar beiläufig passieren würde, so unverkrampft, so mitten ins Schwarze treffend, denn, Leute, im Ernst: was ist denn entmutigender als eine fuckin' Zeitmaschine!?; vor allem begeistert mich aber natürlich, wie der Autor etliche Tropen aus der Populärliteratur hernimmt, um auf ihnen eins der faszinierendsten, weil undurchdringlichsten Prosagedichte zu errichten, die mir bislang untergekommen ist, dieses ganze banale Korsett einer Méange-à-trois an irgendeinem abgeschiedenen Ort, meine Güte, wie viele Heftchenromane haben das zum Thema, und wie sich eben nicht darüber lustig gemacht wird, denn Gracqs Roman ist beileibe keine Parodie, eher das Gegenteil: hier wird affirmativ mit den Vorbildern umgesprungen, Schauerromane werden ernstgenommen, und gerade deshalb ihre eigenwillige Poesie derart luzide herausdestilliert – und dann noch diese bizarren BDSM-Orgien, die jedweder Ratio entbehren, und die Szene, in der sich Albert imaginiert, der Wald um sein Schloss würde sich wie ein Rad drehen, oder all die regelrecht filmischen Effekte wie Überblendungen, Plansequenzen, jähe Montagen, bei denen ich den Roman vor meinem inneren Auge sehe wie etwas, bei dem Dreyer zu VAMPYR-Zeiten, der junge Bunuel und irgendwelche verkopften Sorbonne-Studenten der Literatur gemeinsam Regie geführt haben könnten.

Man muss sich Salvatore als begeisterten Leser vorstellen - und als einen, der genau hier, in einem wenig bekannten französischen Roman kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, endlich ein ästhetisches Artefakt findet, das ihm wenigstens ansatzweise das Süppchen zu antizipieren scheint, das die erwähnten italienischen Kinopoeten wie Polselli dann in den 60ern bis 80ern aus all diesen Ingredienzien kochen werden. BDSM: Check. Laubgewitter in geschlossenen Räumen: Check. Schicksalstriefende Waldkapellen mit unheimlicher Orgelmusik: Check. Keine erklärbare Handlung: Check. Keine Moral, keine Botschaft, nichts, woran sich die menschliche Logik festhalten kann: Check. Im Hinterkopf vernehme ich leise den Score eines ebenfalls aus surrealistischem Geist geborenen Films. Er heißt RITI, MAGIE NERE E SEGRETE ORGE NEL TRECENTO...
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