Leon Hunt - Mario Bava. The Artisan as Italian Horror Auteur (2022)
Moderator: jogiwan
- Salvatore Baccaro
- Beiträge: 3090
- Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10
Leon Hunt - Mario Bava. The Artisan as Italian Horror Auteur (2022)
...und dann habe ich mir auf meinen nunmehr regelmäßigen stundenlangen Pendeleien auf norddeutschen Bahngleisen auch noch diese etwa 250 Seiten schwere Mario-Bava-Monographie zu Gemüte geführt, die 2022 bei Bloomsbury erschien und von Leon Hunt verfasst wurde, einem, wie es auf seiner offiziellen Seite der Brunel University heißt, "Honorary Senior Lecturer" mit Forschungsschwerpunkten in, unter anderem, Horror und Martial Arts Films, über dessen in diversen Sammelbänden verstreute Artikel zum italienischen Genrekino ich in der Vergangenheit bereits öfter gestolpert bin.
Das Vorwort heizte mir ja bereits regelrecht ein, wo der Autor erklärt, ihn haben Frage wie folgenden bei seiner Beschäftigung mit Mario Bava geleitet: "How do reputations – and particularly cult reputations – take shape over time and in different locations? How do we approach a filmmaker like Bava, whose achievements are often compromised by their production circumstances? How and where do we situate him and what issues do his films raise with regards to cultural value? To value is to ‘rank or rate in an actual or imagined pecking order something or someone over another’
(Hubner 2011: 1), but that pecking order is complicated by a filmmaker like Bava, who is simultaneously marginal and (cult-)canonical." In anderen Worten: Dass Hunt sich ausgerechnet jemandem wie Bava widmet, hat zwar, wie er an einer Stelle offen zugibt, durchaus auch damit zu tun, dass er vielen Filmen Bavas viel abgewinnen kann; vor allem aber interessiert ihn an Bava dessen fluider Status irgendwo zwischen "director for hire", professionellem Handwerker und Autorenfilmer - wobei Bava, so Hunts These, im Grunde keine dieser Rollen zur vollsten Befriedigung ausfüllt, denn, wie er andernorts heißt, für einen Auteur-Genius hat Bava zu viele Auftragsarbeiten auf dem Kerbholz, in die er offenkundig selbst zu wenig Herzblut steckte, für einen bloßen Auftragsfilmer, der die Kamera auf das hält, was ihm eben vorgesetzt wird, Hauptsache, die Kohle stimmt, lässt sich doch in zu vielen Filmen so etwas wie eine eigene Handschrift erkennen. Wenn Hunt dann auch noch Zitate von Bourdieu und Foucault bemüht, schürt das zumindest bei mir die Erwartung, es nur vordergründig mit einem Buch über Mario Bava zu tun zu haben; stattdessen dürfte sich hinter dieser Maskerade doch eine tiefschürfende Auseinandersetzung mit Dingen wie Kanonisierungsprozessen, Label-Effekten, sich wandelnden Wertigkeiten usw. verstecken, oder?
Allerdings wird Hunt dem selbstgesteckten Anspruch dann doch nicht wirklich gerecht, denn über weite Strecken erzählt er, wenn auch nicht chronologisch, primär Mario Bavas Filmographie nach: Es gibt einen langen etymologischen Exkurs zum Thema Giallo; es wird darauf hingewiesen, dass nicht überall, wo Bava draufsteht, auch wirklich viel von Bava steckt, dafür aber auf Filmen, die Bava mit keiner Silbe erwähnen, dennoch etwas von ihm verborgen sein kann; wir machen Abstecher zu Filmen, die wohl niemand zur Creme de la Creme des Bava'schen Oeuvres zählen würde, wie namentlich seinen drei Western; wir versuchen den Bava-Style über die Jahre zu erkunden, und zählen dabei mit, wann er wie oft einen Zoom verwendet; wir fliegen mit Bava ins All, kraxeln mit ihm in die Unterwelt, verbringen einen schweißtreibenden Sommertag mit ihm im Innern eines Autos, in dem sich außerdem drei tollwütige Gangster befinden. Kurzum: Hunt unternimmt einen ausschweifenden Streifzug durch die manchmal enttäuschende, manchmal irritierende, zumeist faszinierende Welt des Mario Bava, der etwas von einer gedankenlosen Flaneurie hat - im besten wie im schlechtesten Sinne: Zuweilen scheint der Autor selbst seinen roten Faden zu verlieren, sich auf Details einzuschießen, deren minutiöse Erörterung sich mir nicht zu erschließen vermochte, strauchelt dann plötzlich, weil ein origineller Gedanke ihn touchiert - zu diesem gedankenverlorenen Schlendern passt auch, dass viele Unterkapitel so wirken, als würden sie mitten in einem Argumentationsfluss enden: Sollen wir uns auf die Fragen, die Hunt aufwirft, jedoch nie zufriedenstellend beantwortet, vielleicht selbst einen Reim machen?
Herz- und Goldstück des Buches ist indes das letzte Kapitel, das mit vielen losen Enden der vorherigen versöhnt, widmet sich Hunt doch hier der konkreten Frage, wie Bava zu Lebzeiten von der italienischen, von der französischen und von der angloamerikanischen Filmkritik bewertet worden ist. Ein Füllhorn an spannenden Zitaten erwartet einen hier, das ich mit Gewinn gelesen habe, und das mir außerdem Gelegenheit gab, festzustellen, was für ein netter, hilfsbereiter Mensch der Autor doch ist: Auf eine Mailanfrage, ob er das eine oder andere Zitat, das er nur in einer von ihm selbst angefertigten englischsprachigen Übersetzung liefert, noch im Original vorliegen habe, erreicht mich wenige Tage später eine freundliche Antwort, zusammen mit mehreren Photos der Kritiken, nach denen ich verlangt hatte!
Für Bava-Neulinge ist das Ganze möglicherweise doch zu voraussetzungsvoll, für alle, die eine ungefähre Ahnung vom italienischen Genrekino besitzen, jedoch sicherlich eine unterhaltsame Bahnlektüre...