Hotel - Jessica Hausner
Moderator: jogiwan
- Salvatore Baccaro
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Hotel - Jessica Hausner
Herstellungsland: Österreich, Deutschland 2004
Regie: Jessica Hausner
Darsteller: Franziska Weisz, Birgit Minichmayr, Marlene Streeruwitz, Rosa Waissnix, Peter Strauß
Meine steile These gleich zu Beginn: Bei HOTEL, dem zweiten Spielfilm der Österreicherin Jessica Hausner aus dem Jahre 2004, handelt es sich um nichts weniger als ein Remake von Dario Argentos Meisterwerk SUSPIRIA – das allerdings sicherlich nicht in dem langweiligen Sinne, dass uns hier die Geschichte der Ballettschülerin Suzy Banyon wiedergekäut wird, die, aus den Vereinigten Staaten kommend, in einem eher an München erinnernden Freiburg Einblicke erhält in eine Tanzschule des Grauens – obwohl die Handlung von HOTEL, wie ich beweisen werde, in vielen Punkten frappierende Übereinstimmungen zu der von SUSPIRIA aufweist -, vielmehr rekonstruiert Frau Hausner die Ästhetik, die Atmosphäre, die Intention des Originals, schält sie aus dem märchenhaften Kleid, in dem sie bei Argento noch tanzen, und versetzt sie in den „urdeutschen“ Kontext des Neuen Österreichischen Films, was freilich unvermeidbare Modifikationen mit sich bringt, dennoch, so meine ich, aber nahe genug dranbleibt am Mutterfilm, das der Bezug einfach nicht übersehen werden kann. Im Folgenden also werde ich den Versuch anstellen, aufzuzeigen, wo genau für mich die Verbindungslinien zwischen dem dann doch relativ unbekannt gebliebenen HOTEL und dem frenetisch verehrten SUSPIRIA liegen, was sie trennt, was sie eint, und wo beide Filme unterschiedliche Perspektive auf ein und denselben Gegenstand entwickeln.
Jessica Hausner debütiert im Jahre 2001 mit ihrem Abschlussklassenfilm LOVELY RITA, einem Jugenddrama, das zwar vordergründig die Sprödheit von Landesvettern wie Michael Haneke oder Ulrich Seidl adaptiert, für den findigen Sucher allerdings bereits die eine oder andere Szene bereithält, in der die große SUSPIRIA-Retrospektive von HOTEL zumindest zaghaft angedeutet wird. Natürlich verfährt Hausner in LOVELY RITA noch ganz anders als es Argento jemals getan hätte. Ihre jugendliche Heldin, ein Mädchen namens Rita, das alles andere als „lovely“ ist, eben weil auf sein direktes Umfeld dieses Attribut noch weniger zutrifft, wird von Hausner sozusagen neorealistisch und semi-dokumentarisch in ihren Alltag begleitet. Der ist unspektakulär, erschreckend in seiner kalten Banalität. Rita findet ihre Eltern zum Kotzen, hat nur einen einzigen Freund, den schwerkranken Nachbarjungen, mit dem sie erste sexuelle Spiele veranstaltet, und daraufhin, erwischt von dessen Mutter, eine Kontaktsperre zu ihm verhängt bekommt, wird in der Schule ausgegrenzt, versucht, Aufmerksamkeit bei einem Busfahrer zu erregen, mit dem sie schließlich dann auch ihr erstes Mal in einer Discotoilette erlebt, greift im Finale zur Schusswaffe des Herrn Papa und bläst sowohl dem wie der Frau Mutter die Lebenslichter aus. Von seiner Struktur her und vor allem, was das Finale betrifft, erinnert der Plot stark an den des Fassbinder-Klassikers WARUM LÄUFT HERR R. AMOK? Wohingegen Fassbinder aber bewusst das Groteske und Abstruse im Leben des Herrn R. betont, und sein Publikum zu Lachern reizt, die dann allerdings wieder auf halber Strecke in der Kehle steckenbleiben, steht Hausners Film näher an dem, was wir Realität nennen, schildert ohne Übertreibungen, nüchtern, fast schon frostig, so wie man es schon eher von Hanekes filmischen Familienautopsien gewohnt ist. Der Look von LOVELY RITA ist dementsprechend auch sicherlich keiner, der aufgrund seiner Farbenprächtigkeit auffällt. Gerade deshalb stechen die wenigen Szenen umso heftiger ins Auge, in denen Hausner sich vorsichtig an die grellen Töne in gewissen Werken Argentos oder Mario Bavas vortastet. Am evidentesten wird, was ich meine, wohl in einer Szene relativ am Anfang. Rita steht vor einer Wand voller Klimt-Gemälde, reckt sich, um eins, das ein bisschen schiefhängt, zurück in die Ordnung zu rücken. Bildaufbau, Lichteinsatz sowie der Umstand, dass das Mädchen, der Kamera den Rücken zuwendend, nahezu verloren wirkt vor der geballten Kunst, der sie gegenübersteht, lassen eine bewusste Analogie zu Argento zumindest möglich erscheinen. Ästhetisch verwandt, schlägt der Subtext der Szene indes in eine ganz andere Richtung. Die Gemälde, die Rita übrigens im Laufe des Films noch öfter geraderücken wird, repräsentieren in klassischer Manier unübersehbar all das, was das junge Mädchen erdrückt und gegen das es rebelliert: die Übermacht der Eltern, das ihr von diesen vermachte Erbgut, die Gesellschaft, der sie ausgeliefert ist und die von ihr verlangt, ihre Unterschrift unter all ihre Normen und Konventionen zu setzen, um von ihr im Gegenzug als vollwertiges Mitglied der Gemeinschaft anerkannt zu werden. Kunst, die tötet, jedoch auf andere Weise als die Argentos. Während bei letzterem der Tod immer auch ein physischer ist, d.h. Kunst entweder als Mittler des Todes fungiert, wie das Traumata erweckende Gemälde in L’UCCELLO DALLE PIUME DI CRISTALLO, oder aber gleich als dezidiertes Mordwerkzeug – man denke beispielweise an das Ende von TENEBRAE -, agieren die bürgerlich-elterlichen Kunstwerke bei Hausner nicht als autonome Subjekte, stellen stattdessen eins von vielen Puzzlestückchen dar, die Ritas „inneren Tod“ hervorrufen, sie beschränken, selbst ihr Atmen und Fühlen unfrei machen. Auch in späteren Szenen, wie Ritas Beichte oder dem wahrlich unheimlichen Moment kurz vor Schluss, als sie, nun alleinige Herrin des Hauses, das sie mit den niedergestreckten Körpern ihrer toten Eltern teilt, vor dem Fernseher sitzt und, ohne äußere Einwirkung, eine Lampe sich quasi von selbst einschaltet, was fast so wirkt, als habe Hausner damit andeuten wollen, dass hier und jetzt ein typischer italienischer Schauerhausfilm beginnen könne, in dem die toten Eltern als Geister oder Zombies ihr Unwesen treiben, finden sich derartige Farbspielereien, bleiben aber immer scheu, schüchtern, zurückhaltend, tauschen ihre Keuschheit nie gegen die orgiastischen Räusche ein, wie sie Argento seit PROFONDO ROSSO zelebriert hat. Fakt ist aber auch, dass ich allein aufgrund von LOVELY RITA wohl eher weniger auf die Idee gekommen wäre, diese kurzen Momente in einem ansonsten schmerzhaft naturalistischen Film mit den Märchen in Zusammenhang zu bringen, die Argento einst erzählt hat: erst mit HOTEL stellt Hausner ihre Einflüsse so offen vor uns hin, dass man sie rückblickend auch schon in LOVELY RITA unter der Oberfläche flimmern zu spüren meint.
Bei HOTEL nun ist der Titel Programm. Der Film spielt vollständig in einem Hotel. Um präzise zu sein: nicht irgendeinem Hotel, sondern, wie sollte es anders sein, einem einsamen Waldhotel, dessen Gäste sich vorwiegend aus den obersten Gesellschaftsschichten zusammensetzen. Irene fängt dort neu an. Offenbar startet die junge Frau gerade ins Arbeitsleben und damit in die Eigenständigkeit. Sie ist eben erst von zu Hause ausgezogen, wohnt jetzt im Bedienstetentrakt des Hotels. Von ihrer Vergangenheit erfahren wir nichts, nichts über etwaige Freunde, die sie zurückgelassen hat, einzig mit ihren Eltern telefoniert sie manchmal, und das sind dann Gespräche, in denen keine rechte Kommunikation und erst recht keine Innigkeit zustande kommen mag. Im Grunde zeigt Hausner, deren Stil nach wie vor ein ruhiger, realistischer, nicht wertender, nicht kommentierender ist, uns Irene als Mädchen voller Hemmungen. Selbst wenn sie den hoteleigenen Pool nutzt, um endlich einmal auszuspannen, kommt sie kaum aus dem Kokon heraus, den sie wie eine zweite Haut über ihren Körper gestreift und dann verschlossen hat. In Großaufnahme präsentiert Hausner, was die beiden möglichen Faktoren sind, die sie in diesen komplexbeladenen, introvertierten Zustand versetzt haben. Immer, bevor sie ins Poolwasser springt, legt sie in der Umkleidekabine ab, was sonst Tag für Tag an ihrem Körper sitzt: ihre Brille und ihre Kreuzeskette, d.h. die Symbole des Bürgertums und der Kirche, wie sie schon in LOVELY RITA auftauchen. Überhaupt ist HOTEL für mich so etwas wie die Potenzierung der in Hausners Debutfilm dargestellten Konflikte in einen größeren, erwachseneren Kontext. Problemlos könnte man Irene für eine Rita halten, die bloß ein paar Jahre älter geworden ist, die ihre Eltern nur in ihrer Phantasie erschossen hat, in Wirklichkeit bis zum Abitur bei ihnen geblieben ist, und nun in die Welt hinausflattert, nur um festzustellen, dass die genauso düster und grausam ist wie die des Geburtshauses. Die Parallelen zur Figur der Suzy Banyon sind offensichtlich. Beides sind Mädchen, die bestimmte Wegkreuze passiert haben, und nun, ihrer Kindheit entwachsen, sich den Anforderungen einer Welt gegenübersehen, von der sie nur dann akzeptiert werden, wenn sie ihre Regeln verinnerlichen und nicht verletzen. Über Suzys Vergangenheit erfährt der Zuschauer in SUSPIRIA ebenfalls so gut wie nichts, lediglich ihre Mutter findet mehrfach Erwähnung, über sonstige verwandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen außerhalb der Tanzakademie verliert Argento, sobald Suzy in Freiburg eingetroffen ist, kein Wort mehr. Fast scheint es, als seien Irene und Suzy zwei Wesen ohne Geschichte, Sinnbilder für das Geworfensein des Menschen in das, was Albert Camus schön als das Absurde begrifflich gefasst hat, wofür eben nicht zuletzt spricht, dass sowohl Suzy als auch Irene es dem Zuschauer nicht gerade leicht machen, sie psychologisch einordnen zu können. Suzy mag zwar nicht so gehemmt und unfrei sein wie es Irene zweifellos ist, ihr Charakter verkörpert dennoch ein einziges Mysterium, dessen einzelne Handlungen und Beweggründe nicht immer logisch nachvollziehbar sind, ein Umstand, den sie, wie man weiß, natürlich mit fast allen Protagonisten Argentos teilt, dem es selten darauf ankam, echte Figuren mit echten Emotionen und echten Viten zu schaffen, sondern der vor sein Publikum vielmehr weiße Leinwände mit menschlichen Gesichtern stellte, auf die diese dann ihre Urängste und Urtraumata projizieren können. Besondere Empathie erweckt Irene dementsprechend genauso wenig. Hausners Kamera begutachtet sie beinahe wie ein Geschöpf von einem andern Stern, ein fremdartiges Insekt, ein außerirdisches Tier. Kaum einmal lässt sie den Rezipienten hinter die Maske ihres Gesichts schauen, immer hält die junge Frau sich unter Kontrolle, verlässt nicht das Korsett, das sie um sich geschnallt hat, um in einer ihr feindlichen Umwelt überhaupt überleben zu können. Die Intentionen der beiden Regisseure mag eine unterschiedliche sein – Argento verweigert Suzy eine differenzierte psychische Struktur, um sein Publikum nicht durch biographische Details von den grundsätzlichen psychischen Erfahrungen abzulenken, denen er ihn mit seinem Gesamtkunstwerk SUSPIRIA aussetzt, Hausner lässt ihre Hauptdarstellerin Franziska Weis schauspielerisch übrigens exzellent ein graues Mäuschen spielen, das nicht mal zu sich selbst wird, wenn es mit sich selbst allein ist -, letztlich läuft es darauf hinaus, dass im Mittelpunkt beider Werke eine junge Frau an einem entscheidenden Punkt ihrer Biographie steht, obwohl sie eigentlich gar keine Biographie hat. Hinzukommt dann noch der Umgang Suzys und Irenes mit dem anderen Geschlecht. Nicht einmal die Liebe löst sie, wie in jedem Groschenroman, aus ihrer seelischen Einsamkeit. Anders als Suzy, der ein Ballettschüler schöne Augen macht, jedoch ohne dass daraus wirklich etwas Nennenswertes erwachsen würde, lässt Irene sich zwar auf eine Liaison mit einem Designstudenten ein, geht mit ihm tanzen und in den Wald, wo er sie vermutlich verführt, in beiden Fällen, ob noch verhalten aus der Ferne beäugt oder mitten im leidenschaftlichen Strudel, verspricht die Liebe zu einem anderen Menschen keine Erlösung, keine Heilung, sondern bleibt singuläres Ereignis ohne direkte Auswirkung, in SUSPIRIA schlicht bedeutungslos, in HOTEL mit dem bitteren Beigeschmack, als habe Irenes innere Isolation durch das Techtelmechtel an Größe nur noch gewonnen.
Irene und Suzy sind nicht die alleinigen Hauptdarsteller der Filme, in denen sie auftreten. SUSPIRIA und HOTEL, letzterer macht das ja schon in seinem Namen überdeutlich, mögen von zwei jungen Frauen handeln, die auf unterschiedliche Weise mit den Schrecken der Welt und der Gesellschaft konfrontiert werden, vor allem handeln sie aber auch von den Orten, in denen diese Konfrontation stattfinden. Die Ballettschule in SUSPIRIA und das Waldhotel in HOTEL sind nicht bloße Staffage, reine Hintergrundkulisse für seelische Konflikte, sie sind unzertrennbar mit diesen Konflikten verbunden, evozieren sie regelrecht, und sind dabei sichtbare Emanationen von allem Unaussprechlichem, was von außen oder von innen über uns hineinstürzen kann: in SUSPIRIA ganz gemäß des Märchendufts, der den Film von Anfang bis Ende durchweht, der verlängerte Arm der in ihm hausenden Hexenmutter, in HOTEL, fernab einer konkreten Interpretationsvorgabe, ein Symbol für das Bedrückende der Gesellschaft, in der Irene aufwuchs und nun lebt, und aus der sie im Finale womöglich den Absprung schafft. Aber nicht nur das: beide Gebäude sind auch geographisch ähnlich verortet. Die Ballettschule SUSPIRIAs liegt genauso umgegeben von einem finsteren Wald wie das Hotel Hausners, von beiden scheint es ein gutes Stück bis in die nächste Stadt zu sein, was unweigerlich dazu führt, dass beide Gebäude wie außerhalb von Zeit und Raum stehend wirken, nicht Gegenrealitäten, mehr ins Monströse und Unheimliche verzerrte Spiegelbilder derselben. Für die Verzerrung dienen einerseits die spezifische Art und Weise, wie Argento und Hausner diese Orte zu wahren Höllen stilisieren und andererseits ihre Verquickung mit über sie hinausweisenden Elementen der Tradition und der Folklore.
Schon früh hört Irene von einer Höhle ganz in der Nähe des Hotels. Eine Waldfrau soll dort gelebt haben, ein altes Mütterchen, das mit Kräutern experimentiert hat und letztlich als Hexe verschrien worden ist. Das Hotel selbst rührt mit dieser halbmythischen Figur kräftig die Merchandise-Werbetrommel. In einer Glasvitrine im Foyer ist eine figürliche Darstellung der Kräuterhexe zu finden, die Höhle selbst offenbar ein beliebtes Touristenausflugsziel, jedoch auch für Irene und ihren Liebhaber, mit dem sie ausgerechnet vor ihrem aufgesperrten Schlund intim wird. Diese Hexe wirkt in HOTEL wie ein Relikt aus heidnischer Vorzeit, eine Hexe wie sie Julet Michelet sich in seinem Werk LA SORCIÉRE ausgemalt hat: Aussteigerin aus der Gesellschaft, Suchende nach Autonomie und Selbstverwaltung, Revolten stiftende Rüttlerin an den tradierten Werten. Ihr Unheimliches erwächst aus ihrem Non-Konformismus, ihrem Einschlagen eines Wegs, den Irene sich nicht mal im Traum vorzustellen wagt. An ihrer, um mit Max Stirner zu sprechen, persönlichen Eigenheit kratzt nicht mal das traurige Gesicht des westlichen Spätkapitalismus, der selbst ihre Freiheit noch zu einem verwertbaren, käuflichen und verkäuflichen Gut zu machen versteht. Hausner stellt die Waldfrau somit als eine Alternative vor Irene und ihr Publikum hin, als eine Möglichkeit, anders zu leben, anders zu sein, als die Feindin des Hotels mit seiner streng hierarchischen Struktur, seiner lieblosen, herzlosen Atmosphäre, seiner starren Umgangsformen, in denen ein Mensch wie Irene sich nie verpuppen wird können. Auf den ersten Blick scheinen die Dinge bei Argento anders zu liegen. Dort ist die Hexe, die Mutter der Seufzer genannt, ja, wie jeder zugeben wird, die ins Phantastische übersetzte Darstellung all dessen, was in der Ballettschule, diesem gesellschaftlichen Mikrokosmos, schiefläuft. Die Mutterhexe symbolisiert für Argento sämtliche Aspekte der Erwachsenenwelt, wegen derer Kinder sich im besten Fall verwirrt am Kopf kratzen oder sich verwundert die Augen reiben oder aber, im schlimmsten, zerbrechen wie Streichhölzer. Als Märchenfilm platziert SUSPIRIA seine Kritik folgerichtig in einer Märchenwelt, in der es noch das Böse und das Gute als abstrakte Größen gibt und in denen das Licht siegt, sobald der schwarzen Hexe der Garaus gemacht ist. Hausners Hotel hat zwar kein solches Untier unterm Dach, im Keller oder hinten blauen Blumen versteckt, braucht es allerdings auch gar nicht, um durch ähnliche autoritäre Hierarchien, in denen eine einfache Rezeptionistin wie Irene rein gar nichts zu melden hat, ein ähnliches Grausen zu erzeugen. Die Waldfrau jedenfalls steht dem Hotel diametral entgegenüber, sie ist nicht, wie die Hexe in SUSPIRIA, ein materialisierter Ausfluss der bitterbösen Energien hinter der ansprechenden Fassade. Im direkten Vergleich erinnert sie mehr an Suzy Banyon selbst, die, Argento unterstreicht das mehrmals in SUSPIRIA so deutlich, dass es kein Zufall sein kann, ja offenbar ebenfalls eine Hexe ist, eine gute, die in einem Kampf übernatürlicher Mächte dazu ausgesandt wurde, der seufzenden Mutter den Todesstoß zu versetzen. Während also das Hotel relativ simpel als das Gegenstück zu Argentos Ballettschule in die Waagschale der Interpretationen geworfen werden kann, entspricht der mit zunehmender Laufzeit immer entschlossener und emanzipierter auftretenden Suzy die zur lokalen Legende gewordene, wohl aber tatsächlich einmal existiert habende Kräuterfrau, der Irene, zumindest in meiner Deutung, am Ende, selbst auf die Gefahr der Selbstauslöschung, nachzueifern versucht.
Visuell kann, das sollte klar sein, freilich nichts an den grellen Farbrausch eines SUSPIRIA heranreichen, und Frau Hausner unternimmt diesen Versuch deshalb gar nicht erst, ist HOTEL doch ein reichlich düsteres Werk geworden, ein wahrer Schatten von Film, in dem kaum einmal eine Szene bei Tageslicht oder außerhalb der beengenden Waldhotelmauern spielt, ähnlich vielleicht wie Bonellos L’APOLLONIDE, nur natürlich in ganz anderem Kontext. Trotzdem ist durchaus ein deutlicher Unterschied festzustellen zwischen den harschen, ungeschönten Bildern von LOVELY RITA und den zwar dunklen, dennoch hochartifiziellen, farbenreichen, die Hausners HOTEL bestimmen, dessen Look, scheint es, nicht primär darauf abzielt, die Welt ungefähr so abzubilden wie ist, sondern Irenes Innere sozusagen nach außen bringt, ihn wie Farben und Schatten innerhalb des Hotelkomplexes explodieren lässt, sodass jeder im Schwarz versinkende Korridor, jede traurig-einsame Halle ein Spiegelbild für das wird, was die junge Frau mit sich Tag für Tag herumträgt. Vor allem die Personen und ihr emotionsloser Umgang mit Irene und miteinander ist etwas, das in SUSPIRA vielleicht verkürzter, jedoch nicht weniger bewegend geschildert wird. Irene ist allein unter vielen, schafft es nicht mal, mit ihrer direkten Zimmergenossin nach ersten Irritationen eine halbwegs normale Bekanntschaft aufrechtzuerhalten, sie wird von jedem, angefangen von der Personalleiterin über die Hausmeistergattin bis hin zum obersten Hotelchef, wie ein unmündiges Kind behandelt, dem man keine Zuneigung zu schenken gewillt ist, und das einen schon stört, wenn es nur einmal zu fest irgendwo auftritt und einen somit an seinen lästige Anwesenheit erinnert. Kaum anderes erlebt Suzy in ihrer Ballettschule, nur, erneut Argentos märchenhafter Herangehensweise geschuldet, ins Überdimensionale aufgebauscht, da sämtliche in der Tanzakademie beschäftigten Erwachsenen, und dazu noch ein halbwüchsiger Bengel, ebenfalls nichts weiter sind als ausführende Organe des Hexenwillens, der wie ein Herz im Innern des Bauwerks pocht.
Hausner weiß genau, was sie tut, wenn sie HOTEL mit Referenzen an das Genre spickt, das sie quasi seiner Pulphaftigkeit enthebt und, indem sie es mit dem naturalistischen Blick des Neuen Österreichischen Films koppelt und zu etwas transzendiert, das über enge Genrekorsette weit hinausgreift. Gleich der Anfang, als ihr zukünftiger Chef ihr eine Führung durchs Haus angedeihen lässt, kann gar keine anderen Assoziationen als zu Kubricks SHINING anstoßen, die Tatsache, dass Irene den Platz eines Mädchens besetzt, das vor ihr die gleiche Stellung bekleidet hat, bevor es spurlos verschwunden ist, und von dem sie sich im Laufe des Films Habseligkeiten wie ihre Brille aneignet, erinnert verstärkt an Polanskis großartige Verfilmung des ebenso großartigen Roland-Topor-Romans LE LOCATAIRE, einzelne Szenen wie der misstrauische Blick eines Polizeibeamten, der Irene zugeworfen wird, als die auf dem Weg zum Hotel an einem Fluss vorbeikommt, wo eine ganze Polizeimannschaft dabei ist, den Grund nach eventuellen Entdeckungen aufzusuchen, die über den Verbleib des verschollenen Mädchens Aufschluss geben könnten, sind so rätselhaft, so undefinierbar, so sehr ein mulmiges Gefühl erweckend, das sie auch in einem Film wie Roegs DON’T LOOK NOW oder einem beliebigen Werk David Lynchs nicht negativ auffallen würden. Wieder führt Hausner damit fort, was sie undeutlich schon in LOVELY RITA begann, wo Rita ihrem kranken Freund beispielweise gut sichtbar einen Text Poes vorliest, oder am Ende, wie oben erwähnt, beiläufig die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tode ins Spiel gebracht wird – vor allem beweist Hausner mit ihren mehr oder minder subtilen Zitaten indes, dass sie ihre Vorgänger genau kennt und dass HOTEL in eben dieser Tradition gesehen werden sollte, ein Horrorfilm, der seinen Horror indes nicht nur nicht erklärt, sondern bis zum Schluss derart offen bleibt, dass er es seinen Zuschauern sogar überlässt, eigenständig zu bestimmen, was denn nun genau der Horror in ihm gewesen ist: Irene selbst, in deren Kopf sich alles Rätselhafte abspielt, die Waldfrau, die sie sich als Opfer auserkoren hat und deren Ruf sie schlussendlich folgt, das Hotel mitsamt seiner Belegschaft, die, so scheint es, diverse Mobbing-Anschläge auf sie zu verübt, einfach nur, weil sie ein perfektes Opfer abgibt, oder gar etwas ganz Anderes? So wie Haneke verweigert Hausner jegliche Stellungnahme innerhalb ihres Films. Es gibt keine Wahrheit mehr, es gibt tausende Wahrheiten. Gemäß dieser Formel entwirft Hausner ein Kaleidoskop an Möglichkeiten, deren Wahl ganz allein beim jeweiligen Rezipienten liegt. HOTEL kann, je nach Perspektive des Publikums, ein „richtiger“ Horrorfilm sein, in dem das Übernatürliche in die Alltagswelt einbricht, das Psychogramm einer Außenseiterin, das Dokument einer gesellschaftlichen Ausgrenzung, und noch so einiges mehr. Und das ist dann der grundlegende Unterschied zu SUSPIRIA. Argento wählt das Kleid des Märchens, und in einem Märchen sind alle Dinge benennbar, fasslich, es gibt keine Innerlichkeit, alles wird ausformuliert, alles hat einen fest umrissenen Körper, aus dem heraus es agiert. Hausners SUSPIRIA-Remake aber ist die Rückeroberung einer nicht-stofflichen Metaphysik. Sie trägt dem Zeitgeist Rechnung, indem sie einen Film dreht, der nur interpretiert, nicht erklärt werden kann, indem sie SUSPIRIA ebenfalls nicht interpretiert und nicht erklärt, sondern seine Stimmung, die Ängste, die er anspricht, seine innere Kraft in eine Welt überschifft, die nicht per se entzaubert oder verzaubert ist, vielmehr exakt das darstellt, was darzustellen wir von ihr fordern – und da ich mir die Magie wünsche, ist HOTEL nichts anderes für mich als eine wirklich atemberaubende, subtil-schaurige Verwertung des Konzepts „italienischer Horrorfilm“ in eine Post-Post-Post-Moderne, deren Selbstreflexivität so weit geht, dass sie nicht die geringste Sicherheit und Gültigkeit mehr stehen lässt. Schöner können Remakes kaum sein, und Danke, Frau Hausner, dass Sie SUSPIRIA genauso lieben wie ich, dass Sie diese Liebe in Bilder gefasst haben, die ich lieben kann, und dass Sie es mir ermöglich haben, eins der größten Märchen des Kinos von einer Warte aus zu betrachten, auf die ich selbst nie gekommen wäre.
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Re: Hotel - Jessica Hausner
ich dachte erst, du hast das Drehbuch zum Film abgetippt
aber nein, es sind deine Gedanken zum Film, meine Fresse
Re: Hotel - Jessica Hausner
Den habe ich hier als TV-Aufzeichnung noch herum liegen. Den "Suspiria"-Vergleich ahbe ich auch schon andersweitig vernommen. Ich bin gespannt und muss den jetzt endlich mal gucken.
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- Salvatore Baccaro
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Re: Hotel - Jessica Hausner
Ah! Erinnerst Du dich denn noch, wer wo wann den Vergleich zwischen SUSPIRIA und HOTEL gezogen hat?, bzw.: falls es eine Privatperson im Gespräch unter vier Augen gewesen sein mag, möchte ich das natürlich nun nicht so genau wissen, aber sofern es sich um einen professionellen Filmkritiker oder dergleichen handelte, und Du dich noch an die Quelle erinnerst..? Das würde mich nun doch interessieren... Im Netz jedenfalls habe ich bislang nichts gefunden, was in die Richtung meiner obigen Interpretation deuten würde...Arkadin hat geschrieben:Den habe ich hier als TV-Aufzeichnung noch herum liegen. Den "Suspiria"-Vergleich ahbe ich auch schon andersweitig vernommen. Ich bin gespannt und muss den jetzt endlich mal gucken.
Re: Hotel - Jessica Hausner
Ein Remake von "Suspiria" konnte ich in Jessica Hausners "Hotel" zwar nicht erkennen, aber für mich sucht der Film - obwohl er sich teils seinen Mechanismen bedient - auch nicht unbedingt die Nähe zu irgendwelchen Genre- oder Exploitation-Werken. Ohne auch nur einen einzigen Blutstropfen zu zeigen oder Schreckmomente zu inszenieren, erzählt Hausner anhand eines nicht näher erläuterten Schicksals einer verschwundenen Rezeptionistin und deren Nachfolgerin eine Geschichte über emotionale Kälte, Gleichgültigkeit, Unsicherheit, sowie reale und irreale Bedrohungsszenarios in einem abgelegenen Hotel. Dabei ist der Streifen mit seinem kühlen Bildern und gewöhnungsbedürftigen Soundtrack aufgrund seiner nüchternen Bildsprache und seinen Darstellern durchaus funktional und lässt den Zuschauer immer wieder erschaudern. Das Ende wird den eingefleischten Genre-Fan zwar ebenfalls nicht zufriedenstellen und dennoch ist "Hotel" ein durchaus interessanter Film, den man sich als vielseitig aufgeschlossener Filmfan auch nicht entgehen lassen sollte.
it´s fun to stay at the YMCA!!!
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- Salvatore Baccaro
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Re: Hotel - Jessica Hausner
Jawohl! Ich habe nun übrigens mir auch Frau Hausners dritten und bisher letzten Film namens LOURDES besehen! Was für ein Meisterwerk! Ich glühe! Metaphysik, natürlich, aber weg von Argento und Horror - mehr in Richtung, der Titel deutet es ja schon an: Trost, Zuwendung, Zärtlichkeit eines Gottes oder eines Menschen, mit beinahe dokumentarischem Charakter, Naturalismus, d.h. stilistisch eben so gar nicht metaphysisch, strenger, Haneke-Style, nur eben nicht ganz so streng... subtiler Schmerz, subtile Ironie, ein Film, der einem nun wirklich gar nichts vorgibt... so muss Kunst sein: sie bereitet einem Räume, in denen man umherwandeln kann wie es einem beliebt, und wenn ich meine, dass das Wichtigste an ihm der Fettfleck in der Ecke ist, den irgendein Düsseldorfer Künstler hinterlassen hat, dann steht mir das ebenso frei wie alles andere... Schaut ihn euch umgehend an!
Re: Hotel - Jessica Hausner
Mit der Trägerin des Bremer Filmpreises 2014, der überaus bezaubernden Sylvie Testud!Salvatore Baccaro hat geschrieben:Jawohl! Ich habe nun übrigens mir auch Frau Hausners dritten und bisher letzten Film namens LOURDES besehen!
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Re: Hotel - Jessica Hausner
Eine meiner Lieblingsdarstellerinnen, da könnte ich mir fast vorstellen, einen Film zum Thema Wallfahrt/Wunder ( ) zu guckenArkadin hat geschrieben:Sylvie Testud!