Angels of Revolution - A. Fedorchenko (2014)

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Salvatore Baccaro
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Angels of Revolution - A. Fedorchenko (2014)

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Originaltitel: Angely revolyutsii

Produktionsland: Russland 2014

Regie: Aleksey Fedorchenko

Darsteller: Irina Ermalova, Konstantin Balakirev, Darya Ekamasova, Pavel Basov, Oleg Yagodin

Als ob Alejandro Jodorowsky in seinen Alterswerken wie LA DANZA DE LA REALIDAD oder POESÍA SIN FIN nicht unablässig die eigene Familiengeschichte thematisieren, sondern einen Film über die Auswirkungen der Russischen Revolution auf ethnische Minoritäten der neugegründeten Sowjetunion drehen würde…

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Dabei ist ANGELY REVOLYUTSII aber eindeutig ein Film von Aleksey Fedorchenko – jedenfalls soweit ich das, der ich bislang nur NEBESYNE ZHENY LUGOVYKH MARI von ihm kenne, (und begeistert davon gewesen bin!), dies zu beurteilen vermag. Wie man sich erinnert, war das Vorgängerwerk eine wundersame Ansammlung von Vignetten aus dem Folklorebestand des wolga-finnischen Mari-Volks, die ein bisschen an die lebensbejahende, vitale, erotische Adaption des DECAMERONE durch Pier Paolo Pasolini erinnert hat, nur wesentlich farbenfroher, und beinahe zusammenbrechend unter seinem schillernden Ballast aus verzaubernden Frauengesichtsgroßaufnahmen, phantasievollen Kostümen, und gar nicht mal allzu leisen magisch-realistischen Tönen. In ANGELY REVOLYUTSII sind die Grund-Koordinaten ungefähr dieselben: Auch hier wirft Fedorchenko einen liebevollen Blick auf die indigenen Völker der Nenets und der Khanty, denen von ihren Göttern untersagt worden ist, mit den seltenen Besuchern ihrer sibirischen Heimat in Interaktion zu treten. Genau dies soll aber eine Delegation von fünf Avantgarde-Künstlern unter Führung Polina Schneiders, ehemalige Geheimagentin und Heldin der Revolution, bewerkstelligen – und zwar über den Agitprop-Umweg in Form von vor allem Theaterstücken und anderen performativen Aktionen, deren Zweck es ist, die abgeschiedenen Völkchen aus ihren heidnisch-archaischen Gebräuchen zu lösen, und zu wahren Sowjetmenschen umzuerziehen, notfalls auch mit Gewalt.

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Anders als in NEBESYNE ZHENY LUGOVYKH MARI erfährt allerdings nicht nur die Welt der Indigenen ihre symbolische Erhöhung durch unglaublich detailverliebte und teilweise ordentlich bizarre Garderoben, Set-Pieces und Zeremonielle, von denen einem, ähnlich wie bei Werner Herzogs ekstatischen Wahrheiten, nie ganz klar ist, ob sie nun wirklich dem Kulturschatz der Khanty und Nenets abgeschaut sind, oder sie sich Fedorchenko am Ende doch nur ausgedacht hat. (Im Ernst, gibt es wirklich einen Volksstamm im ewigen Eis, der tote, an Bäumen aufgeknüpfte Kätzchen als Gottheiten verehrt?) Unter Fedorchenkos Zugriff verkehrt sich vor allem auch das utopische Abenteuer des Sozialismus zum inszenatorisch völlig überzeichneten, und nicht selten reichlich augenzwinkernden Rausch – seien es nun die Abenteuer von Polina Schneider, die wirken wie groteske comic-strips eines weiblichen James Bond im Auftrag des Weltkommunismus, einige absonderliche, aber in ihrer sadistischen Qualität wohl durchaus realistische Hinrichtungsmethoden, von denen wir eine bereits aus VIVA LA MUERTE des Jodorowsky-Weggefährten Fernando Arrabal kennen, oder freilich die künstlerischen Betätigungen unserer Helden, bei denen Tiermasken, übergroße Särge, nackte, an Ästen baumelnde Frauen, und suprematistische Gemälde á la Malewitsch zu einem inflationären Einsatz kommen, der sich durchaus als Karikatur auf die zeitgenössische (und gegenwärtige) sogenannte „Avantgarde“ lesen lässt. Die Grenzen zwischen bitterem Ernst, feiner Ironie, historischer Studie und munter dahingaloppierender Phantasie sind dabei fließend. Wie bei Jodorowsky geben sich blutige, grausame, zärtliche, surreale, melodramatische Szene so dicht die Klinke in die Hand, dass man bei all dem Öffnen und Zuschlagen neuer (emotionaler) Türen durchaus das Gefühl haben kann, der Film erschlage einen selbst mit seinen Schlag auf Schlag folgenden Ideen, seiner fragmentarischen, munter in der Chronologie der Ereignisse herumhüpfenden Struktur, seinen zahllosen Haupt- und Nebenfiguren, und dem unüberschaubaren Zwitterpanorama aus Fakten und Fiktionen.

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Dieses Panorama wiederum ähnelt tatsächlich nicht wenig Dziga Vertovs Reise durch die Sowjetunion SCHESTAJA TSCHAST MIRA von 1926, bei der das Kamera-Auge ebenfalls indigenen Völkern einen Besuch abstattet, und, gemeinsam mit der dialektischen Montage, ein Loblied darauf singt, dass nun ein Sechstel der Erde unter dem Banner des Sozialismus endlich zur brüderlichen und schwesterlichen Einheit zusammenfinde. ANGELY REVOLYUTSII hingegen illustriert das exakte Gegenprogramm zu derartig euphorischen Weltverbrüderungschören, nämlich, wie diese Einheit auf Kosten jener ethnischen Minoritäten hergestellt wird, denen es, wenn sie nicht von ihrem alten Glauben lassen wollen, übel ergeht, und, wie weltfremde Avantgardisten diese Einheit herstellen wollen, indem sie unter ihrem egozentrischen Idealismus alsbald die Menschlichkeit vergessen, und, wie machtbesessene Parteioberen nicht zimperlich darin sind, ihre Macht zu vergrößern, und dabei jedes der Ideale zu verraten, denen sie sich eigentlich, auf Lenin schwörend, verpflichtet haben.

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Es wird niemanden wundern, dass mich auch ANGELY REVOLYUTSII auf genau dem richtigen Fuß erwischt hat, und dass wiederum ich mich nicht wenig darüber wundere, was für ein Geheimtipp Fedorchenko offenbar nicht nur hierzulande noch immer ist. Dieser Film ist herber als NEBESYNE ZHENY LUGOVYKH MARI, weniger märchenhaft, noch komplexer, und kein bisschen schlechter.

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