Blätter aus dem Buche Satans - Carl Theodor Dreyer

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Salvatore Baccaro
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Blätter aus dem Buche Satans - Carl Theodor Dreyer

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Originaltitel: Blade af Satans bog

Herstellungsland: Dänemark 1920

Regie: Carl Theodor Dreyer

Darsteller: Hugo Bruun, Nalle Halden, Erling Hansson, Hallander Helleman, Halvard Hoff, Wilhelm Jensen

BLADE AF SATANS BOG ist der zweite Spielfilm des heutzutage weitgehend vernachlässigten dänischen Regisseurs Carl Theodor Dreyer, der mit späteren Meisterwerken wie LA PASSION DE JEANNE D’ARC (1928), VAMPYR (1932) VREDENS DAG (1943) oder ORDET (1955) bereits viel von dem antizipiert hat, was Nachfolgern wie Ingmar Bergman, Andrej Tarkowskij oder Michael Haneke zu Ruhm und Ehre verhelfen sollte. Es handelt sich hierbei um einen klassischen, wenn auch mit einer Laufzeit von fast drei Stunden deutlich überlangen Episodenfilm - vermutlich inspiriert von Griffiths INTOLERANCE (1918), der einem ähnlichen Schema folgt und dadurch zudem geschwisterlich verbunden mit Fritz Langs aus der gleichen Quelle schöpfendem DER MÜDE TOD (1922) -, dessen insgesamt vier Geschichten zwar chronologisch in der Zeit voranschreiten, beginnend, als Herr Jesus noch auf Erden wandelte, und endend mit dem Freiheitskampf der Finnen gegen die russischen Roten in den späten 1910ern, und unter einem gemeinsamen Motto versammelt sind, dennoch aber, rein für sich genommen, auch als eigenständige Kurzfilme durchgehen könnten.

Was nun aber ist es, das Judaskuss, Wehschreie in den Folterkammern der Spanischen Inquisition, das Köpferollen der außer Rand und Band geratenen Französischen Revolution und die Gefechte zwischen finnischen Nationalisten und sowjetischen Kommunisten eint? Der Titel spricht das deutlich aus. Diese vier Anekdoten, das sollen scheinbar vier zufällige, jedoch bezeichnende Extrakte aus dem Büchlein sein, in dem der Leibhaftige seine Erfolgsgeschichte niedergelegt hat. Satan, da erzählen Texttafeln gleich zu Beginn etwas, das im Grunde mittlerweile jeder wissen sollte, wenn er es im Zeichen der Säkularisation nicht schon wieder vergessen hat, war einstmals ein Liebling unseres monotheistischen Gottes, solange jedenfalls bis er sich als Revoluzzer außerhalb der himmlischen Gesellschaft gestellt, eine Gruppe ähnlicher von Engeln zu Punks gewordenen Geschöpfe um sich geschart und versucht hat, den Thron des Allmächtigen zu stürzen. Dass ihn das nicht zum Sieg führte, sondern ihm einzig Verbannung, Elend und Bocksfüße einbrachte, hindert ihn indes nicht daran, bei Gottes neuster Kreation, dem Menschen, seine Verführungskünste weiterhin hartnäckig unter Beweis zu stellen und es auf einen großangelegten Zweikampf zwischen Gut und Böse hinauslaufen zu lassen, bei dem wir nichts weiter sein sollen als relativ willenlose Werkzeuge in den Pranken des einen oder den väterlichen Händen des anderen. Was Dreyers Film jedoch fast ein wenig aus dem herausfallen lässt, was in westlichen Zivilisationen Aufgewachsene noch aus dem Religionsunterricht kennen, ist, dass Satanas hier durchaus als ambivalenter Charakter gezeichnet wird. Sicher, dass die Macht des Teufels der Gottes sehr weit unterlegen ist, das würd jeder Geistliche sofort bestätigen, anders liegt die Sache, meine ich, bei dem Umstand, dass Gott beinahe so etwas wie eine Wette mit dem Höllenfürst abschließt: für jede Seele, die er verdirbt, wird er eine beträchtliche Anzahl Ewigkeit länger in seiner Unterwelt schmoren müssen, für jede Seele, die ihm widersteht und sich trotz seiner Einflüsterungen zu Gott bekennt, wird ihm die gleiche Anzahl an Strafe erlassen werden. Luzifer wird damit selbst zu einer bloßen Spielfigur, in der die widersprüchlichsten Emotionen miteinander streiten müssen: einerseits legt er es allein aufgrund seiner psychischen Konstitution darauf an, Unheil überall zu stiften, wo sich die Gelegenheit ergibt, andererseits bekümmert ihn jedes Gelingen dieses Unheilstifteny, da das für ihn bedeutet, immer weiter von einer eigentlich ersehnten Erlösung weggezerrt werden. Kein besonders schönes Licht wirft das dann im Gegenzug auf Gott, muss einem der doch wie ein wahnsinniger, mit Menschen und Teufeln wie mit Spielbällen jonglieren-der Tyrann erscheinen, der seine Befriedigung nicht darin findet, beispielweise – man kennt das aus Umberto Lenzis MONDO CANNIBALE – einen Mungo und eine Schlange sich duellieren zu lassen, sondern das noch größer, noch epochaler, noch monumentaler aufblasen muss, sodass schlussendlich die gesamte Erde zu einer einzigen Arena wird. Dass ich nicht der Einzige bin, den diese Konstellation von Gut und Böse, die Dreyer im Subtext des Films fast schon auf den Kopf stellt, reichlich überrascht hat, mag zum Beispiel eine Kritik des Users silentmoviefan in der imdb vom 5.7.2013 beweisen, wo dieser, BLADE AF SATANS BOG ein kümmerliches Sternchen zugestehend, lange und breit genau darüber echauffiert: „This movie...makes God out to be an obstinate Meany and Satan out to be a sympathetic character. That's not quite how it really is. I gave this movie a "1" because of that teaching. Anyone who believes that God is an obstinate Meany and Satan is a sympathetic character is in real trouble.“

Nun gut, mein Weltbild hat BLADE AF SATANS BLOG jetzt nicht unbedingt erschüttert, und, sämtliches theologisches Zündstoffpotential mal beiseitegeschoben, ist der Film an sich freilich alles andere als etwas, an dem ich kein Vergnügen empfunden hätte. Vor allem die ersten beiden Episoden haben es mir angetan: die erste, in der Dreyer die letzten Stunden Jesu in Freiheit, getreu des biblischen Wortes in minimalistischem Setting, mit, da man den Ausgang des Ganzen freilich bereits kennt, überschaubarer Spannung und strengen, teilweise ordentlich düsteren Bildkompositionen, bebildert, und die zweite, wohl meine liebste, die im Spanien der Frühen Neuzeit von einem lüsternen Mönch berichtet, der sich in seinen Schützling, die wirklich hinreißende Aristokratentochter Isabella verguckt, sich die Geilheit nicht mal mit der Geißel auszutreiben weiß, bald das Objekt seiner Begierde in frömmsten Madonnenstatuetten imaginiert, und schließlich von Trieb und Teufel geleitet zu Verrat und Vergewaltigung angestachelt wird. Herr Satan höchstpersönlich ist in beiden Episoden aktiv involviert, verkleidet als Pharisäer und Großinquisitor ist es seine Aufgabe, Judas und unseren verliebten Mönch mit allen erdenklichen Tricks zu ihren Schandtaten zu bringen. Szenen wie die, in denen die Römer, die ausziehen, um Jesus einzufangen, durch einen Wald wandern, der einzig vom Schein ihrer Fackeln erhellt wird, oder die, in der Isabellas Vater den raffinierten Torturen der Inquisitionskerker ausgesetzt ist, lassen schon erkennen, um was für einen Düstermensch es sich bei Dreyer ästhetisch handelt, und deuten bereits voraus auf den nahezu seziertischhaften Horror in LA PASSION DE JEANNE D’ARC, das unterkühlte Grausen in VREDENS DAG oder die Alpträume, die mir sein VAMPYR noch immer bereitet.

Leider verliert Dreyer, scheint es mir, ab Episode Nummer 3, mit der wir ins Jahr 1793 gestoßen werden, ein wenig den Fokus. Die letzten beiden Episoden verstehen es für mich nicht mehr allzu gut, ein angemessenes Tempo zu halten, im Klartext: für Episödchen sind sie bereits zu lang, mit zu vielen, teilweise eigentlich sogar für die eigentliche Handlung unnötigen Charakteren bevölkert, langatmig in ihrem Versuch, verschiedene Nebenschauplätze zu synchronisieren, für nominelle Spielfilme indes dann doch wieder zu kurz und vor allem zu sehr auf die Endpointe hin ausgerichtet, die vor allem, was die dritte Geschichte betrifft, in der Satan gleich zweimal in verschiedenen Maskeraden auftreten darf, durchaus knackiger und prägnanter hätte ausfallen können. Zudem fällt auf, dass Dreyer, bekannt dafür, dass er, wie zum Beispiel in ORDET, seine Figuren wie auf einer Bühne präsentiert, wo sie ohne Interventionen seitens des Regisseurs agieren dürfen, beinahe wie Insekten, deren Handlungen wir zusehen und dabei nicht darauf hoffen können, dass sie uns jemand erklärt, sie uns jemand deutet, sondern dazu verurteilt sind, uns unsere eigene Meinung darüber bilden zu müssen, was dieser Satz, jene Geste nun bedeuten mögen und inwieweit man sie mit dem restlichen Film in Einklang oder Zwieklang bringen kann, bezüglich der Französischen Revolution und des Finnischen Freiheitskampfes unmissverständlich Positionen bezieht, aus denen heraus über einen Teil der Welt Licht und über den anderen Schatten fällt. So sind in Episode 3 alle vorgeführten Adligen im Grunde herzensgute Menschen, die für ihr Volk ihr letztes Hemd geben würden, und von diesem im Gegenzug nun selbst die Haut noch abgezogen bekommen, selbst Marie Antoinette, von der Nachwelt zumeist ja entweder als Frau ohne Eigenschaften oder als Despotin interpretiert, hat nie, wird einem da suggeriert, etwas anderes im Sinn gehabt als ihre Untertanen wie eine liebende Mutter zu umsorgen, worauf die ihr jetzt in himmelschreiender Undankbarkeit den Hals abschneiden. Da ein Loblied auf die Monarchie herauszulesen, fällt genauso weniger schwer wie Episode 4 als Schmähschrift gegen das kommunistische Russland zu begreifen. Satan darf hier nämlich als Mönch Iwan auftreten, der exakt so aussieht wie man sich einen bitterbösen Russenmönch nun einmal klischeehaft vorstellt, und einer Horde tumber, blutrünstiger Barbaren gebietet, während die Finnen ausnahmslos aufrechte Familienväter und wehrhafte Familienmütter sind, denen ihre Freiheit und ihre Nation wichtiger sind als ihr schnödes Leben.

In einer Zeit, in der Regisseure wie Eisenstein oder Griffith freilich noch ganz andere Schwarzmalereien betrieben haben, hindert mich das natürlich nicht daran, BLADES OV SATANS BLOG trotz der oben genannten Kritikpunkte dennoch als durchaus sehenswerten Film zu empfehlen, der sich zwar nicht sonderlich weit über das hinauslehnt, was man von einem handelsüblichen Stummfilm der frühen 20er erwarten darf, trotzdem aber, wie gesagt, schon ansatzweise erkennen lässt, in welche Höhen Dreyer sein unbestreitbar vorhandenes Talent noch führen wird: wichtige, später immer wiederkehrende Motive sind hier bereits auszumachen und werden sozusagen in ihrer Embryonalphase aufs Tableau gepackt, noch unausgereift, doch im Wachstum begriffen, vor allem aber auch stilistische Merkmale wie das Spiegeln menschlicher Gefühle in Gesichtern und architektonischen Räumen verschweigen nicht, wessen Handschrift diesen noch nicht perfekten Film unterzeichnet hat. Meine liebste Szene zum Schluss: Einige Kinder spielen Revolution. Das haben sie sich von den Erwachsenen abgeguckt. Angeklagt ist der Bürger Katz, in einem Käfig sitzend und sich die Pfoten leckend. Die Guillotine steht schon bereit, die Mieze einen Kopf kürzer zu machen. Zum Glück entwischt das Kätzchen kurz vor der Hinrichtung durch die Hintertür. Das fand ich putzig und erschreckend zugleich.
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