Blóðrautt sólarlag - Hrafn Gunnlaugsson (1977)
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Blóðrautt sólarlag - Hrafn Gunnlaugsson (1977)
Originaltitel: Blóðrautt sólarlag
Produktionsland: Island 1977
Regie: Hrafn Gunnlaugsson
Cast: Róbert Arnfinnsson, Rúrik Haraldsson, Helgi Skúlason
Eine Raststätte irgendwo in der isländischen Einöde: Eine Gruppe junger Leute genießt ihre Fahrtpause mit lauter Rockmusik und büchsenweise Dosenbier; mehrere Nonnen streifen über das Gelände; ein kahlköpfiger Herr mindestens in seinen späten Vierzigern sucht die Toilette auf, mustert das Urinal skeptisch und entscheidet dann, dass es ihm selbst dafür zu schmutzig sei, seinen Harnsaft aufzunehmen. Als er sich hinterm Rastplatzgebäude ins Gebüsch erleichtern will, merkt er, während er sich bereits am Reißverschluss herumnestelt, dass ihn in unmittelbarer Nähe ein Mann mit nacktem Oberkörper beobachtet, der zufrieden sein Sandwich kaut.
Wenn man weiß, dass es sich bei BLÓDRAUTT SÓLARLAG um einen isländischen TV-Horrorfilm aus dem Jahre 1977 handelt, würde man sicherlich erwarten, das Frühwerk des später mit international erfolgreichen Wikingerfilmen bekannt gewordenen Hrafn Gunnlaugsson schieße sich in der Folge auf die Teenagertruppe ein: Wir folgen ihnen weiter ins grau-triste Hinterland; vielleicht schlagen sie an irgendeinem See mit düsterer Vergangenheit oder in irgendeinem Hexenwäldchen ihre Zelte auf; dann dürfte es nicht lange dauern bis die unheimlichen Vorkommnisse sich häufen; möglicherweise lugt ein isländischer Jason um die Ecke oder die schaurige Folklore des eisigen Eilands erhebt sich gegen die pubertierende Moderne. Aber nein, BLÓDRAUTT SÓLARLAG lässt die Jugendlichen linksliegen, und heftet sich stattdessen an die Fersen von Dóri, dem Glatzkopf mit voller Blase, und seinem Freund Helgi, die unterwegs zu einem vor langer Zeit verlassenen Fischerdorf sind. Dort wollen sie vier, fünf Tage in absoluter Einsamkeit verbringen, fern von den Ehefrauen, den familiären Verpflichtungen, dem bürgerlichen Alltag. Was sie statt einer Reaktivierung ihrer verflossenen Sturm-und-Drang-Phase allerdings in dem geheimnisumwitterten Ort erwartet, das lässt sich so schwer in Worte fassen, dass ich meine Inhaltsangabe dieses zutiefst verstörenden Films an dieser Stelle bereits abbrechen muss.
John Boormans DELIVERANCE. Ingmar Bergmans VARGTIMMEN. Jean Epsteins FINIS TERRAE. Robert Eggers THE LIGHTHOUSE. An alle diese Filme lässt sich BLÓDRAUTT SÓLARLAG mehr oder weniger andocken, wenn er den Großteil seiner Laufzeit darauf beschränkt, uns die beiden wenig sympathischen Helden dabei zu zeigen, wie sie ihre Tage im fluchbeladenen Fischerdorf zubringen: Sie saufen pausenlos, teilweise bis zur Besinnungslosigkeit; sie ziehen vandalierend durch die Geisterstadt, zertrümmern Fensterscheiben, knallen ziellos mit Jagdgewehren in der Gegend herum; sie werden mehr und mehr von Dämonen ihrer Vergangenheit oder ihres eigenen Innern bedrängt: In einer äußerst beklemmenden Szene eröffnet Dóri seinem Freund Helgi ein Erlebnis aus seiner Jugendzeit. Er habe ein paar Wochen in einem Sommercamp verbracht und habe Gerüchte vernommen, dass ein Familienvater offenbar seinen geistig zurückgebliebenen Jungen im Keller eingesperrt halte. Eines Tages habe er sich des Kellerschlüssels bemächtigt und sei währen der mehrstündigen Abwesenheit seiner Gastfamilie selbst hinabgestiegen. Splitterfasernackt sei der Bub gewesen, den er dort unten vorgefunden habe, gezeichnet von körperlichen Misshandlungen, festgekettet an der Wand. Und obwohl er die Hände hilfesuchend nach ihm ausstreckte, habe er sich abgewandt und die Sache niemandem gegenüber mit irgendeinem Wort erwähnt. Trotzdem habe der Familienvater Lunte gerochen – und ihm zur Strafe irgendetwas angetan, was Dóri nicht weiter ausführen möchte. Tja, und nun habe er diesen Familienvater wiedergesehen: Es sei der Fährmann gewesen, der Helgi und ihn zum Fischerdorf übergesetzt habe! Kurz nach diesem (zusammengesponnenen oder realen?) Geständnis sind unsere Helden einmal mehr so sehr besoffen, dass sie mitten im Gespräch einschlafen.
Einmal abgesehen von seiner uneindeutigen, kaum nacherzählbaren Handlung stellt BLÓDRAUTT SÓLARLAG inszenatorisch eine Studie in Minimalismus dar: Die Bilder wirken ausgelaugt wie zu oft gewaschene Wäsche; Musik wird spärlich eingesetzt, besteht oft einzig aus atonalen Drones; Kameraarbeit und Montage sind so schlicht und schnörkellos wie die heruntergekommenen Kulissen voller verwitterter Fischfabrikrelikten, halbverfallenen Wohnhäusern, schroffen Küstenfelsen – nur ein betörend schöner Wasserfall prescht im Rücken der öden Ortschaft als pittoreskes Einsprengsel in die Tiefe, das den umliegenden Verfall nur umso abstoßender wirken lässt. Einen irritierenden Kontrast hält es bereit, dass wir in dieser zeitvergessenen Häuserlandschaft zwei Typen beiwohnen, die haubenbitzvoll so tun, als seien sie noch einmal Anfang Zwanzig, pausenlos sexistische Witze reißen und von Frauen phantasieren, die sie flachlegen wollen, sich aufführen wie die Axt im Walde, getrieben von destruktiver Energie, die sich in ihren normierten, freudlosen Alltagsleben mit der Zeit angestaut hat, - und die, so viel sei verraten, ein tragisches Ende finden, das trotz aller Horror-Atmosphäre den Film endgültig mehr zu einem existenzialistischen Essay als zu einem leicht konsumierbaren Genre-Film stempelt.
In all seiner Sperrigkeit, seiner Weigerung, mir irgendwas zu erklären, seiner todtraurigen, suizidalen Grundstimmung hat mich dieser obskure Streifen auf dem genau richtigen Fuß erwischt…
Re: Blóðrautt sólarlag - Hrafn Gunnlaugsson (1977)
Danke für die Vorstellung des Streifens. Scheint der richtige Stoff für die depressiven Nachmittage im Herbst/Winter zu sein. Pülleken Wein und Kerzenschein.
Das Blap™ behandelt Filme wie Frauen
Re: Blóðrautt sólarlag - Hrafn Gunnlaugsson (1977)
Klingt in der Tat höchst interessant. Muss ich auch mal in den tiefen des Netzes nach forschen...
Früher war mehr Lametta
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