Cinema Inocente - Júlio Bressane (1979)

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Salvatore Baccaro
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Cinema Inocente - Júlio Bressane (1979)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Cinema Inocente

Produktionsland: Brasilien 1979

Regie: Júlio Bressane

Darsteller: Júlio Bressane, Leovegildo Cordeiro, Nunes Pereira


Drei Jahre ist es her, dass ich erstmals von Júlio Bressanes CINEMA INOCENTE höre, einem 1979 gedrehten vierzigminütigen Film, bei dem es sich um eine Art Mockumentary handeln soll, in der der brasilianische Regisseur ein Interview mit einem gewissen Radar führt, seines Zeichens Editor weit über hundert Filme aus dem Pornochanchada-Genre, also jener Sex und Klamauk mixenden brasilianischen Antwort auf die Commedia sexy all’italiana, die sich vor allem in den 70ern größter Beliebtheit erfreuen. Meine Aufmerksamkeit erregt vor allem, dass in einer Szene die erste Leiche der Filmgeschichte, Maria Stuart in dem von Edison produzierten EXECUTION OF MARY STUART, QUEEN OF SCOTS aus dem Jahre 1895, mit jenen Sexklamotten parallelgeschnitten worden sein soll, die der angebliche Filmschnittmeister vor Bressanes Kamera in Form bringt: In meiner Vorstellung rollt der Kopf von Maria Stuart, (bei Edison dargestellt von einem Herrn namens Robert Thomae), im ersten Stopp-Trick der Filmgeschichte – (während die Kamera ausgeschaltet ist, lässt Regisseur Alfred Clark den Stuart-Darsteller durch ein Mannequin austauschen) –, zwischen softpornographischen Balzereien und bündelt Eros und Thanatos damit auf pointierte Weise.

Aber um zu wissen, ob diese Verbindung in CINEMA INOCENTE tatsächlich derart explizit hergestellt wird, müsste ich den Film erstmal zu Gesicht bekommen – und das ist schwieriger, als gedacht, denn weder scheint das Werk kommerziell verfügbar zu sein noch auf dubiosen Internetseiten in Augenschein genommen werden zu können. Deshalb schreibe ich jenem Menschen eine Mail, der mich überhaupt erst mit der Nase auf den Streifen gestoßen hat: Es handelt sich um einen brasilianischen Filmwissenschaftler, der seine Dissertation zum Thema „Artes Plásticas e Erotismo“ in ausgewählten Werken Júlio Bressanes geschrieben hat. Diese Promotionsschrift wiederum ist online einsehbar und beinhaltet Screenshots aus CINEMA INOCENTE, die den Verdacht nahelegen, dass der Autor den Film nicht nur in irgendwelchen Archiven gesichtet hat, für deren Besuch ich ein Flugticket gen Rio hätte kaufen müssen, sondern dass ihm tatsächlich eine digitalisierte Version des Werks vorliegen muss. Ich erkläre ihm, dass ich selbst derzeit mit einer Doktorarbeit hadere, dass Edisons MARY STUART einen nicht unbedeutenden Raum in derselben einnimmt, dass ich mich sehr freuen würde, wenn er mir beschreiben könnte, wie genau dieser erste Historien-, erste Splatter-, erste Freileichfilm der Kinogeschichte denn in CINEMA INOCENTE rezipiert wird – und vielleicht, verstecke ich zwischen den Zeilen, könne er mir ja sogar sein Digifile des Streifens, sofern er es noch besitzt, von Sao Paulo rüber nach Deutschland schieben?

Eine Antwort bleibt aus, obwohl ich, begierig wie eine läufige Hündin, für eine Woche mehrmals pro Stunde meinen Mail-Account checke. Ich habe die ganze Sache schon vergessen, meine Dissertation ohne irgendeine Erwähnung Bressanes zu Ende gebracht, da ereilt mich plötzlich doch ein virtueller Brief vom andern Ende der Welt: Meine damalige Mail, schreibt mir der Filmwissenschaftler, sei offenbar damals zu Unrecht in den Spam-Ordner verfrachtet worden, und dort bis eben verblieben, da er diesen jetzt zum ersten Mal seit einer Ewigekit durchgescrollt hatte, auf der Suche nach einer ganz anderen Mail, die ihn hätte erreichen sollen und sich weigerte, im Posteingang aufzutauchen. Eine halbe Stunde später erreicht mich wiederum ein TV-Mitschnitt von CINEMA INOCENTE, gesendet im italienischen Fernsehen. Noch eine halbe Stunde später schaue ich mir endlich an, was seit drei Jahren mehr oder minder stark in meinem Kopf herumspukt – und bin, als die finale Klappe fällt, weniger begeistert, sondern eher völlig ratlos: Was zur Hölle will mir Bressane denn mit bloß diesem eigenartigen Film sagen!?

CINEMA INOCENTE beginnt schon mal reichlich konfus: Jener Mann, der sich später als Radar herausstellen wird, - (und den ein wirklicher Filmeditor namens Leovegildo Cordeiro verkörpert, der in seiner Radar-Rolle vor und nach Bressanes Film noch in mehreren Streifen auftreten wird, darunter auch in Ivan Cardosos Langfilm-Debüt, dem wundervoll derangierten O SEGREDO DA MÚMIA von 1982) –, läuft ziellos durch die Gegend, fährt mit seinem Auto umher, steht an Straßenecken herum. Zwischen diese Bilder fädelt Bressane Ausschnitte aus ästhetischen Artefakten der Kino-Frühzeit: Straßenansichten, die ich auf die späten 1890er schätzen würde; folkloristische Tanzperformances; WASHING THE BABY von 1893, in dem, wie der Titel bereits offenlegt, eine Mutter dabei zu sehen ist, wie sie ihren Säugling in einem Waschzuber säubert. Dominant erscheint ebenfalls der Soundtrack, der sprunghaft von Orchesterklängen, die ich spontan irgendeinem Hitchcock-Film zuordnen würde, zu New-Orleans-Swing und Samba wechselt. Die Art und Weise, wie Bressane Edisons MARY STUART die Reverenz erweist, entpuppt sich als tatsächlich nur halb so glorreich wie ich sie mir ausgemalt habe: Radar sitzt an seinem Schneidetisch und hält wirre Monologe darüber, dass das Geschlecht der Götter dem der Menschen ähnlich sei, bevor er plötzlich in frenetische Schreie ausbricht: Carne! Carne! Carne! Er brauche unbedingt mehr Fleisch – und genau in dem Moment wird die Axt gehoben, um den Hals der schottischen Königin auf dem Richtblock zu küssen.

Etwa ein Viertel der Laufzeit nimmt dieser unfokussierte Prolog ein, bevor endlich Bressane selbst auftritt, (der im gesamten Film nur Julinho genannt wird), um uns darüber zu informieren, dass er mit Radar verabredet sei, um den gefeierten Cutter von hunderten Pornochanchadas zu seiner Arbeit zu befragen. Was für ein Narr ich doch bin, dass ich annahm, nun würde CINEMA INCOENTE vollends auf die Mockumentary-Schiene schwenken und mich mit parodistischen, aber augenöffnenden Zustandsbeschreibungen des brasilianischen B-Kinos erfreuen. Während Bressane scheinbar auf der Suche nach Radar am Rande eines Filmseits umherirrt, schwenkt die Handkamera minutenlang wahllos herum, interessiert sich besonders stark für den schlammigen Boden, Pfützen, irgendwelche Schuppen, in denen Filmequipment aufbewahrt wird. Auch als Bressane und Radar endlich aufeinandertreffen, entspinnt sich kein wirkliches Interview zwischen ihnen: Mit Vorliebe verliert sich der Filmeditor in kryptischen Sätzen, die zumindest an mich keine konkrete Bedeutung herangetragen haben; wenn er von seiner Liebe für Alan Ladd spricht oder einmal auch Bressane während einer Drehpause anbrüllt, er solle mit seiner Kamera verschwinden, denn auch er habe das Recht auf etwas Privatsphäre, dann sind das luzide Momente, von denen es sehr wenige in CINEMA INOCENTE gibt. Selbstreferentialität wird in diesem Film, der stellenweise wirkt, als ob jemand sich an einer improvisierten Godard-Pastiche versucht hätte, naturgemäß großgeschrieben: Gefühlte weitere Minuten wird eine Ausgabe der Cahiers du Cinema vor die Kameralinse gehalten; fortwährend durchbrechen Schnipsel aus tatsächlichen Pornochanchadas und auch weitere Ausschnitte von Filmen aus der Jahrmarktskinoepoche den (sowieso kaum vorhandenen) Flow. Vollkommen absurd wird es, wenn Bressane behauptet, der berühmte Vertreter des französischen Stummfilmimpressionismus und spätere Filmschulbegründer Marcel L’Herbier, Regisseur solcher Meilensteine wie L'INHUMAINE (1924) oder L'ARGENT (1928), sei nach Brasilien gekommen, um ihm vor laufender Kamera Rede und Antwort zur Zukunft des Kinos zu stehen. Natürlich ist der Greis, den Bressane vor sein Objektiv zieht, nicht der echte L’Herbier, (der übrigens im Jahre der Veröffentlichung von CINEMA INOCENTE mit 91 Jahren verstorben wird), und natürlich ergibt auch dieses Zwiegespräch keine genießbaren Früchte, sondern welche, die einen ganz eigenartigen, schwer bestimmbaren, eher unangenehmen Beigeschmack auf meiner Zunge hinterlassen.

Nach dem Genuss von CNEMA INOCENTE bin ich jedenfalls genauso schlau wie zuvor. Natürlich freue ich mich, das Werk nun endlich einmal gesehen zu haben, doch, puh, wenn mir der Sinn nach solcherlei Mindfuck steht, dann wähle ich in Zukunft wohl doch lieber weiterhin das Original, (namentlich: Godard in seiner sperrigen Vertov-Group-Phase, zum Beispiel.)

P.S.: Und weil, wie Jogi einmal so schön in einer Hamburger Eckkneipe gesagt hat, irgendwann wirklich alle Artefakte der Filmgeschichte irgendwo an die Oberfläche treiben, gibt es CINEMA INOCENTE natürlich inzwischen auch ganz ordinär und ganz unproblematisch auf YouTube zu besehen...
Zuletzt geändert von Salvatore Baccaro am Di 27. Jul 2021, 21:08, insgesamt 1-mal geändert.
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sergio petroni
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Re: Cinema Inocente - Júlio Bressane (1979)

Beitrag von sergio petroni »

Ich hatte jedenfalls meinen Spaß beim Lesen.
Was auch immer das bedeutet 😌
DrDjangoMD hat geschrieben:„Wohl steht das Haus gezimmert und gefügt, doch ach – es wankt der Grund auf dem wir bauten.“
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