Daphnis und Chloe - Orestis Laskos (1931)

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Salvatore Baccaro
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Daphnis und Chloe - Orestis Laskos (1931)

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Originaltitel: Dafnis kai Hloi
Produktionsland: Griechenland 1931
Regie: Orestis Laskos
Darsteller: Apollon Marsyas, Loucy Matli, Grigoris Georgiadis, Korina Hatzimihelaki
1. Ein Projekt, das mir seit längerer Zeit im Kopf herumspukt, wird, sollte es jemals spruchreif sein, den Titel RE:NAISSANCE tragen. Ich hatte mir folgendes vorgestellt: mindestens vier und höchstens acht Menschen sollen, unterteilt jeweils in Zweiergruppen, klassische Liebesgeschichten der römischen und griechischen Antike nachempfinden, und zwar innerhalb einer, ebenfalls klassischen, Interviewsituation. Eine Kamera wäre auf sie gerichtet, ich selbst nicht im Bild, sondern lediglich hörbar als Fragesteller und Stichwortgeber im Hintergrund. Von meinen Darstellern wären in den ersten Einstellungen lediglich in Großaufnahmen die Gesichter zu sehen, am besten vor weißen Wänden, die eine eindeutige Verortung in Zeit und Raum unmöglich machen würden. Zu diesem Zeitpunkt soll der Zuschauer auch noch nicht ahnen, worum es hier eigentlich geht. Er sieht, sagen wir, zunächst einmal das Gesicht einer jungen Frau, die offenbar von einer ihr widerfahrenen Liebe zu erzählen anfängt. Sie redet ein paar Minuten, dann folgt ein Schnitt, und ein junger Mann ist zu sehen, der in gewisser Weise in sie einstimmt, sodass der Betrachter sich denken kann: er ist ihr Gegenpart, der männliche Teil der Erzählung, und er führt fort, was seine bessere Hälfte begonnen hat. Mit der Zeit wird sich dann das Umfeld ändern. Man erkennt: es sind moderne Menschen in moderner Kleidung an modernen Orten, vor einem Café zum Beispiel oder vor einer Dönerbude am lärmenden Straßenrand oder auf dem Uni-Campus oder in der Fußgängerzone. Aber weshalb, wird man sich fragen, reden sie denn von Nymphen, von Göttern, von allegorischen Figuren, so, als seien sie real? Es sollte sein wie bei den Gemälden der Renaissance, in denen Gestalten der Antike in der Garderobe der Neuzeit auftreten, sich gebärden wie Zeitgenossen der Maler und Betrachter, versehen mit christlichen Symbolen, die es zu ihrer Zeit in dieser Form noch nicht einmal gegeben hat. Was ich mich frage, ist: hat der Renaissance-Mensch diese scheinbaren Anachronismen bewusst wahrgenommen oder hat er sie genauso stillschweigend akzeptiert wie heutzutage jemand akzeptiert, dass Figuren in einem Historienfilm, der, sagen wir, im Mittelalter spielt, die gleichen Moralvorstellungen und Lebensgewohnheiten wie wir zu haben scheinen? Aber diesen historischen Kontext einmal ganz außen vorgelassen, interessiert mich vor allem diese Idee eines der Menschheit eigenen Mythenschatzes, den jede Generation, jede Epoche, jede Gesellschaftsform für sich zu heben vermag, um daraus etwas ihr Entsprechendes zu stricken. Nicht anders hat es Shakespeare gemacht, nicht anders haben es die Autoren der Antike und des Mittelalters gemacht, bloß heute ist es mit einem Makel belegt, wenn man sich unverhohlen der Geschichten oder der Gedanken anderer bedient, um sie in etwas Eigenes zu mengen. Aber gehört ein Gedanke, eine Geschichte denn wirklich nur dem Individuum, das sie erfunden hat? Und: ist es überhaupt möglich, etwas Originäres zu erfinden, und stammt nicht alles irgendwie von etwas anderem ab? Die Liebesgeschichten, die ich für mein Projekt hinzuziehen wollen würde, wären exakt solche Texte, bei denen diese Frage nicht allzu leicht zu beantworten ist. Ins Auge gefasst habe ich das Märchen von Amor und Psyche, und zwar in seiner vielleicht unterhaltsamsten Ausformung von Apuleius, außerdem die eher wüste Geschichte von Narziss und Echo wie sie in der Bearbeitung Ovids vorliegt, und natürlich einen Roman, der mir besonders am Herzen liegt: DAPHNIS UND CHLOE.

2. Tatsächlich hat mich schon eine ganze Weile literarisch nichts mehr derart berühmt wie dieses wunderschöne Schäferidyll. Im Grunde ist DAPHNIS UND CHLOE von einem Mysterium umwoben. Über seinen Autor, einen gewissen Longos, weiß die Nachwelt so gut wie nichts – vermutlich hat er im dritten Jahrhundert auf der Insel Lesbos gelebt, und dort auch sein Hauptwerk verfasst, bei dem sich wiederum bis heute die Geister bezüglich der Frage scheiden, wie es denn verstanden, aufgefasst und beurteilt werden soll. Mein Urteil ist klar: DAPHNIS UND CHLOE ist einer der schönsten Liebesromane aller Zeiten. Schön ist darin beispielweise die ungemein hohe Harmoniedichte der Erzählung: schon Goethe entzückte sich an diesem zeitlosen Idyll, in dem die Liebe einem mädchenhaften Gekicher unter einem Wasserfall gleicht oder dem fernen Raunen des Schilfrohrs, das einmal Syrinx geheißen hat. In einigen seiner zahllosen Gespräche mit dem eifrig mitprotokollierenden Eckermann, datiert vom März 1831, soll der greise Dichter gesagt haben: „Es ist darin der helleste Tag, und man glaubt, lauter herkulanische Bilder zu sehen, so wie auch diese Gemälde auf das Buch zurückwirken und unserer Phantasie beim Lesen zu Hilfe kommen. […] Und keine Spur von trüben Tagen, von Nebel, Wolken und Feuchtigkeit, sondern immer der blaueste, reinste Himmel, die anmutigste Luft und ein beständig trockener Boden, so daß man sich überall nackend hinlegen möchte. […] Alles Widerwärtige, was von außen in die glücklichen Zustände des Gedichts störend hereintritt, wie Überfall, Raub und Krieg ist immer auf das schnelleste abgetan und hinterläßt kaum eine Spur.“ So wenig ich sonst mit Goethe übereinstimme, in diesem Fall kann ich ihm voll und ganz beipflichten. DAPHNIS UND CHLOE schildert einen paradiesischen Zustand, der bloß selten einmal ein wenig dämmriger wird, nur um dann aber sofort zu seinem früheren Sonnenschein zurückzufinden. Normalerweise läuft das in Liebesgeschichten doch so: zwei Liebenden wollen sich, bekommen sich nicht, und es sieht mehr als einmal äußerst übel für sie aus, und am Ende bekommen sie sich entweder und alles freut sich, oder sie bekommen sich nicht und alles bricht in Tränen aus. Anders bei Daphnis und Chloe. Die beiden unabhängig voneinander von wilden Tieren aufgezogenen und schließlich als Findlinge in zwei verschiedene Bauernfamilien der Insel Lesbos adoptierten Spielgefährten, Schaf- und Ziegenhirten und späteren Liebenden entbrennen zu Beginn des Romans in romantischer Leidenschaft – und weder daran noch an der Gewissheit des Lesers, dass sich schlussendlich alles zum Guten wenden wird, ändert sich im Verlauf der insgesamt vier Bücher großartig etwas. Schön ist hierbei die putzige, herzallerliebste Atmosphäre und Sprache, mit der Longos die bukkolische Dichtung – ein literarisches Muster, das lange vor ihm existiert und auch noch eine Weile nach ihm existiert hat - weit über sich selbst hinaus in höchste Höhen des Wohlklangs transzendiert: die wenigen Fährnisse, denen unsere Liebenden ausgesetzt sind, darunter Daphnis entführende Piraten, einen der Knabenliebe zugetanen und Daphnis deshalb verführen wollenden Stadtmenschen sowie einen Konkurrenten um Chloes Gunst, haben tatsächlich nicht mehr Vernichtungspotential als ein lauer Sommerwind. Es entfaltet sich eine Welt, deren Ecken und Kanten weichgeschliffen sind, ohne dass sie dadurch trivial wirken würde. Vielmehr gleicht die Welt des Longos einem Märchenreich, in dem, falls alle Stricke reißen sollten, letztendlich noch die Götter höchstpersönlich eingreifen, um einen rettenden Strick zu reichen. Schön sind vor allem auch die zahllosen Ziegenherden, die sich durch den Text ergießen: ein Gewoge aus weißem Fell, geschwungenen Hörnern, träge malender Kiefer, weichem Blöken, und dazwischen, gleichsam versteckt, der pfeileschießende Amor und der bocksbeinige Pan und Grottennymphen, die allesamt schützend ihre Hände über das ungetrübte Glück halten. Wer wilde Abenteuer sucht, eine ausgefeilte Dramaturgie, große Dramen um zerbrochene Herzen oder welche, die partout nicht kriegen, was sie wollen, ist bei DAPHNIS UND CHLOE definitiv an der falschen Adresse. Dieser Text besingt einfach nur die Liebe: nicht reale Beziehungen mit ihren Höhen und Tiefen, sondern das Ideal der Liebe wie es in der Gestalt eines pausbäckigen Knaben mit Pfeilen und Köcher auftritt. Jedoch ist die Liebe, die Longos zu seinem Thema wählt, nicht nur irgendeine, sie ist dennoch und vor allem an einen bestimmten Zeitabschnitt im Leben der Protagonisten geknüpft. Es wäre, glaube ich, nicht verkehrt, DAPHNIS UND CHLOE als coming-of-age-Text zu begreifen. Es geht um sexuelles Erwachen, erotisches Herantasten, unsicheres Küssen, Identitätsfragen, eben alles, was Teenager wohl zu allen Zeiten bewegt hat und heute noch bewegt, nur eben gesehen durch die Brille eines das Landleben vergötternden Poeten, der von der Schönheit des Meeres, der Ziegenböcke, der Olivenhaine und der Nymphengrotten einfach nicht genug bekommt.

3. Im Jahre 1931 steht Orestis Laskos (1907-1992) am Anfang einer Filmkarriere, die bis zu Beginn der 70er Jahre dauern wird. Als Regisseur hat er innerhalb vierer Jahrzehnte nicht nur fünfundfünfzig Filme auf die Beine gestellt, sondern außerdem vierundzwanzig Drehbücher verfasst und, in kleineren Rollen, als Schauspieler gewirkt. DAFNIS KAI CHLOE ist, mit gerade einmal vierundzwanzig Jahren, sein Regiedebut, und außerdem noch der Anlass zweier weiterer Premieren. Obwohl das Kino Griechenlands nicht wesentlich jünger ist als das der meisten übrigen Länder Europas, handelt es sich bei DAFNIS KAI CHLOE um einen der ersten genuin griechischen Filme, der auch ins Ausland exportiert worden ist. Zudem – und das liest man in den einschlägigen Anthologien immer wieder – soll DAFNIS KAI CHLOE dafür Aufmerksamkeit gebühren, dass er entscheidend dazu beitragen habe, den voyeuristischen Blick in die Filmgeschichte einzuführen und, sowohl männliche wie auch weibliche, frontalte Nacktheit stimulierend auszustellen. Auffälliger ist für mich zunächst aber erstmal, wie sehr der Film, obwohl zu einer Zeit gedreht, als der Tonfilm sich schon nicht mehr nur auf dem Vormarsch befand, sondern sein Primat über den stummen Film eigentlich schon gefestigt hatte, noch in eine Epoche zurückweist, die beispielweise im Deutschen Reich oder in Frankreich bereits weitgehend der Vergangenheit angehörte. Vom technischen Standpunkt aus wirkt DAFNIS KAI CHLOE wie ein Film, der gut und gerne auch knapp zehn, oder zumindest fünf Jahre, zuvor in exakt dieser Weise hätte veröffentlicht werden können. Die Aufnahmen sind statisch, im Grunde abgefilmtes Theater, wenn auch ohne eine einzige Studioszene, sondern in atemberaubender Freilandkulisse von gischtgepeitschten Küstenklippen, weitreichenden Olivenbaumebenen und lichtdurchfluteten Wäldern. Da nicht gesprochen wird, müssen Texttafeln her, die Laskos indes nahezu inflationär verwendet – zwar folgen sie zuweilen Wort für Wort dem Originaltext Longos, zuweilen sind sie in ihrer Textfülle dem Fluss des Films aber eher hinderlich, und es scheint, als würde Laskos auf die Sprache ausweichen, wo er doch, als jemand, dessen Material Bilder sind, bestimmte Zusammenhänge besser mittels dieser hätte verdeutlichen sollen. Nicht zuletzt ist DAFNIS KAI CHLOE einer jener Stummfilme, die mehr an der Geschichte, die sie erzählen möchten, kleben als an einem experimentelleren Ansatz, der mit Hilfe beispielweise einer assoziativeren Montage die ausgetretenen Pfaden der klassischen Narration verlässt, um etwas über sie hinaus zu bebildern. Statt Allegorien, Metaphern, Symbolen gibt es bei Laskos nur die mehr oder minder basale Realität, die eben so ist wie sie ist. So gesehen ist DAFNIS KAI CHLOE, trotz seiner vor Phantasie regelrecht überschäumenden Vorlage, ein außerordentlich realistischer Film geworden. Folgerichtig ist da nur, dass Laskos auf (fast) jegliches Götter- und Nymphenspektakel verzichtet. Ähnlich wie es Wolfang Petersen knapp siebzig Jahre später mit der Ilias des Homer tun sollte, als er sie mit TROY zum actionreichen Hollywood-Blockbuster umdeutete, setzt Laskos überall dort den Rotstift an, wo die übernatürliche Welt der Antike in die Geschicke der menschlichen Protagonisten eingreift. Zwar sieht man ein-, zweimal einige Frauen innerhalb einer Grotte, die wohl die von Longos oft und gerne erwähnten Nymphen sein sollen, allein, dass diese stets von sehr weit weg aufgenommen werden, unterstreicht, wie wenig Laskos‘ Fokus auf ihnen liegen möchte. Der bocksbeinige Pan, der Daphnis einmal aus den Händen bitterböser Piraten befreit, indem er einen Seesturm losschlägt, der pfeileschießende Amor, der die Fäden der Liebe unserer Helden in den wohlgenährten Fäustchen hält, sowie die vielen in DAPHNIS UND CHLOE beinahe schon collagenhaft eingestreuten Querweise zu anderen antiken Liebesmythen bekommen allesamt keinen Zutritt zu Laskos‘ kinematographischer Vision des Longos-Textes gewährt. Das kann man bedauern und schade finden, doch liegen, meiner Meinung nach, die Qualitäten des knapp einstündigen Films sowieso ganz woanders. DAFNIS KAI CHLOE möchte keine detailgetreue Wiederge-burt eines bereits bestehenden Textes sein. Offensichtlich setzt Laskos seine Prioritäten an anderer Stelle.

4. Wie oben schon erwähnt, ist DAFNIS KAI CHLOE, falls überhaupt, vor allem deshalb in die Filmgeschichte eingegangen, da er als eines der ersten kommerziell veröffentlichten Werke männliche und weibliche Frontalnacktheit zeigt. Zwei Szenen sind es, die diesen Ruf untermauern, beide relativ früh im Film. Daphnis und Chloe, die sich schon seit Kindertagen kennen und im Grunde wie Geschwister aufgewachsen sind, werden durch die Umstände – im Originaltext natürlich von Amor höchstpersönlich – dazu gezwungen, sich zum ersten Mal voreinander zu entkleiden und sich zu baden. Das hat verheerende Folgen: denn kaum hat Chloe Daphnis in seiner ganzen Jünglingspracht gesehen, sind ihre Gedanken verwirrt, sie bekommt das Bild nicht mehr aus dem Kopf, kann die Schönheit nicht fassen, die ihr die eigenen Blicke versengt hat, stellt sich schließlich selbst unter einen Wasserfall, da sie in ihrer unschuldigen Naivität annimmt, das Bad sei es gewesen, das den Körper des ihr so Vertrauten derart veredelt hat. Beide Bäder bebildert Laskos in einer für das Jahr 1931 recht, wenn man so sagen möchte, drastischen Weise. Bei Daphnis‘ Bad unterm Wasserfall befindet sich die Kamera zwar ziemlich weit weg vom Geschehen, blickt aus der Ferne auf den jungen Mann, und verhehlt trotzdem nicht, dass er splitterfasernackt unter die natürliche Dusche steigt. Allerdings dauert diese Szene so kurz, dass man kaum genügend Gelegenheit hat, Form und Größe seines Penis richtig zu erfassen. Weniger graphisch, dafür länger ist Chloes Badeszene, in der Laskos davon absieht, ihren Körper ganz so unverhüllt zu zeigen wie den ihres männlichen Widerparts, dafür aber einen weiteren Verehrer ins Spiel bringt, der sie heimlich bei ihrer Waschung mit lüsternen Blicken beäugt, und damit exakt die Position des Kinopublikums einnimmt, das seine Blicke, ob nun vor Empörung oder vor Geilheit, in diesem Moment sicher nicht von der Leinwand abgewendet haben wird. Auch später, wenn Daphnis von einer frustrierten Ehefrau verführt und in die Kunst der Sexualität eingeführt werden soll, geizt Laskos nicht mit offensiver Erotik. Die kommt heute möglicherweise nur noch für die wenigsten Zuschauer voll zur Geltung, für einen Film des Jahres 1931 ist sie indes, muss ich wiederholen, schon ein ganzes Stückchen über das hinaus, was man gemeinhin für akzeptabel gehalten haben dürfte. Nichtsdestotrotz ist dieser offene Umgang mit Erotik und Sexualität leider kein roter Faden, der die Szenen von DAFNIS KAI CHLOE zusammenhalten würden. Die drei, vier beschriebenen Szenen lassen zwar kurz aufhor-chen, im Großen und Ganzen bleibt das, was um sie herum passiert, dann aber doch, wie gesagt, zu statisch, zu starr, als dass es mich restlos hätte begeistern können. Dass DAFNIS KAI CHLOE mit seiner Vorlage, meiner Meinung nach, sowieso zu keinem Zeitpunkt erfolgreich wetteifern kann, liegt dann vor allem noch an zwei Gründen, einem atmosphärischen und einem inhaltlichen.

5. DAFNIS KAI CHLOE mag, was die Filme betrifft, die ich in meinem Leben bisher gesehen habe, mindestens zu den Top 5 mit den meisten Ziegenszenen gehören, und es stimmt: die Landschaftsaufnahmen sind superb, wirken fast wie eine archaische Bühnenkulisse, die Laskos exzellent für seine Zwecke zu nutzen weiß, und die Schauspieler sind nicht wesentlich schlechter oder besser als die in zeitlich und geographisch vergleichbaren Filmproduktionen Europas, und die wenige Experimentierfreude, die kurze Laufzeit, die teilweise etwas unausgegorene Szenenabfolge, die mich vermuten lassen, für jemanden, der die Vorlage des Longos nicht kennt, wird das Werk trotz des massiven Zwischentiteleinsatzes stellenweise kaum bis gar nicht verständlich sein, dürfte mit Sicherheit auch dem kaum vorhandene Budget geschuldet sein, aus dem Laskos dann freilich herausgeholt hat, was man aus ihm hat herausholen können – dennoch: im direkten Vergleich mit Longos‘ DAPHNIS UND CHLOE kann die Leinwandadaption nur den Kürzeren ziehen. Die Atmosphäre, die Longos mittels seiner wirklich nach Ziegenfell, Olivensäure und sonnengegerbter, sandverklebter Haut riechenden und schmeckenden Sprache zu generieren imstande ist, bleibt leider unerreicht – zu sehr legt DAFNIS KAI CHLOE offen, wie er entstanden ist: eine Standkamera, eine prächtige Landschaft, zwei halbnackte Schauspieler - zu wenig verschleiert sind mir wahrscheinlich die Rezepte, nach dem der Film auf manchmal höherer, manchmal niedrigerer Flamme köchelt. Dabei leistet Laskos sich jedoch auch gravierende Eingriffe in die Struktur des Textes selbst. Obwohl in den Texttafeln zuweilen wörtliche Zitate des Longos auftauchen, ist die, was verzeihlich wäre, Handlung zum einen stark gekürzt, zum andern jedoch zusätzlich in eine neue Chronologie gebracht. Beispielweise erfahren im Roman Daphnis und Chloe erst im letzten Buch von ihrer adligen bzw. wohlhabenden Abstammung, in DAFNIS KAI CHLOE wird Daphnis seine Herkunft bereits etwa nach der Hälfte der Laufzeit verraten, während Chloe auf die Kenntnis über die ihre noch bis zum recht dahingehuschten Finale warten muss. Dazwischen ist dann die Verführungsepisode geschaltet, bei der Daphnis seine Unschuld verliert, ohne dass in irgendeiner Weise die Frage beantwortet werden würde, weshalb der junge Mann denn, nun, wo er weiß, wo er herkommt und dass er der Erbe eines stattlichen Gutes ist, weiter mit Chloe die Schafe und Ziege hütet. Eine Sache, die mich bei Longos immer mit am meisten hat in Liebe entbrennen lassen, sind die merkwürdigen, handlungsstützenden Kausalketten. Wo die Badeszene in DAFNIS KAI CHLOE quasi aus heiterem Himmel fällt, ist sie bei Longos Endpunkt einer komplexen und ziemlich witzigen Entwicklung, bei der sich, ein bisschen wie in Fischlis und Weißs LAUF DER DINGE, eins aus dem andern ergibt. Ein Wolf treibt sich nachts bei den Schafherden herum, reißt das eine oder andere Lämmchen. Die Bewohner von Lesbos beschließen, ihm eine Falle zu stellen. Daraufhin geraten zwei Böcke aus Daphnis‘ Herde in Streit. Der Schwächere flieht und Daphnis folgt ihm, stürzt aus Nichtachtsamkeit in besagte Falle, aus der ihn dann Chloe befreien muss. Da der Jüngling nun reichlich schmutzig geworden ist, tut ein Bad not – und das wiederum legt den Grundstein zur leidenschaftlichen Liebe, die die Beiden fortan bis zum Ende des Textes verbinden wird. Viele weitere solche überhaupt nicht konstruiert wirkenden, sondern in ihrer offensichtlichen Konstruiertheit überaus realitätsnahen Aktion-Reaktion-Zusammenhänge könnte man anführen, und keiner davon – was natürlich wiederum auch verständlich ist – wird in Laskos‘ Film illustriert. Manche Dinge funktionieren wohl einfach nur innerhalb der Literatur, so wie andere nur im Film, in der Malerei, im Theater funktionieren. DAFNIS KAI CHLOE sollte man das nicht zum Vorwurf machen. Nur werde ich mein Longos-Bändchen weiterhin wie ein Kleinod mit mir herumtragen, wohingegen ich vielleicht nie wieder das Bedürfnis haben werde, mir Laskos‘ Film, obwohl ich ihn für seine Ambitionen durchaus schätze, noch ein zweites Mal anzuschauen.
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