Originaltitel: Des Morts
Produktionsland: Belgien 1979
Regie: Thierry Zéno, Dominique Garny, Jean-Pol Ferbus
Darsteller: Tote und lebende Menschen aus Asien, Europa und den USA
Mit VASE DE NOCES hat der belgische Experimentalfilmemacher Thierry Zéno der Kinogeschichte 1974 eines ihrer, meiner Meinung nach, transgressivsten Artefakte geschenkt. Die komplett dialoglose, einzig mit Monteverdi und verstörenden elektronischen Klangflächen Alain Pierres untermalte Geschichte eines Mannes, der einsam und verlassen auf einem Bau-ernhof lebt, eine Liebesbeziehung zu einem Schwein beginnt, mit diesem einen Wurf Ferkel zeugt, die er, nach dem erfolglosen Versuch, seine Nachkommen zu Menschen zu erziehen, allesamt aufknüpft, worauf die Muttersau den Freitod wählt, sehe ich zum ersten Mal mit fünfzehn oder sechzehn in einer Fassung, die damals auf irgendwelchen Torrent-Seiten kursiert sein muss: Das Bild ist miserabel, der Ton asynchron, außerdem stockt die DVD-R, die mir ein Freund gebrannt hat, mindestens jede Viertelstunde, und man muss sie aus dem Laufwerk nehmen, und neu laden lassen. Trotzdem entfaltet VASE DE NOCES seine volle Wirkung bei meinem früheren Selbst. Ich habe noch keinen Plan davon, wie stark der Film in der mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen Bildwelt eines Hieronymus Bosch oder Pieter Bruegel verhaftet ist. Mir erschließen sich die alchemistischen Experimente nicht, die die von einem äußerst leidensfähigen Dominique Garny verkörperte namenlose Hauptfigur mit ihren eigenen Exkrementen anstellt. Ich stehe vor einem Rätsel, inhaltlich überhaupt mehr aus dem Film herauszulesen als eine meditative Abfolge schwermütiger und schockierender Schwarzweißbilder. Dass der US-amerikanische Verleihtitel THE PIG FUCKING MOVIE diesem lyrischen, wenn auch extremen Meisterwerk Unrecht tut, ist mir freilich dennoch schon damals klar. Jahre später liegt VASE DE NOCES bei Camera Obscura in einer vorbildlichen DVD-Edition vor: Mit einem Essay von Stiglegger, einem Video-Interview mit Thierry Zéno, und natürlich mit synchronem Ton, und einer Bildqualität, die einen glasklar erkennen lässt, was sich da vor einem gerade abspielt. Meine ursprüngliche DVD-R mit der etwas manierierten Handschrift jenes Freundes von einst, den ich seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen habe, wahre ich dennoch weiterhin wie einen Schatz aus Kindertagen.
Damals, in meiner Euphorie über VASE DE NOCES, habe ich mir für relativ wenig Geld den Nachfolgefilm Zénos gekauft, der bereits in einer allerdings wenig vorbildlichen Edition bei Woodhaven Entertainment erschienen war, sprich, offenbar direkt von einer verrauschten VHS auf DVD kopiert, und damit optisch ungefähr auf dem Niveau wie die Fassung von VASE DE NOCES, die ich seinerzeit vorliegen hatte. Das Team um Zeno ist identisch mit dem, das schon VASE DE NOCES fünf Jahre zuvor inszeniert hat: Dominique Garny wird neben Jean-Pol Ferbus als Co-Regisseur geführt, und erneut steuert Alain Pierre einen sparsamen, jedoch eindringlichen Elektro-Score bei. Nur wird diesmal keine bildgewaltige, sperrige Allegorie erzählt. DES MORTS ist, wie der Titel bereits andeutet, ein Panorama menschlichen und animalischen Sterbens rund um den Globus und quer durch die Zeiten. Zéno und sein Team bereisen die Vereinigten Staaten, Europa, Asien, um ihre Kameras auf Begräbnisrituale, auf siechende Körper, auf rituelle Schlachtungen, auf Seziertische oder Tiersärge zu richten. Ohne die italienische Mondo-Formel und deren shockumentary-Derivate wie vor allem John Alan Schwartzs FACES OF DEATH wäre dieser Film undenkbar. Doch obwohl Mark Goodall in einem der wenigen (populär-)wissenschaftlichen Texte zu Zénos Film argumentiert, dieser würde knietief in der Tradition dieses Genres irgendwo zwischen Exploitation, Dokumentarfilm und Kunstkino waten, mutet DES MORTS mir eher wie eine bewusste Gegenfigur zu den tabubrechenden Bildern an, die zuvor Regisseure wie Jacopetti und Prosperi, oder die Castiglioni-Brüder, oder Climati und Morra in ihren Mondo-Spektakeln untergebracht haben, um ihr Publikum, indem sie es an die eigene Vergänglichkeit erinnern, mit einem Nervenkitzel sondergleichen zu versorgen.
Was konstituiert einen Mondo-Film? Zunächst einmal seine Montage. Was wäre allein der originale MONDO CANE, wenn Jacopetti, Prosperi und Cavara nicht so ziemlich jeden schnitttechnischen Kniff angewandt hätten, um ihre Zuschauer affektiv zu überwältigen? Da wird mitten in einem Zoom geschnitten, da gefrieren die Bilder, da überwindet ein einzelner Schnitt Raum und Zeit, und lässt Dinge aufeinanderstoßen, die so wenig miteinander zu tun haben, dass ihr Zusammenprall einem visuellen Schock gleicht. Was wäre MONDO CANE außerdem ohne den suggestiven Orchesterscore Riz Ortolanis, der nicht nur die Herzen von Oscar-Jurymitgliedern höherschlagen ließ, sondern dessen Titelsong „More“ zu einem veritablen Pop-Hit avancierte? Was wäre MONDO CANE zuletzt ohne seinen voice-over-Kommentator, dessen zynischem Nihilismus und augenzwinkerndem Spott nun wirklich alles zum Opfer fällt, was Menschen tun oder nicht tun – seien es die Fruchtbarkeitsriten eines indigenen Volks, der Cargo-Kult auf Neuguinea, die Verwirrungen der Modernen Kunst, oder das unkoordinierte Umherpurzeln sturzbesoffener Reeperbahngäste? All das findet sich in DES MORTS entweder gar nicht, oder lediglich in Rudimenten. Einen Off-Sprecher erspart Zéno uns gänzlich. Die Musik Alain Pierres ist derart zurückhaltend, dass sie einem bei den seltenen Gelegenheiten, wo sie erklingt, kaum richtig zu Bewusstsein dringt. Eskapaden der Montage beschränken sich im Grunde auf die genre-üblichen Gegenüberstellungen von Praktiken in unterschiedlichen Kulturkreisen. Dichotomien-Pärchen sind zum Beispiel: In Thailand wird eine ältere Frau über Tage hinweg beigesetzt, ihr ganzes Dorf übt sich in Trauergeschrei, mehrere Ochsen werden geschlachtet, ein Hahn, ein Schwein, während in den USA Leiharbeiter den Sarg mit den leiblichen Überresten von jemandem, den sie nicht mal gekannt haben, zu plärrendem Radio-Rock fachmännisch in sein Erdloch lassen. Aus einem Flugzeug wirft ein Pilot hauptberuflich die Asche Verstorbener ins Meer, während zugleich Hindus ihre Toten einfach einem Heiligen Fluss überlassen, der sie mit sich nimmt, und zwischen Badenden verwesen lässt. Ein Bestatter richtet einen Toten her, säubert ihm die Nägel, kleidet ihn ein, übertüncht sein Tot-Sein, und seine öffentliche Repräsentation während der Trauerfeier korreliert so überhaupt nicht mit dem Eindruck, den sein eingefallener Leib kurz zuvor noch im Leichenschauhaus erweckt hat.
Wo genau wir uns gerade auf der Welt befinden, erklären uns nüchterne Ortsbestimmungen, die in Textform über den Bildern erscheinen: Le 19 juin, Bovesse, Belgique. Le 23 mai, Maesanga, Thailande. Le 17 janvier, Los Angeles, USA. Manchmal sprechen Menschen zu uns. Bei einer buddhistischen Grablegung singen die Mönche. Die Untertitel geben nur den Inhalt ihrer rituellen Gesänge ohne weiterführenden Kontext wieder. Ein an Muskelschwund erkrankter Mann erklärt, dass er weiterhin am Leben hänge, trotzdem er keine seiner Extremitäten mehr bewegen kann, und eigentlich nur noch darauf wartet, dass auch sein Herz stagniert. Ein Bestatteter führt uns gleich im Prolog in die erforderlichen Maßnahmen ein, die zu treffen sind, wenn man einen frischen Leichnam vor sich liegen habe, und ihn für die Beisetzung herausputzen soll. Ansonsten überlässt Zéno uns den Bildern, und die Bilder uns. Sein Film ist schnörkellos, ohne Schauwerte. Wenn gezeigt wird, wie in einem mexikanischen Krankenhaus die Opfer von Messerstechereien und Raubüberfällen reihenweise wegsterben, oder wenn wir zwei Pathologen dabei zuschauen, wie sie einen Leichnam öffnen, oder wenn wir einen langen Blick in einen Kremationsofen werfen, in dem gerade ein menschlicher Körper von Flammen verzehrt wird, dann verhandelt der Film das mit einer Beiläufigkeit, einer Alltäglichkeit, einer Unaufgeregtheit, die einfach nur bebildern möchte, und keinen Hintergedanken dahingehend hegt, in mir das wachzurufen, was der sensualistische Philosoph Edmund Burke schon im achtzehnten Jahrhunderts als „delightful horror“ bestimmt hat: In der Sicherheit meines Fernsehsessels ergötze ich mich an Bildern des Unsagbaren wie Folter, Leid oder eben Tod, eben weil ich mich in der Sicherheit meines Fernsehsessels weiß. Zéno, Garny und Ferbus sind Chronisten des Todes und unseres Umgangs mit ihm. Dies geschieht!, sagen mir ihre Aufnahmen von bei Stierkämpfen zu Tode gespießter Bullen, noch zuckender abgetrennter Ziegenhäupter, oder – möglicherweise die Szene, die sich am meisten ins Mondo-Terrain herüberbeugt – das „Television Archive Document“ eines philippinischen Guerilla-Kämpfers, der aufgrund des Verdachts auf Verrat von seinen Kameraden erschossen wird: Während der Mann sterbend im Gebüsch liegt, schaufelt man ihm seine Grube. Dies geschieht!, oder, im Sinne von Roland Barthes‘ Photographie-Noema: Es-ist-so-gewesen. Da schwingt keine Anklage mit, kein blödes Feixen, keine Sensationslust, keine Agenda, die über die reinen Bilder hinausgreifen würde. Wenn DES MORTS eine solche besitzen soll, muss ich die ihm schon selbst hinzudichten.
Undenkbar wäre DES MORTS möglicherweise auch ohne eine grundlegende thanatologische Studie, die nur zwei Jahre früher, 1977, von dem französischen Mediävisten Philippe Ariès veröffentlicht wird: L’HOMME DEVANT LA MORT untersucht das Verhältnis des Menschen zur eigenen Sterblichkeit vom Mittelalter bis in die Neuzeit, und basiert dabei auf einem ausufernden Konvolut an Dokumenten wie Testamenten, Grabinschriften, literarischen Zeugnissen, künstlerischen Darstellungen. Was bei Ariès ein diachrones Unterfangen ist – wir folgen dem Tod quer durch die Jahrhunderte von seiner gezähmten Form im frühen Mittelalter, als man ihn als integralen Bestandteil des Lebens betrachtete, bis hin zu seiner verwilderten Form im zwanzigsten Jahrhundert, wo man ihn an die Peripherien der Gesellschaft exiliert und mit einem Tabu belegt hat –, stellt bei Zéno ein synchrones dar. Anders als Ariés, der nur die westliche Welt im Blick hat, schweift derjenige Zénos von Ost nach West, von Nord nach Süd: In einer beschaulichen belgischen Kleinstadt werden die Toten noch in einem katholischen Zeremoniell zu Grabe gebracht wie ihre Ahnen vor hunderten von Jahren. Auch im nepalesischen Pashupatinath entledigt man sich der Toten wie seit Menschengedenken, indem man sie in einen Zufluss des Ganges wirft, wo sie fortan verfaulend mit den Wellen treiben. Demgegenüber stehen vergleichsweise moderne Umgangsweisen mit Toten wie die Kyronik, das Einfrieren Verstorbener zum Zweck, sie, wenn die Technik erstmal so weit sein sollte, wiederzu-beleben, oder auch das Medium des Films, das die Verflossenen in ihrer Lebendigkeit festhalten zu vermag: Eine Frau lässt immer wieder die letzte Video-Aufnahme ihres an Leberkrebs verschiedenen Mannes ablaufen, da dies die einzige Möglichkeit für sie ist, noch einmal seine Stimme zu hören, seinen lebenden Körper zu sehen.
Auch hier aber kein Ausspielen der Zivilisation gegen die archaischere Gesellschaft, oder der Tradition gegen die Moderne: Zéno macht sich nicht lustig, bewertet nicht, hebt nicht die eine Trauerpraxis über die andere. Er ist wie mit dem „wilden Denken“, das Claude Lévi-Strauss Anfang der 1960er in die Ethnologie einführt. Laut Lévi-Strauss seien naturnah lebende Kulturen stets darum bemüht, sich aus ihren Alltagsbeobachtungen ein holistisches Weltbild zusammenzuzimmern, das sie mit einer über Mythen vermittelten ganzheitlichen Weltanschauung versorgen solle. Es entstehen monströse Klassifizierungssysteme, in denen jedes Element ihrer Umwelt – vom kleinsten Tier und vom entferntesten Vorfahren bis zum breitesten Fluss und zum überwältigendsten Wetterphänomen – seinen Platz findet, und zu den übrigen Elementen in assoziative Beziehungen tritt. Dieses archaische wilde Denken und das moderne gezähmte Denken seien aber keine einander radikal gegenüberstehende Oppositionspaare. Vielmehr handle es sich bei ihnen, argumentiert Lévi-Strauss, einzig um zwei unterschiedliche Verfahrensweisen der menschlichen Spezies, mit der Komplexität der Welt zu Rande zu kommen. Es ist wie mit der Architektur: Die Grundrisse mögen ähnlich sein, doch dort entsteht eine Kathedrale, hier ein Luxusbordell, dort drüben eine einfache Lehmhütte. Oder: Konfrontiert mit dem früher oder später eintretenden Tod erschlagen die einen vier Ochsen, die nur auf die linke Seite fallen dürfen, um eine verblichene Verwandte im Jenseits gnädig zu stimmen, und schieben die anderen ihre Sterbenden in Hospitäler ab, wo sie nicht mehr mit ihnen konfrontiert sein müssen, und kniet eine dritte Gruppe stundenlang schluchzend vor einem nackten Mann an einem Kreuz, während jemand lateinische Phrasen über sie hinwegschickt.
Am Ende enttarnt sich DES MORTS auf einer zarten Meta-Ebene selbst als filmische Illusion. Zuvor haben Zéno und sein Team alles darangesetzt, ihre Anwesenheit als Filmemacher vergessen lassen zu machen. Anders als Jean Rouch oder andere Protagonisten des cinéma vérité, denen es wichtig ist, ihrem Publikum permanent unter die Nase zu reiben, dass es nur ihre subjektive (Kamera-)Sicht ist, denen man auf den Leinwänden beiwohnt, treten Zéno, Garny und Ferbus völlig hinter ihren Bildern zurück. Erst kurz vor dem Abspann kommen sie aus ihrem Hinterhalt hervor, und rekapitulieren den zurückliegenden Film: Aneinandergereiht sind Aufnahmen der Menschen, die wir in der letzten halben Stunde kennengelernt haben, und sie alle schauen mehr oder weniger direkt in die Kamera. Ein Traktorfahrer, der ein offenes Grab mit Erde füllt. Ein Gast einer thailändischen Totenwache. Der Bestatter vom Anfang, der noch immer mit seiner Leiche beschäftigt ist. DES MORTS ist die Anti-These zu FACES OF DEATH, und Thierry Zéno der wohl waghalsigste, mutigste, sperrigste Filmemacher, den Belgien bislang hervorgebracht hat. Er stirbt am 7. Juni 2007, wenige Monate nach unserem letzten E-Mail-Kontakt.
Damals, in meiner Euphorie über VASE DE NOCES, habe ich mir für relativ wenig Geld den Nachfolgefilm Zénos gekauft, der bereits in einer allerdings wenig vorbildlichen Edition bei Woodhaven Entertainment erschienen war, sprich, offenbar direkt von einer verrauschten VHS auf DVD kopiert, und damit optisch ungefähr auf dem Niveau wie die Fassung von VASE DE NOCES, die ich seinerzeit vorliegen hatte. Das Team um Zeno ist identisch mit dem, das schon VASE DE NOCES fünf Jahre zuvor inszeniert hat: Dominique Garny wird neben Jean-Pol Ferbus als Co-Regisseur geführt, und erneut steuert Alain Pierre einen sparsamen, jedoch eindringlichen Elektro-Score bei. Nur wird diesmal keine bildgewaltige, sperrige Allegorie erzählt. DES MORTS ist, wie der Titel bereits andeutet, ein Panorama menschlichen und animalischen Sterbens rund um den Globus und quer durch die Zeiten. Zéno und sein Team bereisen die Vereinigten Staaten, Europa, Asien, um ihre Kameras auf Begräbnisrituale, auf siechende Körper, auf rituelle Schlachtungen, auf Seziertische oder Tiersärge zu richten. Ohne die italienische Mondo-Formel und deren shockumentary-Derivate wie vor allem John Alan Schwartzs FACES OF DEATH wäre dieser Film undenkbar. Doch obwohl Mark Goodall in einem der wenigen (populär-)wissenschaftlichen Texte zu Zénos Film argumentiert, dieser würde knietief in der Tradition dieses Genres irgendwo zwischen Exploitation, Dokumentarfilm und Kunstkino waten, mutet DES MORTS mir eher wie eine bewusste Gegenfigur zu den tabubrechenden Bildern an, die zuvor Regisseure wie Jacopetti und Prosperi, oder die Castiglioni-Brüder, oder Climati und Morra in ihren Mondo-Spektakeln untergebracht haben, um ihr Publikum, indem sie es an die eigene Vergänglichkeit erinnern, mit einem Nervenkitzel sondergleichen zu versorgen.
Was konstituiert einen Mondo-Film? Zunächst einmal seine Montage. Was wäre allein der originale MONDO CANE, wenn Jacopetti, Prosperi und Cavara nicht so ziemlich jeden schnitttechnischen Kniff angewandt hätten, um ihre Zuschauer affektiv zu überwältigen? Da wird mitten in einem Zoom geschnitten, da gefrieren die Bilder, da überwindet ein einzelner Schnitt Raum und Zeit, und lässt Dinge aufeinanderstoßen, die so wenig miteinander zu tun haben, dass ihr Zusammenprall einem visuellen Schock gleicht. Was wäre MONDO CANE außerdem ohne den suggestiven Orchesterscore Riz Ortolanis, der nicht nur die Herzen von Oscar-Jurymitgliedern höherschlagen ließ, sondern dessen Titelsong „More“ zu einem veritablen Pop-Hit avancierte? Was wäre MONDO CANE zuletzt ohne seinen voice-over-Kommentator, dessen zynischem Nihilismus und augenzwinkerndem Spott nun wirklich alles zum Opfer fällt, was Menschen tun oder nicht tun – seien es die Fruchtbarkeitsriten eines indigenen Volks, der Cargo-Kult auf Neuguinea, die Verwirrungen der Modernen Kunst, oder das unkoordinierte Umherpurzeln sturzbesoffener Reeperbahngäste? All das findet sich in DES MORTS entweder gar nicht, oder lediglich in Rudimenten. Einen Off-Sprecher erspart Zéno uns gänzlich. Die Musik Alain Pierres ist derart zurückhaltend, dass sie einem bei den seltenen Gelegenheiten, wo sie erklingt, kaum richtig zu Bewusstsein dringt. Eskapaden der Montage beschränken sich im Grunde auf die genre-üblichen Gegenüberstellungen von Praktiken in unterschiedlichen Kulturkreisen. Dichotomien-Pärchen sind zum Beispiel: In Thailand wird eine ältere Frau über Tage hinweg beigesetzt, ihr ganzes Dorf übt sich in Trauergeschrei, mehrere Ochsen werden geschlachtet, ein Hahn, ein Schwein, während in den USA Leiharbeiter den Sarg mit den leiblichen Überresten von jemandem, den sie nicht mal gekannt haben, zu plärrendem Radio-Rock fachmännisch in sein Erdloch lassen. Aus einem Flugzeug wirft ein Pilot hauptberuflich die Asche Verstorbener ins Meer, während zugleich Hindus ihre Toten einfach einem Heiligen Fluss überlassen, der sie mit sich nimmt, und zwischen Badenden verwesen lässt. Ein Bestatter richtet einen Toten her, säubert ihm die Nägel, kleidet ihn ein, übertüncht sein Tot-Sein, und seine öffentliche Repräsentation während der Trauerfeier korreliert so überhaupt nicht mit dem Eindruck, den sein eingefallener Leib kurz zuvor noch im Leichenschauhaus erweckt hat.
Wo genau wir uns gerade auf der Welt befinden, erklären uns nüchterne Ortsbestimmungen, die in Textform über den Bildern erscheinen: Le 19 juin, Bovesse, Belgique. Le 23 mai, Maesanga, Thailande. Le 17 janvier, Los Angeles, USA. Manchmal sprechen Menschen zu uns. Bei einer buddhistischen Grablegung singen die Mönche. Die Untertitel geben nur den Inhalt ihrer rituellen Gesänge ohne weiterführenden Kontext wieder. Ein an Muskelschwund erkrankter Mann erklärt, dass er weiterhin am Leben hänge, trotzdem er keine seiner Extremitäten mehr bewegen kann, und eigentlich nur noch darauf wartet, dass auch sein Herz stagniert. Ein Bestatteter führt uns gleich im Prolog in die erforderlichen Maßnahmen ein, die zu treffen sind, wenn man einen frischen Leichnam vor sich liegen habe, und ihn für die Beisetzung herausputzen soll. Ansonsten überlässt Zéno uns den Bildern, und die Bilder uns. Sein Film ist schnörkellos, ohne Schauwerte. Wenn gezeigt wird, wie in einem mexikanischen Krankenhaus die Opfer von Messerstechereien und Raubüberfällen reihenweise wegsterben, oder wenn wir zwei Pathologen dabei zuschauen, wie sie einen Leichnam öffnen, oder wenn wir einen langen Blick in einen Kremationsofen werfen, in dem gerade ein menschlicher Körper von Flammen verzehrt wird, dann verhandelt der Film das mit einer Beiläufigkeit, einer Alltäglichkeit, einer Unaufgeregtheit, die einfach nur bebildern möchte, und keinen Hintergedanken dahingehend hegt, in mir das wachzurufen, was der sensualistische Philosoph Edmund Burke schon im achtzehnten Jahrhunderts als „delightful horror“ bestimmt hat: In der Sicherheit meines Fernsehsessels ergötze ich mich an Bildern des Unsagbaren wie Folter, Leid oder eben Tod, eben weil ich mich in der Sicherheit meines Fernsehsessels weiß. Zéno, Garny und Ferbus sind Chronisten des Todes und unseres Umgangs mit ihm. Dies geschieht!, sagen mir ihre Aufnahmen von bei Stierkämpfen zu Tode gespießter Bullen, noch zuckender abgetrennter Ziegenhäupter, oder – möglicherweise die Szene, die sich am meisten ins Mondo-Terrain herüberbeugt – das „Television Archive Document“ eines philippinischen Guerilla-Kämpfers, der aufgrund des Verdachts auf Verrat von seinen Kameraden erschossen wird: Während der Mann sterbend im Gebüsch liegt, schaufelt man ihm seine Grube. Dies geschieht!, oder, im Sinne von Roland Barthes‘ Photographie-Noema: Es-ist-so-gewesen. Da schwingt keine Anklage mit, kein blödes Feixen, keine Sensationslust, keine Agenda, die über die reinen Bilder hinausgreifen würde. Wenn DES MORTS eine solche besitzen soll, muss ich die ihm schon selbst hinzudichten.
Undenkbar wäre DES MORTS möglicherweise auch ohne eine grundlegende thanatologische Studie, die nur zwei Jahre früher, 1977, von dem französischen Mediävisten Philippe Ariès veröffentlicht wird: L’HOMME DEVANT LA MORT untersucht das Verhältnis des Menschen zur eigenen Sterblichkeit vom Mittelalter bis in die Neuzeit, und basiert dabei auf einem ausufernden Konvolut an Dokumenten wie Testamenten, Grabinschriften, literarischen Zeugnissen, künstlerischen Darstellungen. Was bei Ariès ein diachrones Unterfangen ist – wir folgen dem Tod quer durch die Jahrhunderte von seiner gezähmten Form im frühen Mittelalter, als man ihn als integralen Bestandteil des Lebens betrachtete, bis hin zu seiner verwilderten Form im zwanzigsten Jahrhundert, wo man ihn an die Peripherien der Gesellschaft exiliert und mit einem Tabu belegt hat –, stellt bei Zéno ein synchrones dar. Anders als Ariés, der nur die westliche Welt im Blick hat, schweift derjenige Zénos von Ost nach West, von Nord nach Süd: In einer beschaulichen belgischen Kleinstadt werden die Toten noch in einem katholischen Zeremoniell zu Grabe gebracht wie ihre Ahnen vor hunderten von Jahren. Auch im nepalesischen Pashupatinath entledigt man sich der Toten wie seit Menschengedenken, indem man sie in einen Zufluss des Ganges wirft, wo sie fortan verfaulend mit den Wellen treiben. Demgegenüber stehen vergleichsweise moderne Umgangsweisen mit Toten wie die Kyronik, das Einfrieren Verstorbener zum Zweck, sie, wenn die Technik erstmal so weit sein sollte, wiederzu-beleben, oder auch das Medium des Films, das die Verflossenen in ihrer Lebendigkeit festhalten zu vermag: Eine Frau lässt immer wieder die letzte Video-Aufnahme ihres an Leberkrebs verschiedenen Mannes ablaufen, da dies die einzige Möglichkeit für sie ist, noch einmal seine Stimme zu hören, seinen lebenden Körper zu sehen.
Auch hier aber kein Ausspielen der Zivilisation gegen die archaischere Gesellschaft, oder der Tradition gegen die Moderne: Zéno macht sich nicht lustig, bewertet nicht, hebt nicht die eine Trauerpraxis über die andere. Er ist wie mit dem „wilden Denken“, das Claude Lévi-Strauss Anfang der 1960er in die Ethnologie einführt. Laut Lévi-Strauss seien naturnah lebende Kulturen stets darum bemüht, sich aus ihren Alltagsbeobachtungen ein holistisches Weltbild zusammenzuzimmern, das sie mit einer über Mythen vermittelten ganzheitlichen Weltanschauung versorgen solle. Es entstehen monströse Klassifizierungssysteme, in denen jedes Element ihrer Umwelt – vom kleinsten Tier und vom entferntesten Vorfahren bis zum breitesten Fluss und zum überwältigendsten Wetterphänomen – seinen Platz findet, und zu den übrigen Elementen in assoziative Beziehungen tritt. Dieses archaische wilde Denken und das moderne gezähmte Denken seien aber keine einander radikal gegenüberstehende Oppositionspaare. Vielmehr handle es sich bei ihnen, argumentiert Lévi-Strauss, einzig um zwei unterschiedliche Verfahrensweisen der menschlichen Spezies, mit der Komplexität der Welt zu Rande zu kommen. Es ist wie mit der Architektur: Die Grundrisse mögen ähnlich sein, doch dort entsteht eine Kathedrale, hier ein Luxusbordell, dort drüben eine einfache Lehmhütte. Oder: Konfrontiert mit dem früher oder später eintretenden Tod erschlagen die einen vier Ochsen, die nur auf die linke Seite fallen dürfen, um eine verblichene Verwandte im Jenseits gnädig zu stimmen, und schieben die anderen ihre Sterbenden in Hospitäler ab, wo sie nicht mehr mit ihnen konfrontiert sein müssen, und kniet eine dritte Gruppe stundenlang schluchzend vor einem nackten Mann an einem Kreuz, während jemand lateinische Phrasen über sie hinwegschickt.
Am Ende enttarnt sich DES MORTS auf einer zarten Meta-Ebene selbst als filmische Illusion. Zuvor haben Zéno und sein Team alles darangesetzt, ihre Anwesenheit als Filmemacher vergessen lassen zu machen. Anders als Jean Rouch oder andere Protagonisten des cinéma vérité, denen es wichtig ist, ihrem Publikum permanent unter die Nase zu reiben, dass es nur ihre subjektive (Kamera-)Sicht ist, denen man auf den Leinwänden beiwohnt, treten Zéno, Garny und Ferbus völlig hinter ihren Bildern zurück. Erst kurz vor dem Abspann kommen sie aus ihrem Hinterhalt hervor, und rekapitulieren den zurückliegenden Film: Aneinandergereiht sind Aufnahmen der Menschen, die wir in der letzten halben Stunde kennengelernt haben, und sie alle schauen mehr oder weniger direkt in die Kamera. Ein Traktorfahrer, der ein offenes Grab mit Erde füllt. Ein Gast einer thailändischen Totenwache. Der Bestatter vom Anfang, der noch immer mit seiner Leiche beschäftigt ist. DES MORTS ist die Anti-These zu FACES OF DEATH, und Thierry Zéno der wohl waghalsigste, mutigste, sperrigste Filmemacher, den Belgien bislang hervorgebracht hat. Er stirbt am 7. Juni 2007, wenige Monate nach unserem letzten E-Mail-Kontakt.