Die Stunde des Wolfs - Ingmar Bergman (1968)

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Salvatore Baccaro
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Die Stunde des Wolfs - Ingmar Bergman (1968)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Die deutsche Romantik im Film, Folge 1:
Ingmar Bergmans VARGTIMMEN - oder: Die Stunde des Sandmanns

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Originaltitel: Vargtimmen
Herstellungsland: Schweden 1968
Regie: Ingmar Bergman
Darsteller: Max von Sydow, Liv Ullmann, George Rydeberg, Erland Josephson, Ingrid Thulin

E.T.A. Hoffmann (1776-1822) zählt wohl zu den wenigen deutschsprachigen Autoren, die einerseits bereits zu Lebzeiten eine breite, sich nicht unbedingt nur aus Intellektuellen zusammensetzende Leserschaft erreichten, gleichzeitig aber, vor allem in der Retrospektive, von den Intellektuellen nahezu einstimmig zu den Großen der Dichtkunst gerechnet werden. Während ein Wilhelm Grimm seinerzeit noch abfallend urteilte: „Dieser Hoffmann ist mir widerwärtig mit all seinem Geist und Witz von Anfang bis Ende“, und Goethe ihn offenbar gar nicht erst als Schriftstellerkollegen auf Augenhöhe bewerten wollte, sondern ihn zu den Verrückten und Drogensüchtigen zählte, wenn er über Hoffmanns Texte, allerdings im Kern treffend, schreibt, es seien „fieberhafte Träume eines leicht beweglichen kranken Gehirns, denen wir, wenn sie uns gleich durch ihr Wunderliches manchmal aufregen oder durch ihr Seltsames überraschen, niemals mehr als eine augenblickliche Aufmerksamkeit widmen können“, so kann man den mittelbaren und unmittelbaren Einfluss des Dichters bis in die heutige Zeit als roten Faden quer durch die nicht nur europäische Kunstgeschichte verfolgen, angefangen von seinen Zeitgenossen wie Heinrich Heine und Adalbert von Chamisso über die üblichen Verdächtigen wie Poe und Baudelaire bis hin zu den Kunstopern Wagners – und selbst in einem völlig abseitigen Werk wie der 1931 von Friedrich Hielscher aus dem Ernst-Jünger-Kreis heraus publizierten nationalistischen Programmschrift DAS REICH stößt man ziemlich unvermittelt auf Lobgesänge an Hoffmann, der vom Autor gar in eine Reihe deutscher Geistes- und Seelengrößen wie Herman dem Cherusker, Friedrich dem Großen und Bismarck gestellt wird. Ebenso wie all diese hat der schwedische Regisseur Ingmar Bergman in seinem 1968er erschienen Film VARGTIMMEN dem „Gespenster-Hoffmann“ ein nicht zu geringes Denkmal gesetzt, wie ich im Folgenden zu beweisen versuchen werde.

Da VARGTIMMEN, den man mit Fug und Recht als Bergmans Ausflug ins Horror-Genre bezeichnen kann, ein Film ist, der sich einer stringenten, nach der menschlichen ratio ausgerichteten Narration verweigert und somit unzählige Interpretationsmöglichkeiten wie mehrere Rattenschwänze hinter sich her zieht, möchte ich über die eigentliche Handlung nicht allzu viel verraten. Im Grunde reicht es schon aus, die Ausgangskonstellation kurz zu umreißen, in der Bergman seine beiden Hauptfiguren, den erfolgreichen, jedoch zurzeit scheinbar in einer Schaffenskrise befindlichen Kunstmaler Johan Borg und seine Angetraute Alma auf eine isoliert im Nordmeer liegende Ostfrieseninsel versetzt, wo die Beiden den Sommer zu verbringen trachten, sie schwanger und er damit beschäftigt, seiner Kunst neues Leben einzuhauchen. Bald schon jedoch treten, wie sollte es anders sein?, erste Risse in der auf den ersten Blick harmonischen Beziehung zutage. So stellt Alma bei ihrem Gatten ein immer rätselhafter werdendes Benehmen fest. Stundenlang treibt er sich auf der Insel herum, nachts flieht ihn der Schlaf, obskure Andeutungen weisen darauf hin, dass er bei seinen einsamen Wanderungen über das verlassene Eiland anderen Menschen begegnet ist. Als Alma eigenmächtig in Borgs Tagebuch blättert, liest sie von einem gewissen Baron von Merkens, der ein Schloss auf der anderen Seite der Insel bewohnen soll, und dort in Gesellschaft seines Bruders Ernst, seiner Gemahlin Corinne, seiner Mutter sowie dem Psychoanalytiker Heerbrand und dem Archivarius Lindhorst alsbald eine Feier abhalten will, zu denen Johan und Alma herzlich geladen sind, eine Einladung, die Johan nicht ausschlägt und somit immer weiter in die Kreise der merkwürdigen Spukgestalten abdriftet, die seine eigene Psyche geboren zu haben scheint…

Interessant für jemanden, der VARGTIMMEN unter Brillengläsern der deutschen Romantik heraus betrachten möchte, ist zunächst einmal seine Struktur, in der Bergman auf ziemlich subtile Weise die progressive Universalpoesie der Schlegel-Brüder verwirklicht, d.h. den Gedanken, dass, vereinfacht gesagt, jedes beliebige Medium zum Ausdrucksmittel von Poesie werden kann, eine Überlegung, die in der literarisch-romantischen Praxis in Form dezidiert fragmentarischer und disparateste Stile vereinigender Werke wie beispielweise Achim von Armins GRÄFIN DOLORES oder Hoffmanns unvollendet gebliebenem KATER MURR verwirklichte, wo unterschiedliche Textgattungen wie Tagebucheinträge, Gedichte, Romanprosa oder kunsttheoretische Abhandlungen in einen einzigen Topf gegossen, dort verschmolzen werden und letztlich ein bewusst nicht homogenes Ganzes ergeben. Prominent wie in Hoffmanns vielleicht bekanntester Erzählung DER SANDMANN ist in VARGTIMMEN das Tagebuch Johans, das all seine schaurigen Phantasien in sich beherbergt und diese, nachdem Alma es aufgeschlagen und darin gelesen hat, vermehrt in die sogenannte Wirklichkeit entlässt. Zudem verwirklicht Johan seine Alpträume offenkundig schreibend. Jede der anfangs harmlosen und sich dann stetig ins Abstruse steigernden Begegnungen, die er ohne Alma bei seinen Inselstreifzügen erlebt hat, wird von ihm akribisch auf Papier festgehalten, sodass sie für Alma, die all das später Schwarz auf Weiß vor Augen bekommt, erst durch diesen Akt des Fixieren so etwas wie eine reale Existenz legitimiert bekommen. Nicht nur Johan ist in VARGTIMMEN indes jemand, der schreibend, d.h. schaffend, etwas, das er für die Wirklichkeit hält, künstlerisch zu bannen versucht, indem er es wie ein fremdartiges Insekt festpinnt, Bergmann lässt sich selbst und die Tatsache, dass VARGTIMMEN ein von ihm inszenierter Film ist, der eben keine Realität abspiegelt, sondern eine Gegenrealität konstruiert, ganz postmodern, nicht aus dem intermedialen Diskurs aus, wenn er seine Geschichte, bis auf drei Unterbrechungen, als einzige große Rückblende erzählt. Zu Beginn von VARGTIMMEN steht nämlich eine Texttafel, die über das spurlose und unerklärliche Verschwinden des Malers Borg aufklärt, und darüber, dass der Nachwelt, neben seinem Tagebuch, einzig seine Frau Alma als Zeugin der Vorgänge auf der menschenleeren Insel zur Verfügung steht. Bergman kleidet VARGTIMMEN damit in das Gewand eines Dokumentarfilms, dessen primäres Ziel es ist, zu erforschen, was nun genau mit Borg geschehen ist, der nach Möglichkeiten sucht, sein Verschwinden zu entschlüsseln, was noch dadurch unterstrichen wird, dass Alma, gespielt von Bergmans damaliger hochschwangerer Ehefrau Liv Ullmann, mit Blick in die Kamera vor derselben mit dem Rücken zu der Hütte, in der sie die letzten Wochen mit Johan gelebt hat, an einem Tisch sitzt und dem unsichtbar bleibenden Filmteam einen langen Monolog hält, aus dem sich dann schließlich der gesamte restliche Film zusammensetzt. Dass das aber freilich lediglich eine weitere Illusion ist, die Bergman gar nicht erst aufkommen lassen will, untermauert der Vorspann. Sofort nachdem die Texttafeln dem Zuschauer einen groben Überblick darüber verschafft haben, was er storytechnisch von VARGTIMMEN zu erwarten hat, setzen laute, nervige Hintergrundgeräusche ein. Hämmern ist zu hören, Anweisungen, gerufen von einem Filmregisseur, elektronisches Fiepen. Dass VARGTIMMEN nichts weiter ist als ein Spielfilm, hinter dem ein ganzer Apparat an Mechanismen steht, die für seine Entstehung verantwortlich sind, das führt Bergman mit echter romantischer Ironie vor, eben damit, um beim Originalwortlaut Friedrich Schlegels zu bleiben, dass er das Produzieren eines Produkts in diesem Produkt selbst zur Reflektion zwingt.

Ebenfalls echt romantisch ist Bergmans Verwendung der Natur, die in VARGTIMMEN nicht etwa bloß eine düster-malerische, wie aus einem Nebelschwadengemälde Caspar David Friedrichs oder einem Stummfilm des von Bergman verehrten und in seinem Klassiker SMULTRONSTÄLLET als Hauptdarsteller eingesetzten Regisseurs Victor Sjöström entsprungene Kulisse abgibt, sondern von der Handlung gar nicht wegzudenken ist, sie sogar größtenteils konstituiert, denn ohne die grenzenlose Einsamkeit der Insel und dem damit einhergehenden Einsiedlerleben, dem sich Alma und Johan unterwerfen, wäre die folgende Katastrophe wohl kaum denkbar. Dabei ist Bergmans Naturbild genauso ambivalent wie das, das beispielweise Ludwig Tieck in seinem RUNENBERG oder Hoffmann in den BERGWERKEN ZU FALUN vertritt. Einerseits hat sie etwas sirenenhaft Einschmeichelndes, die Fähigkeit, den Menschen, der sich ihr hingibt, zu sich selbst zurückzuführen beziehungsweise zu einer verlorenen Einheit mit dem Kosmos, andererseits birgt sie in sich, wie jede echte Sirene, die etwas auf sich hält, eine oftmals mit dem Tod endende Gefahr für den, der sich ihr nicht zur rechten Zeit wieder entzieht. So kann Johan aus der reinen Natur, die sich ihm wie eine Bühne darbietet, offenbar zunächst die verlorene Inspiration graben, auf deren Suche er ist, schlussendlich aber verliert die Natur ihre nackte, nüchterne Reinheit, indem sie beginnt, sich mit den Dämonen seiner eigenen Seele zu bevölkern. Aus einem in sich ruhenden Zustand wie aus einer Zeit, in der die Welt noch von keinen Menschen belästigt wurde, verwandelt die ostfriesische Insel sich zu einem Sammelsurium der menschlichen Abgründe Johans, die sie, zumindest in meiner Interpretation, somit zu einem Spiegelbild der in ihr agierenden Seelen werden lassen. Texte wie Eichendorffs MARMORBILD oder erneut Tiecks RUNENBERG und natürlich Hoffmanns SANDMANN haben, angefangen von Sigmund Freud höchstpersönlich, für ganze Generationen Psychoanalytiker ein gefundenes Fressen abgeben, ihre Theorien zu erproben, zu beweisen oder erst zu bilden, und VARGTIMMEN ist damit ganz nahe an diesen Texten dran, weil Bergman hier im Grunde nichts erklärt, nichts deutet, vielmehr versucht, in eine prä-psychoanalytische Zeit zurück zu rutschen, in der die deutschen Romantiker sich noch damit begnügen mussten, unbewusst Geahntes in starken Bildern darzustellen oder mit diesen weitflächig zu umschreiben. Was nun genau sich in Johans Psyche abspielt, was von dem, das Alma und er erleben, „echt“ ist, und welche Komplexe seiner Kindheit nun genau welches Krankheitssymptom ausgelöst haben, das scheint Bergman nur sekundär zu interessieren. Er überlässt die Beantwortung solcher Fragen seinen Rezipienten. In VARGTIMMEN selbst ist nur das angelegt, was Johan und Alma unmittelbar sehen oder zu sehen meinen. Daran ändert auch die Anwesenheit eines geohrfeigten und Ohrfeigen verteilenden Psychoanalytikers nichts, der dementsprechend mehr von einer ironischen Karikatur hat und wohl nicht mal ansatzweise so ernstgemeint ist wie die Berufskollegen, die in Hitchcock-Filmen wie PSYCHO oder MARNIE aufmar-schieren, um hochkomplexe psychologische Vorgänge in vier, fünf Sätzen abzuhandeln.

Überhaupt ist die Grenze, sofern denn überhaupt vorhanden, zwischen Fiktion und Realität in VARGTIMMEN wohl erst nach mehrmaliger Sichtung und nach Finden eines eigenen Interpretationsansatzes auszumachen, d.h. eigenmächtig zu bestimmen. An sich fließen die Traumgesichter Johans und das, was man objektiv wahrnehmen könnte, gäbe es so etwas wie eine Objektivität außerhalb der menschlichen Einbildung, unaufhörlich ineinander, verzahnen sich, sind mit zunehmender Laufzeit nicht mehr voneinander zu scheiden, bedingen einander letztendlich gar, und führen zu Almas finaler Frage, in die Kamera und damit in das Publikum hinein gerichtet, ob die grotesken Begebenheiten der knapp achtzig Minuten zuvor sich nun nur in Johans und ihrem Kopf ereignet haben oder ob sie tatsächlich faktisch real zu nennen sind. Zugleich treibt Bergman freilich sein Spiel damit, beide Ebenen zu vermischen oder vermeintlich abzugrenzen, und nutzt dafür immanent filmische Mittel wie das Verstummen von Dialogen mitten im Satz oder unterschiedlichen ästhetischen Ausgestaltungen, am augenfälligsten wohl in der wirklich heftigen Begegnung zwischen dem angelnden Johan und einem kleinen Jungen, bei der kein einziger Indikator irgendeinen Hinweis dafür liefert, inwieweit diese nun ihre Entsprechung in der Wirklichkeit hat oder am Ende nur einen weiteren Traum symbolisch verdeutlichen soll. Hoffmann, um auf ihn zurückzukommen, hat in seinem eigenen Medium, dem der Sprache, ähnliche Verfremdungseffekte mit ähnlicher Brillanz ausgestaltet. Man denke hierbei nur einmal mehr an seinen SANDMANN. Dessen Finale sei stellvertretend für unzählige Passagen aus dem Hoffmannschen Oeuvre hier zitiert, um zu verdeutlichen, wie nahtlos innere Vorgänge bei dem Dichter in das äußere Erleben hinüberraten und dieses, aus subjektiver Perspektive betrachtet, verzerren können. Dort heißt es, nachdem Nathanael, nur scheinbar von seinem Irrsinn geheilt, in einem letzten Wahnanfall seine Verlobte Clara von einem Turm zu stoßen versucht hat, wie folgt: „Nun raste Nathanael herum auf der Galerie und sprang hoch in die Lüfte und schrie »Feuerkreis dreh dich – Feuerkreis dreh dich« – Die Menschen liefen auf das wilde Geschrei zusammen; unter ihnen ragte riesengroß der Advokat Coppelius hervor, der eben in die Stadt gekommen und gerades Weges nach dem Markt geschritten war. Man wollte herauf, um sich des Rasenden zu bemächtigen, da lachte Coppelius sprechend: »Ha ha – wartet nur, der kommt schon herunter von selbst«, und schaute wie die übrigen hinauf. Nathanael blieb plötzlich wie erstarrt stehen, er bückte sich herab, wurde den Coppelius gewahr und mit dem gellenden Schrei: »Ha! Sköne Oke – Sköne Oke«, sprang er über das Geländer. Als Nathanael mit zerschmettertem Kopf auf dem Steinpflaster lag, war Coppelius im Gewühl verschwunden.“ Mit dem verrückt gewordenen Kopf, so scheint es, sind, sobald dieser zerschmettert ist, ebenso sämtliche Alptraumfiguren ins Nichts gestoßen, aus dem sie durch ihn erst in die Welt hatten treten können – und trotzdem gibt es keine Garantie dafür, dass der Advokat Coppelius, der Schrecken aus Nathanaels Kindertagen, nicht wirklich exakt im Moment seines Todes unter besagtem Turm gestanden und ihm beim Stürzen zugeschaut haben mag.

Die weiteren Gemeinsamkeiten zwischen VARGTIMMEN und dem SANDMANN werden, glaube ich, selbst demjenigen ins Auge springen, der beide Werke nur oberflächlich überflogen hat. Hier wie dort steht ein Mann im Mittelpunkt, der offenkundig in den Wahnsinn abdriftet. Hier wie dort ist eine liebende, letztlich aber hilflose Frau an seiner Seite, die er in den Wahnsinn mitzureißen droht. Die Gestalt des Sandmanns selbst, ein Unhold, mit dem Nathanael, dem Helden der Novelle, zu Kinderzeiten gedroht wurde, wenn er nicht artig sei und sich nicht früh genug ins Bett begebe, und der ihn dann, erwachsen geworden, verkörpert in dem italienischen Händler Coppola, zu verfolgen scheint, findet sich, wenn auch ein wenig verformt, in VARGTIMMEN. In einer ihrer gemeinsamen Nachtwachen, die aus Johans Schlaflosigkeit resultieren – übrigens eine weitere Anspielung an Hoffmann, der sein Kunstmärchen DER GOLDENE TOPF ja bekanntlich, wiederum als Huldigung an Bonaventuras gleichnamigen Text, in sogenannte Vigilien unterteilt -, erzählt er Alma von einem traumatischen Kindheitserlebnis, als er wegen irgendeiner Unartigkeit von seinem Vater in einen Schrank gesperrt worden ist, von dem man ihm weisgemacht hat, dass dort ein kleines Männchen hausen soll, das nur das Schlimmste mit ihm im Schilde zu führen gedenkt. Der kleine Johan schreit, weint, versucht verzweifelt, dem Schrank zu entkommen, und ist so froh, endlich draußen zu sein, dass er sogar die auf die psychische folgende physische Strafe, nämlich Stockhiebe auf den blanken Hintern, die sein Vater für ihn bereithält, willig akzeptiert. Wirklich eindringlich verdeutlicht Bergman hier, ähnlich wie Hoffmann, nur eben in einem äußerst minimalistischen, tiefdüsteren Setting, die Nachtseiten der Schwarzen Pädagogik. So wie Haneke in DAS WEISSE BAND braucht er die Schläge, die psychischen Qualen, die der kleine Junge zu erdulden hatte, nicht zu verbildlichen, um sie nachhaltig wirken zu lassen. Es reicht, dass Johan aus der Retrospektive heraus in einem nur von spärlichem Lampenschein erhellten Zimmer davon zu erzählen anfängt. Überhaupt muss man sagen, dass VARGTIMMEN, verglichen mit Hoffmanns Texten, ungleich finsterer und gruseliger daherkommt. Gibt es bei Hoffmann selbst in seinen lichtlosesten Nachtstücken noch einen ironischen Schimmer, irgendeinen derart absonderlichen Einfall, dass er unweigerlich zum Lachen reizt, einmal ganz zu schweigen von seinen gezielt ulkig-possierlichen Werken wie beispielweise dem Weihnachtskindermärchen NUSSKNACKER UND MAUSEKÖNIG oder den karnevalesken Späßen in KLEIN ZACHES, GENANNT ZINNOBER, so hat man bei VARGTIMMEN, finde ich, nicht allzu viel zu schmunzeln. Vor allem die Szenen, in denen Alma und Johan allein mit sich sind und mit endlosen Gesprächen versuchen, den Schlaf von sich fernzuhalten, bedrücken mich auf ganz besondere Weise. Mit einem Minimum an Mitteln erzielt Bergman ein Maximum an Schrecken. VARGTIMMEN einen Horrorfilm zu nennen, ist für mich daher alles andere als verfehlt – da mag manche Szene im Schloss noch so skurril erscheinen.

Schlussendlich verrät Bergman neben den oben genannten mit Hoffmanns Arbeiten verwandten künstlerischen Methoden der Realitätsverwirrung durch gezielt-geschickte Anspielungen relativ deutlich, dass er VARGTIMMEN durchaus als bewusste Hommage an den deutschen Dichter inszeniert hat. Dass van Merkens Mutter scheinbar ein mit Klebstoff notdürftig zusammengeschusterter Automatenmensch ist wie die Olimpia im SANDMANN, nur nicht ganz so reizend, oder dass in den sinnleeren Tischgesprächen der Partygäste eine gesellschaftskritische, bissige Note auftaucht, wie sie Hoffmann so hervorragend und gerne zelebriert hat, das alles mag man, will man mich unbedingt widerlegen, noch als Zufälligkeiten abtun, schwierig wird dies aber dann, wenn Bergman nicht nur Namen Hoffmannscher Figuren, sondern den des Dichters selbst gar nicht mal so versteckt in seinem Film unterbringt. Sowohl einen Registrator Heerbrand, hier ist er indes ein Psychoanalytiker, wie auch einen Archivarius Lindhorst kennt man beide aus dem GOLDENEN TOPF. Letzterer wirkt in VARGTIMMEN wie ein Bela-Lugosi-Double, das sich, so wollen es Johans Chimären, in einen Raben verwandeln kann. Bei Hoffmann nun hat eben dieser Lindhorst, in Wirklichkeit ein verkleideter Salamanderkönig, Vater dreier lieblicher Schlänglein, einen Auftritt als Geier, den ich hier unbedingt wiedergeben muss, so unfassbar korrespondiert er mit der Rabenmetamorphose, die der Bergmansche Lindhorst durchlebt: „Der Archivarius hatte dem Studenten Anselmus ein kleines Fläschchen mit einem goldgelben Liquor gegeben, und nun schritt er rasch von dannen, so, daß er in der tiefen Dämmerung, die unterdessen eingebrochen, mehr in das Tal hinabzuschweben als zu gehen schien. Schon war er in der Nähe des Koselschen Gartens, da setzte sich der Wind in den weiten Überrock und trieb die Schöße auseinander, daß sie wie ein Paar große Flügel in den Lüften flatterten, und es dem Studenten Anselmus, der verwunderungsvoll dem Archivarius nachsah, vorkam, als breite ein großer Vogel die Fittige aus zum raschen Fluge. – Wie der Student nun so in die Dämmerung hineinstarrte, da erhob sich mit krächzendem Geschrei ein weißgrauer Geier hoch in die Lüfte, und er merkte nun wohl, daß das weiße Geflatter, was er noch immer für den davonschreitenden Archivarius gehalten, schon eben der Geier gewesen sein müsse, unerachtet er nicht begreifen konnte, wo denn der Archivarius mit einemmal hinge-schwunden.“ Um noch einen draufzusetzen, lässt es Bergman sich auch nicht nehmen, die womöglich prominenteste von Hoffmann ersonnene Figur, sozusagen seinen literarischen Doppelgänger, den Kapellmeister Kreisler, bei der zweiten Schlossparty mit selbstverständlicher Beiläufigkeit vor dem Piano zu platzieren. Für den, dem das noch immer nicht reicht, gibt es obendrein die drei Vornamen Hoffmanns kredenzt. Demnach heißt der reichlich verschrobene Bruder des Barons von Merkens mit Vornamen Ernst. Lindhorst erneut führt in einer ergreifenden Szene, einem weiteren Beispiel dafür, wie in VARGTIMMEN innerhalb eines Kunstwerks über die Kunst an sich reflektiert wird, mittels eines Puppentheaters ein Stück aus Mozarts ZAUBERFLÖTE auf, eben jenem Komponisten, dessen Vornamen Amadeus sich Hoffmann eigenmächtig aus Bewunderung 1805 zugelegt hat, und der, ins Griechische übersetzt, nichts anderes als Theodor ergibt. Ernst, Theodor und Amadeus, allesamt vereint: deutlicher kann es kaum werden.

Doch auch ohne diese Fingerzeige wäre VARGTIMMEN nichts weniger als eine außerordentlich gelungene Tradierung der Inhalte und der Ästhetik eines der größten Romantikers in die Kunstform des Kinos, eine Tradierung wohlgemerkt, die sich nicht mit einem bloßen Übersetzen begnügt, sondern dabei selbst für den, der in seinem Leben nie von einem Schriftsteller namens Ernst Theodor Amadeus Hoffmann gehört hat, einen für sich allein funktionierenden, erschütternden, verwirrenden, verstörenden Film schafft, dessen romantische Anleihen, hat man sie, wie ich, durchschaut, einzig verstärken, was sowieso schon in ihm begründet liegt.
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Re: Die Stunde des Wolfs - Ingmar Bergman (1968)

Beitrag von buxtebrawler »

„Ungefähr in einer Stunde wird es hell, dann kann ich endlich schlafen!“

Das Horrordrama „Die Stunde des Wolfs“ aus dem Jahre 1968 bildet den Auftakt der Fårö-Trilogie des schwedischen Autorenfilmers Ingmar Bergman („Die Jungfrauenquelle“). All diesen Filmen ist gemein, dass sie auf jenem schwedischen Eiland gedreht wurden, wenngleich die Handlung in diesem Falle auf deutschem Hoheitsgebiet angesiedelt wurde.

„Die Alten nennen sie die Stunde des Wolfes. In dieser Stunde sterben die meisten... und die meisten Kinder werden geboren.“

Der bildende Künstler Johan Borg (Max von Sydow, „Wilde Erdbeeren“) befindet sich inmitten einer kreativen Flaute, die er zu überwinden sucht, indem er sich mit seiner Frau Alma (Liv Ullmann, „Persona“) auf der abgeschiedenen ostfriesischen Insel Baltrum den rauen Nordseewind um die Nase wehen lässt. Doch Nordsee ist Mordsee und Johan verschwindet eines Tages spurlos. Alma fand bereits zuvor sein Tagebuch und las darin das Psychogramm eines Mannes, der von Erinnerungen an seine ehemalige Geliebte Veronica Vogler (Ingrid Thulin, „Das Schweigen“), Wahnvorstellungen und Halluzination geplagt wurde und mehr und mehr den Verstand verlor. Schon früh wurde seine sich anbahnende psychische Erkrankung einem Jungen (Mikael Rundquist) zum Verhängnis, den er aus Furcht erschlug und ins Meer warf – sofern sich das nicht auch bereits lediglich in seiner Fantasie abspielte. Oder sind die Monster, die ihn verfolgten, echt und eine dunkle Macht war hinter ihm her?

Unter Bergmans Regie sieht die Verfilmung dieser eigentlich vielversprechend klingenden Prämisse dann in etwa wie folgt aus (Achtung, kompletter Spoiler): Der Schwarzweißfilm eröffnet mit Texttafeln, die von Johans Verschwinden berichten, um anschließend formal als eine Mockumentary zu beginnen: Ein (für die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht sichtbares) Kamerateam beginnt ein „Interview“ mit Alma, Regieanweisungen sind auf der Tonspur zu hören. Ihre Antworten werden jedoch nach einem radikalen Stilbruch in Form visualisierter Rückblenden im klassischen Spielfilmgewand aus ihrer Perspektive erzählt. In ihnen weist eine alte Frau Alma auf Johans Tagebuch hin, das Alma daraufhin findet und darin zu lesen beginnt. Daraufhin etabliert Bergman eine weitere Zeitebene, sprich: Rückblenden in der Rückblende, nun aus Johans Perspektive. Dieser trifft Barons von Merkens (Erland Josephson, „Das Gesicht“), den Besitzer der Insel, sowie eine junge Frau, die ihm einen blauen Fleck auf ihrer nackten Brust zeigt und ihn zu kennen scheint. Mit ihr scheint er eine Affäre zu haben. Ferner begegnet er Heerbrand (Ulf Johansson, „Das siebente Siegel“), der ihn vollquatscht und offenbar mit seinem Werk vertraut ist. Ihn schlägt Johan nieder.

Am Esstisch geht Alma gemeinsam mit Johan den Finanzhaushalt durch. Sie Besuchen eine Feier, auf der sie sich sichtlich unwohl fühlen, sowie eine Opernaufführung. Veronica Vogler, mit der er fünf Jahre lang eine Affäre hatte, plaudert auf die beiden ein. Alma fürchtet, dass man sie und Johan auseinanderbringen möchte und gesteht ihm verzweifelt, dass sie sein Tagebuch gelesen hat. Nach 45 Minuten platziert Bergman unvermittelt eine erneute Einblendung des Filmtitels. Besten Dank – nicht auszudenken, der Film hätte eine gewisse Kohärenz entwickelt und so etwas wie Stimmung oder Atmosphäre entfalten können… In der zweiten Filmhälfte erzählt Johan Alma von Kindheitsängsten, -trauma und Misshandlung und gesteht, was am Tage eines vermeintlichen Schlangenbisses wirklich geschehen ist. Zeit für eine dritte Zeitebene, die Rückblende in der Rückblende in der Rückblende! Es war Sommer, Johan unternahm einen Angelausflug und erschlug einen Jungen, weil er sich vor ihm fürchtete. Diese Ebene geht mit einem weiteren Stilwechsel einher: Sie hat keinen szenenimmanenten Ton, dafür erklingt irre dramatische Orchestermusik vom Soundtrack.

Johan wird nun auch seiner Frau gegenüber unwirsch, scheucht sie davon und schießt sogar nach ihr. Eine seltsame Frau bittet ihn, ihre Füße zu liebkosen. Nun wird’s grafisch gruselig: Voglers Mann ist eifersüchtig und geht im wahrsten Sinne des Wortes die Wände hoch. Jemandes Gesicht entpuppt sich als Maske, die er sich gruselig vom Gesicht zieht. Das sind starke Einzelszenen, die auch in „herkömmlichen“ Horrorfilmen eine gute Figur machen würden. Jemand kleidet Johan für ein neues Liebesabenteuer mit Veronica ein, woraufhin er sie wie eine Leiche nackt aufgebahrt vorfindet. Er streichelt sie, sie lebt und lacht sich kaputt, schmust zugleich mit ihm. Andere schauen zu und lachen ebenfalls. Dabei ist die Szene alles andere als lustig – Bergman zeigt durchaus eindrucksvoll, wie furchterregend Gelächter sein kann. Der Film ist kurz davor, in die Bahn zu finden, da zieht Bergman die Notbremse: Während Johan philosophiert, stellt Bergman den Ton auf stumm und zeigt einen Auszug aus der dritten Rückblendenebene, den Totschlag des Jungen, erneut.

Schließlich endet die ausgedehnte Rückblende, Alma befindet sich wieder in der Interview-Situation. Eine weitere Rückblende zeigt, wie sie Johan irgendwo im Freien herumliegend fand und, als eine Art Finale oder Pointe, den grausigen Gestalten, die ihren Mann verfolgten, ebenfalls begegnet. Dies wirft die Frage auf, ob es sich tatsächlich lediglich um Wahnvorstellungen Johans handelte oder diese Figuren und damit der Horror real sind – bzw. ob mittlerweile auch Alma derart durch den Nordseewind ist, dass nun auch sie zu halluzinieren beginnt. Diese Frage stellt Alma sogar ganz konkret in die Kamera: „Ist es nicht so, dass eine Frau, die lange mit einem Mann zusammenlebt, im Laufe der Jahre diesem Mann ähnlich wird? Wenn sie ihn liebt, beginnt sie, zu denken wie ihr Mann, zu sehen wie er. Es heißt, dass sich dadurch ein Mensch verändert.“

„Die Stunde des Wolfs“ hätte eine Art schwedisches Autoren-„Shining“ werden bzw. jenem King-Werk und dessen Verfilmungen vorweggreifen können und steckt mit seinen E.T.A.-Hoffmann-Zitaten zumindest mit einem Bein knietief in der deutschen Romantik. Doch zu ohnehin spröden Schwarzweißbildern gesellen sich regelrecht abweisende Brüche und eine zähe, sperrige, kaum Dramaturgie zu nennende Narration, die man sich „erarbeiten“ muss. Dadurch wirkt der Film, als habe Bergman ihn absichtlich zerstört und damit entweder sich selbst oder sein Publikum strafen wollen – für was auch immer. Somit ist „Die Stunde des Wolfs“ ein alptraumhaft-surreales Horror-Psychodrama, das gewissermaßen die Form seiner Inhalte übernimmt – und mir trotz der beschrieben, im positiven Sinne verstörenden Einzelszenen zu experimentell, unausgegoren und unentschlossen.
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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Diese Filme sind züchisch krank!
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