Ein Drittel der Nacht - Andrzej Zulawski (1971)

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Salvatore Baccaro
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Ein Drittel der Nacht - Andrzej Zulawski (1971)

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Originaltitel: Trzecia Czesc Nocy

Herstellungsland/Jahr: Polen 1971

Regie: Andrzej Zulawski

Darsteller: Malgorzata Braunek, Leszek Teleszynski, Jan Nowicki, Jerzy Golinski, Anna Milewska, Michal Grudzinski, Marek Walczewski, Hanna Stankówna, Alicja Jachiewicz

TRZECIA CZESC NOCY, Andrzej Zulawskis erster Spielfilm nach zwei kürzeren Werken für das polnische Fernsehen, PAVONCELLO von 1967 und PIESN TRIUMFUJACEJ MILOSCI von 1969, beginnt wie POSSESSION, sein vierter und neben L’IMPORTANT C’EST D’AIMER wohl bekanntester Spielfilm, aufhört, mit einer Apokalypse, einerseits der konkreten literarischen Apokalypse in Form der Johannes-Offenbarung, die Malgorzata Braunek aus der Bibel vorliest, andererseits mit der persönlichen Apokalypse der Hauptfigur Michal, der gleich in den ersten Filmminuten seine halbe Familie, Mutter, Ehefrau und kleinen Sohn verliert. Ähnlich wie die Tonspur am Ende von POSSESSION mit der Zusammenkunft der beiden Doppelgänger Marks und Annas zu der Großaufnahme von Isabelle Adjanis entsetztem Gesicht ein wahres Inferno aus Bombenregen, Detonationen und Sirenengeheul auffährt, den Verdacht nahelegend, dass das Jüngste Gericht gerade eingeläutet wurde, und sich zeitgleich dazu die unschuldigste Figur des Films, den Sohn Marks und Annas, in der Badewanne ertränkt, kombiniert Zulawski auch in TRZECIA CZESC NOCY, dessen Handlung im besetzten Polen Anfang der 40er angesiedelt ist, den Untergang einer ganzen Welt mit dem einer persönlichen. Michal, das erfährt der Zuschauer gleich zu Beginn, ist an Typhus erkrankt, und daher von seiner Familie in deren entlegenes Anwesen mitten im Wald gebracht worden, um sich dort in Ruhe auskurieren zu können. Nach langem Fieber erwacht er endlich im Kreis seiner Eltern, seiner Frau Marta und ihrem gemeinsamen Kind. Während die beiden Frauen in der Villa zurückbleiben, unternimmt Michal mit seinem Vater einen Genesungsspaziergang. Kaum haben die Männer das Grundstück verlassen, dringen deutsche Soldaten zu Pferd in das Gebäude ein, erschlagen ohne viel Aufhebens Michals Gattin und seine Mutter, lassen nicht mal das Kind, das sich von Michal und seinem Vater unbemerkt entfernt hat, verschont, als es zu seiner sterbenden Mutter geeilt kommt. Michal und seinem Vater bleibt nichts anderes übrig als aus der Ferne zu warten bis die Soldaten abgezogen sind, danach ihre Toten zu bestatten und die Flucht anzutreten, falls die Mörder noch einmal zurückkehren sollten. Ihr Weg führt sie nach Lemberg, wo Michal seinen unbeschreiblichen Verlust dadurch zu mildern sucht, dass er Kontakte zu einer Widerstandsgruppe knüpft, deren blinder Anführer mittels Sabotageakte gegen die deutschen Besatzer interveniert. Gleich Michals erster Auftrag indes endet in einem Blutbad. Sein Freund Olek, ebenfalls Mitglied der Resistance, wird vor seinen Augen erschossen, ihn selbst streift eine Kugel, mit der im Körper er sich eine waghalsige Verfolgungsjagd mit der SS liefert, die ihn schließlich nur deshalb nicht in einem Treppenhaus stellt, dessen Stufen er sich erschöpft und hoffnungsvoll emporzieht, weil der Zufall sie ein paar Etagen tiefer mit einem Mann zusammenstoßen lässt, der exakt den gleichen Mantel wie Michal trägt, und daher von ihnen verwundet und an seiner Stelle verschleppt wird, auch wenn seine schwangere Frau alles daran setzt, die Deutschen von ihrer Verwechslung zu überzeugen. Michal indes ist sprachlos über die Ähnlichkeit, die zwischen seiner eigenen ermordeten Frau und der Schwangeren besteht, die sich nun, nachdem all ihr Flehen nicht hat verhindern können, dass ihr schwerverletzter Mann von den Nazis zum Verhör ins nächste Gefängnis mitgenommen wird, offenbar kurz vor den Wehen stehend, zurück in ihre Wohnung schleppt, wo sie zusammenbricht, und wohin Mihal ihr folgt, und ihr, von Erinnerungen an die Geburt seines toten Sohns überkommen, dabei hilft, ihr eigenes Kind auf die Welt zu bringen.

Was Zulawski nach dieser Expositionen im Folgenden entwirft, ist ein Film der fließenden Grenzen, in dem sich als brüchig erweist, was sonst fest und unnachgiebig scheint. Im Falle Michals sind es die Erinnerungen an seine verstorbene Frau, die die Zeit aus ihren Angeln heben, und ihn mit zunehmender Laufzeit die Grenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und, durch seine andauernde Typhusinfektion verursachten, Fieberträume verwischen lässt. TRZECIA CZESC NOCY ist, auch das eine Gemeinsamkeit mit POSSESSION, ein zutiefst subjektiver Film. Im Grunde jede einzelne Szene wird aus der Sicht seines Protagonisten geschildert. Auch wenn seine Schwester Klara, eine Nonne, noch so sehr beteuert, dass die Frau, die er unter solch ungewöhnlichen Umständen kennengelernt hat, Marta überhaupt nicht ähnlich sieht, bringt das weder Michal davon ab, Hoffnungen zu hegen, mit ihr und ihrem Neugeborenen ein zweites Leben anfangen zu können, eine zweite Familie zu begründen, noch lässt es Zulawski von dem genialen Einfall wegrücken, sowohl die tote Marta als auch die namenlose neue Geliebte Michals mit der gleichen Schauspielerin, ironischerweise seiner eigenen Ehefrau Malgorzata Braunek, zu besetzen, und somit permanent den Standpunkt seines Helden einzunehmen, nie auf einen objektiven auszuweichen, der enthüllen könnte, ob die frappierende Ähnlichkeit zwischen den Frauen nun wirklich nur ein Hirngespinst des verzweifelten Michals ist oder tatsächlich besteht. Genau wie Mark in POSSESSION die Lehrerin seines Sohnes zu einem Ebenbild der Frau hochstilisiert, die ihn verlassen und betrogen hat, sie zur Projektionsfläche für all seine Sehnsüchte und Wünsche werden lässt, sie wie durch eine verzerrende Brille sieht, deren Gläser einzig darauf aus sind, ihm das zu zeigen, was er sehen will, und ihm das vorzuenthalten, was ihn in seinen Illusionen stören könnte, nutzt Michal die erstbeste Gelegenheit, der Wirklichkeit wie sie vorliegt seinen persönlichen Blick überzustreifen, und sie dadurch für sich selbst und für den Zuschauer zu verändern, so wie es seine Schwester ausdrückt, die in einer Szene davon spricht, dass er wie ein Spiegel sei, der die eine Realität auf die andere abbilde. (Unter anderen Vorzeichen wiederholt sich dieses Schema auch in LA FEMME PUBLIQUE, wo sich Hauptfigur Ethel indes aber freiwillig dazu entschließt, in die Rolle der verschwundenen Frau des tschechischen Exilanten Mihal zu schlüpfen, sich ihre Optik aneignet, um ihr eigenes Leben hinter sich lassen zu können, in einer Illusion abzutauchen, die, wäre LA FEMME PUBLIQUE wie POSSESSION und TRZECIA CZESC NOCY aus Sicht des männlichen Parts dieser Beziehung inszeniert worden, wahrscheinlich auch dadurch verbildlicht worden wäre, dass sich ein und dieselbe Schauspielerin die Rolle der Ethel und die der Milena hätte teilen müssen.) Zulawski lässt es sich in TRZECIA CZESC NOCY allerdings nicht nehmen, das Kollidieren von Michals Erinnerungsfragmenten mit der Wirklichkeit als ein fließendes Übergehen oder Überlappen darzustellen. So wandert Michal in einer Szene in einer Wohnung von einem Raum zum nächsten, wobei jede Schwelle das Übertreten einer Zeitgrenze bedeutet. Eben noch hat er sich in der Situation des ersten Kennenlernens mit Marta befunden, ein Zimmer weiter ist er wieder bei der namenlosen Fremden, die gerade ihr Kind gebar. Jedoch nicht nur Michal ist es, der sich zwischen den Zeiten und Welten bewegt, vor allem sein toter Sohn treibt sich öfters im Bildhintergrund herum und beäugt das Treiben seines Vaters mal mit mitleidvollen, mal mit interessierten, mal mit vorwurfsvollen Blicken, und auch Marta materialisiert sich in Momenten des Erinnerns physisch vor ihrem Mann. Zulawski, dessen Regiekunst sich unter anderem gerade aus diesem Aspekt speist, das Unsichtbare sichtbar werden zu lassen, ob nun darin, dass seine Figuren ihre seelischen Konflikte in Form von hysterischen Anfällen oder Heulkrämpfen physisch ausagieren, oder eben in der vorliegenden Weise, in dem Nach-Außen-Treten der Gespenster Mihals, die ihn in seinem Innern heimsuchen und die sich in bestimmten Augenblicken ganz konkret in der ihn umgebenden Realität verankern, erinnert mit dieser Methode der Grenzverwischung mich dabei im Ansatz ein wenig an Tarkowskijs ZERKALO, auch wenn letzteres Werk mit seiner rein assoziativ, sämtliche Regeln der Chronologie missachtende Familienerzählung freilich einen wesentlich radikaleren und sperrigeren Weg einschlägt als das bei TRZECIA CZESC NOCY der Fall ist.

Eine Brücke zu ZERKALO, in dem Tarkowskij sich dezidiert auf Gedichte und persönliche Erinnerungen seines Vaters bezieht, wird zusätzlich über das Drehbuch von TRZECIA CZESC NOCY hergestellt. Im Interview auf der Second-Run-DVD berichtet Zulawski vom Entstehungsprozess des Skripts, dass er zunächst seinen Vater gebeten habe, seine Kriegserinnerungen für ihn in Drehbuchform niederzuschreiben, eine Grundlage, auf der Zulawski dann seine fiktive Story Michals errichtete. Auch hier verwischen somit die Grenzen, die zwischen Generationen, die von Fiktion und Wirklichkeit, die zwischen den Erlebnissen von Zulawskis Vater, der, wie Mihal, in der polnischen Resistance tätig war, sich ebenso damit Geld verdiente, dass er seine Typhuserkrankungen nutzte, um sich im örtlichen Krankenhaus als Versuchskaninchen für das Finden eines Anti-Typhus-Serums herzugeben, und den Eindrücken Zulawskis selbst, der als kleiner Junge, wie er in der Dokumentation ZULAWSKI PAR ZULAWSKI erzählt, von einem Fenster aus Erschießungen hautnah miterlebte und in den Kriegswirren eine Schwester verlor. TRZECIA CZESC NOCY geht es dabei nur sekundär darum, eine detailgetreue Nachzeichnung der Situation im Lemberg der frühen 40er zu geben. Natürlich bleibt es nicht aus, dass der historische Kontext eine gewichtige Rolle spielt, jedoch scheint es Zulawski mehr darauf angelegt zu haben, eine bestimmte Stimmung, eine bestimmte Atmosphäre wiederzugeben, die wiederum viel mit der in POSSESSION zu tun hat. Hier wie dort dominieren Blautöne, hier wie dort spielen sich essentielle Szenen in labyrinthischen Treppenhäuser ab, hier wie dort ist die Gewalt omnipräsent, wenn beispielweise am hellichten Tag ein kleiner Junge von einem Nazi-Offizier auf einem Marktplatz niedergeschossen wird. Diese Gewaltakte, von Zulawski wütend und mit mehreren Litern Kunstblut in Szene gesetzt, sind ebenfalls transgressiv in dem Sinne, dass sie vor nichts und niemandem haltmachen. Gleich zu Beginn übertritt der Film ein ungeschriebenes Gesetz, indem er ein Kind sterben lässt. Analog dazu wird die Szene, in der die Doppelgängerin Martas ihr Kind gebiert, nicht etwa nur angedeutet, sondern in aller Deutlichkeit gezeigt, indem Zulawski Aufnahmen einer echten Geburt zwischen die Schauspielszenen schneidet, womit sich der Kreis in gewisser Weise wieder schließt zwischen dem blutenden Klumpen, den Michals Sohn darstellt, nachdem die Deutschen abgezogen sind, und dem nicht weniger blutigen Geburtsakt, der das Kind zur Welt befördert, das Michal in der Folge als zweiten Sohn annehmen möchte.

Solcherlei ist natürlich nicht dazu angetan, TRZECIA CZESC NOCY unter den unzähligen, oftmals propagandistisch eingefärbten polnischen Kriegsfilme der 60er und 70er Jahre einzureihen. Selbst im Vergleich zu Filmen Wajdas mit ähnlicher Thematik nimmt Zulawskis Debut eine Sonderstellung ein. Zu keiner Sekunde wird TRZECIA CZESC NOVY zu einem Heldenepos. Seine Helden sind gebrochene Figuren, die fast zu viel mit ihrer zerrüttelten Psyche zu tun haben als dass sie den Deutschen, die stets nur als gesichtslose Schatten auftreten, zu kaum einem Zeitpunkt mehr sind als bedrohliche Schemen, die unsere Protagonisten mit dämonischer, nicht wirklich fassbaren Präsenz umgeben, ernsthaft erfolgreichen Widerstand entgegenbringen könnten. Gestorben wird im Dreck der Straße. Es gibt im Grunde nur die Wahl zwischen einer inneren Emigration wie sie Michals Vater, eine Flucht zu Gott wie sie Michals Schwester wählt, und Michals eigenen Weg. Statt glorifiziert die polnische Nation zu verteidigen kämpft er über den gesamten Film hinweg mit seinen quälenden Erinnerungen und der nicht minder quälenden Gegenwart. Wie einst Martas Ex-Mann und unzählige weitere Intellektuelle findet er sich in engen Krankenhauszimmern wieder, die Beine voller Läuse, die sein Blut aussaugen. Als Typhuskranker sowieso für die Deutschen unantastbar, für die die Gefahr, sich zu infizieren, viel zu groß ist, als dass sie sich einem mit einem derartigen Pass Ausgezeichneten auch nur nähern würden, genießt Michal so etwas wie Immunität, solange er seine Krankheit nutzt, um den örtlichen Medizinern beim Finden eines Mittels gegen Typhus zu helfen. Im Gegenzug darf er sich mit Fieber herumschlagen, Tag für Tag den Läusen als Wirt dienen. In Großaufnahme zeigt Zulawski uns diese Tiere mehrmals, vor allem Szenen, in denen man ihnen Nadeln in ihre prallgefüllte Körper steckt, um ihnen das gewonnene Blut wieder zu nehmen, und ihre Hinterteile regelrecht platzen, faszinieren ihn, und bieten die Möglichkeit, diese ganze Läusefütterei als Metapher auf den Zweiten Weltkrieg zu lesen, ganz traditionell in Bezug auf Polen als ein Land, dem von seinen Besatzern das Blut ausgesaugt wird, nur eben in einer eigenwilligen, unvergleichlichen Bildsprache. Der Einsatz von Handkameras, zu dem Zeitpunkt im polnischen Kino mehr als selten, und erste Anzeichen der hysterischen Schauspielführug, die schon bei Zulawskis nächstem Film, DIABEL, zur Perfektion reifen sollte, grenzen TRZECIA CZESC NOCY noch weiter von vergleichbaren Produktionen ab, ganz zu schweigen vom Ende, wenn Mihal sich auf der Suche nach Martas Mann, dem das Leben zu retten er auf einmal als seine Aufgabe ansieht, durch die unterirdischen Korridore des Hospitals und seine eigenen Wahnvorstellungen irrt, und der Film die zu Beginn angedeutete Apokalypse in konkreten Bildern umsetzt, nackten Leichen in düsteren Zellen, an KZ-Opfer erinnernd, und schließlich das Zusammentreffen Mihals mit seinem eigenen Doppelgänger, den er im hintersten Winkel des abgelegensten Flurs unter einem Leichentuch findet, auch das ein Szene, die sich in POSSESSION wiederholen wird, während Michals kopflose Flucht durch die Katakomben an das Finale von LA FEMME PUBLIQUE erinnert, wo es jedoch Ethel ist, die vor der Handkamera verfolgt wird, während es hier Michal ist, der auf sie zu rennt, während sie sich von ihm entfernt.

Auch wenn die schier atemlos machenden schauspielerischen Exzesse, die man mit Zulawski-Filmen gemeinhin verbindet, sich in TRZECIA CZESC NOCY noch auf wenige Szenen beschränken, ist seine spezifische Art und Weise, eine Geschichte zu erzählen, schon äußerst evident. Was in Filmen wie L’AMOUR BRAQUE oder SZAMANKA bis zu den Grenzen des Fassbaren ausgeweitet werden wird, nimmt hier seinen Anfang, besteht TRZECIA CZESC NOCY nämlich zwar im Kern aus Michals persönlicher Tragöde, die sich als roter Faden durch die hundert Minuten zieht, an dem aber viele Nebenstränge aufgereiht sind, Einzelschicksale von Figuren, die Michals Weg streifen, und denen Zulawsk mal mehr, mal weniger hinterherschaut, um so ein aus Fragmenten und Momentaufnahmen zusammengesetztes Panoptikum zu bieten. Ob nun Martas Ex-Mann, der, als Läusewirt tätig, diese Belastung nur dadurch ertrug, dass er gegenüber seiner Frau gewalttätig wurde, eine unbedeutende Krankenhauspflegerin, die ihren Mann im Krieg verlor, oder ein gewisser Herr Rosenkranz, einst Mihals Mentor, der sich als wohlhabender Jude von den Nazis freikaufen möchte, um unter Verlust seines Vermögens wenigstens sein Leben in die Schweiz retten zu können, Zulawski wirft wie beiläufig erhellende Scheinwerferlichter auf die Schicksale, die das von Michal umgeben, selbst dann, wenn keine dramaturgische Notwendigkeit dafür besteht, wobei er die Beziehungen mancher Figuren bewusst im Dunkeln lässt, sie in einem übersehbaren Nebensatz enthüllt oder gar ganz eine Erklärung verweigert, ob das, was wir gesehen haben, nun wirklich stattfand oder vielleicht doch nur Michals Fieberwahn geschuldet ist. Dass TRZECIA CZESC NOCY damit wenig zuschauerfreundlich gerät, verwundert nicht. So ergibt der Film ein sehr zerstückeltes, uneindeutiges Bild seiner Geschichte oder besser: seiner Geschichten, setzt sich über Konventionen hinweg, als habe es sie nie gegeben, und verdeutlicht in seiner Struktur das Schicksal der Stadt, in der Zulawski geboren wurde und in der die Handlung spielt, Lemberg, Lwów oder Lwiw, je nachdem, ob sie in ihrer wechselvollen Geschichte während des Zweiten Weltkriegs unter deutschen, polnischen oder ukrainischen Einfluss geriet, ein weiteres Spiel mit Grenzen also, ein schmerzhaftes, das sich verlustreich in die Stadtannalen eingrub.

Was TRZECIA CZESC NOCY, meiner Meinung nach, eine Sonderstellung in Zulawskis Oeuvre einräumt, ist die ausgeprägte Tier-, d.h. Pferdesymbolik. Mal abgesehen von Anspielungen in L’AMOUR BRAQUE, die auf Tschechows Seemöwe zielen oder die Hauptfigur Léon als jämmerlichen Wolf stilisieren, ist mir kein weiterer Film von ihm bekannt, in dem derart offensichtlich Tiere ins Augenmerk des Betrachters gerückt werden. Die Pferde in TRZECIA CZESC NOCY, das ist offensichtlich, sind dabei nur Mittel zum Zweck, ihre Rücken tragen die vier Apokalyptischen Reiter, mit denen der Film beginnt und endet. Omnipräsent durchziehen sie den gesamten Film, jedoch meist nur undeutlich im Hintergrund. Abgesehen vom Auftakt, wo die Deutschen zu Pferd die Villa überfallen, der Mörder Martas mit seinem Ross gar bis ins Wohnzimmer reitet (bezeichnend ist hier eine Kameraeinstellung kurz zuvor, während Marta in ihrem Sessel sitzt und nebulös der Umriss des Schaukelpferd ihres Sohn hinter ihrem Kopf zu sehen ist, ein Schaukelpferd im Übrigen, das auch im restlichen Film noch öfter mit oder ohne Sohn auf seinem Sattel auftauchen wird), und dem Ende, wo besagte Reiter grotesk-verzerrt hinter einer Fensterscheibe in dem Moment erstarrt sind, kurz bevor sie die Villa, in einer endlosen Wiederholung, die Michal zum Ursprung seines Unglücks zurückführt, erneut überfallen, bleiben Pferde Erscheinungen am Rande. In so ziemlich jedem Zimmer hängen sie in Gemäldeform an den Wänden, oftmals so dezent arrangiert, dass man sie suchen muss, um sie zu finden, und in einer Szene, in der Michal durch den Krankenhausvorhof stapft, bemüht sich die unruhige Handkamera geradezu, die Pferde nicht zu filmen, die an der Seite in ihrer Koppel stehen. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen bleibt eine unbestimmte Ahnung, eine diffuse Bedrohung, die am Ende gar nicht anders kann, als sich zu erfüllen.
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jogiwan
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Re: Ein Drittel der Nacht - Andrzej Zulawski

Beitrag von jogiwan »

Demnächst auf Blaustrahl in einer Box mit "Der silberne Planet" und "Diabel" - Hammer!

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it´s fun to stay at the YMCA!!!



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