Eine Nacht in der Hölle - S. Khachikian, M. Sarva (1956)

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Salvatore Baccaro
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Eine Nacht in der Hölle - S. Khachikian, M. Sarva (1956)

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Originaltitel: Shab-neshini dar jahannam

Produktionsland: Iran 1956

Regie: Samouel Khachikian, Mushegh Sarvari

Darsteller: Reza Arham Sadr, Ezzatollah Vosoogh, Ebrahim Bagheri, Mehdi Reisfirooz, Ali Zandi
Samoule Khachikian dürfte wohl der Name sein, der einem als erstes zufällt, wenn man beginnt, sich mit der Genrefilmproduktion des Irans auseinanderzusetzen. Zwischen den frühen 50ern und den frühen 90ern drehte, schrieb und schnitt der gebürtige Armenier über dreißig Filme, die zumeist an der Schnittstelle zwischen Sozialdrama, Kriminalthrillern und Horrorelementen operieren und ihm den Spitznamen eines „iranischen Hitchcocks“ einbrachten. Bei SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM von 1956 handelt es sich um ein Werk, das zunächst unter der Regie eines gewissen Mushegh Sarvari entstehen sollte, nach dessen Überwürfnis mit den Produzenten es von Khachikian zu Ende geführt wurde. Obwohl der Film demnach kein hundertprozentig leibliches Kind Khachikians ist, gehört er zu dem einem westlichen Publikum noch am ehesten bekannten Teil seines Oeuvres. SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM war die erste genuin iranische Filmproduktion, die überhaupt irgendwo im Ausland auf einem Festival lief – in diesem Fall die achten Internationalen Filmfestspiele Berlins. Nachdem ich SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM nunmehr in einer reichlich ausgebleichten Kopie endlich besehen konnte, würde ich doch gerne wissen, wie die Gesichter der damaligen Jurymitglieder – darunter solche Leute wie Jean Marais, Gerhard Lamprecht und Frank Capra – nach der Sichtung dieses im Grunde jeglicher Beschreibung spottenden Höllentrips ausgesehen haben mögen...

Haji Jabbar ist der habgierigste Mann des gesamten Orients. Nicht nur, dass er den Ruf zum Morgengebet allein deshalb versäumt, weil er zu sehr damit beschäftigt ist, seine neuen Bareinkünfte zu zählen und selbstverliebte Loblieder auf seine eigene Person vor sich hin zu singen, auch zeigt er sich völlig unbeeindruckt von dem Notleiden seiner Mitmenschen: Eine Bettlerin, die ihm um etwas Kleingeld bittet, wird genauso brüsk abgewiesen wie er eine Familie, die die Miete einer seiner Wohnungen nicht rechtzeitig bezahlen kann, in einem mehr als grotesken Wutanfall auf die Straße wirft und dabei unter Gebrüll, wo das ihm rechtmäßig zustehende Geld sei, noch die halbe Inneneinrichtung demoliert. Seiner Familie gegenüber ist der Geizhals, gegen den selbst Dagobert Duck wie einer der barmherzigsten Samariter wirkt, nicht weniger aufbrausend: Seine Tochter, Parvin, beispielweise soll aus rein pekuniären Motiven an einen wohlhabenden Freier verschachert werden. Als sie gegen das Regime ihres Vaters aufbegehrt und ihm eröffnet, dass sie ihren Cousin liebe und ehelichen wolle, bekommt sie ihre versuchte Emanzipation von Haji Jabbar mit Faustschlägen beantwortet. Nachts schläft das Scheusal im wahrsten Sinne des Wortes über seinem Reichtum. Den hat er nämlich in einem Geheimversteck direkt unter seinem Bett verschlossen. Als eine Ratte sich dorthin verirrt und in eine der die Geldhöhle bewachenden Fallen gerät, tanzt Haji Jabbar vergnügt durch sein Zimmer, voller Vorfreude, die angebliche Diebin bei lebendigem Leibe ertränken zu können. Es muss wohl nicht hinzugefügt werden, dass dieser ständig herumschreiende, bis zur Selbstkarikatur materialistisch ausgerichtete und mit einem äußerst plakativen Altmänner-Make-Up versehene Haustyrann zu den eher unsympathischen Figuren der Filmgeschichte gehören dürfte.

Dann aber betritt eine weitere zwielichtige Gestalt die Bühne der Geschichte. Geschickt schafft es der Kleinkriminelle, der von Haji Jabbars Reichtum erfahren hat und nun plant, sich dessen zu bemächtigen, an den Sohn seines zukünftigen Opfers heran, der wiederum, unzufrieden mit dem schiefhängenden Haussegen und dem strengen Regime seines Vaters, seine Zeit in Nachtclubs totschlägt. Dort ebenfalls anwesend ist Ahmad, der trottelige Assistent Haji Jabbars, der, verkleidet als Schlangenbeschwörer, heimlich die Ränke belauscht, mit denen unser Krimineller den Verwahrungsort von Haji Jabbars Reichtümer aus seinem redseligen Sohn herauszukitzeln versucht. Als der, die Zunge vom Alkohol gelockert, endlich preisgibt, wo sein Vater sein Vermögen verwahrt hält, ist der Plan bereits geschmiedet: In der nächsten Nacht verschafft sich der Dieb Zutritt zu Haji Jabbars Haus, bringt es fertig unbemerkt bis in den Goldkeller vorzustoßen, wird dort aber von Ahmad in einer Szenenfolge überrascht, die in keinem stummen Klamaukfilm der 1910er fehlplatziert wäre: Unterlegt mit albernen Comic-Geräuschen, wenn sich jemand den Kopf stößt oder an die Nase fasst, purzeln Ahmad und der Ganove von einer Slapstick-Einlage in die nächste bis das Ganze darin gipfelt, dass der inzwischen erwachte und zorntobende Haji Jabbar in den eigenen Luxuspool stürzt, nachdem Ahmad und er es jedoch erfolgreich verstanden haben, den Räuber in die Flucht zu schlagen.

Die Folge von Haji Jabbars unfreiwilligem Bad: eine schwere Lungenentzündung, die ihn nicht nur ans Bett fesselt, sondern, das sagt zumindest sein behandelnder Arzt, vermutlich das Leben kosten wird – zumal Haji Jabbar jegliche Medikamente aus Kostengründen strikt verweigert. Wenn der alte Knauser in seinem Kranken- bzw. Sterbelager zetert, ist bereits die komplette erste Stunde von SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM ohne das geringste phantastische Einsprengsel vergangen. Bis hierhin hat der Film sich als ziemlich grobschlächtige, ziemlich überdrehte und ziemlich infantile Komödie erwiesen, die sich fast ausschließlich auf das gnadenlose over-acting des Haji-Jabbar-Darstellers Ezzatollah Vosoogh und die clownesken Blödeleien des namhaft Komödianten Reza Arham Sadr konzentriert, der den Ahmad spielt. Höchstens hauchdünn sind die moralischen Tendenzen des Films spürbar, und nur zweimal wird der sprunghafte Gang der Handlung durch das sentimentale Liebesgeplänkel von Parvin und ihrem Liebsten unterbrochen, die einander ihre Gefühle singend gestehen – einmal sogar in einer hübschen Rückblende, in der Parvins Cousin ihr Geträller mit einem Akkordeon begleitet, während sie durch eine idyllische Wald-und-Wiesen-Landschaft flanieren. Jäh aber unterzieht sich der Film nun aber einer Metamorphose: Haji Jabbar erwacht mitten in der Nacht und sieht eine Gestalt vor seiner Schlafstaat, die lange Krallen, einen Kapuzenmantel, eine Sense trägt und sich als der Todesengel vorstellt, der gekommen sei, ihn zu holen. Was folgt, ist ein etwa halbstündiger Trip in eine Hölle, bei der es mir immer noch schwerfällt zu glauben, dass sie wirklich für einen iranischen Film von 1956 entworfen worden sein soll.

Selbst wenn man sich vorstellt, dass die phantasievollen, weil kostengünstigen Unterweltsvisionen solcher unterschiedlicher Filme wie beispielweise Francesco Bertolinis und Adolfo Padovans L’INFERNO (1911), Guido Brignones MACISTE ALL’INFERNO (1925), Mario Bavas ERCOLE AL CENTRO DELLA TERRA (1961) oder José Mojica Marins ESTA NOITE ENCARNAREI NO TEU CADÁVER (1967) miteinander kollidieren und aus ihren einzelnen Versatzstücken sich ein im höchsten Maße idiosynkratisches Gebilde ergibt, das im Kern ausschaut wie Gustave Dorés Illustrationen zu Dantes Göttlicher Komödie durch den Mixer von Pop Art, 60er Underground-Kino und camp-Ästhetik gedreht – und zwar zehn Jahre bevor es überhaupt eine solche Gegenkultur im großen Stil gegeben hat -, kommt man dem, was Khachikian oder Mushegh Sarvari oder wer auch immer für diese Szenen zuständig gewesen ist, lediglich in ersten Ansätzen näher. Am besten wird es vielleicht sein, wenn ich einfach stichwortartig aufzähle, was man in besagten dreißig Minuten unter anderem an Unglaublichkeiten serviert bekommt: Haji Jabar und Ahmad begegnen einem niedergeschlagenen Adam, der sich darüber beklagt, dass seine Eva ihm fortwährend mit ihrem Wunsch nach einem Nylon-BH in den Ohren liege. Ein gefiederter weiblicher Engel verwehrt unseren Helden den Zutritt zum Paradies. Statisten in gehörnten und pfeilgeschwänzten Kostümen, die wohl Teufel sein sollen, kontaktieren einander mittels eines grimmig dreinschauenden Computers bzw. Roboters. Ein Steinzeitvolk ergeht sich zu flotter Jazz-Musik in absonderlichen Tänzen, darunter vor allem eine halbnackte Dame, die zunächst dem Schoß eines Kobolds entsteigt und ihren Körper dann synchron zum schrillen Schreien eines Saxophons zucken lässt. Ein römischer Imperator, inklusive Kurtisanen und Gladiatoren, liegt faul in einer Grotte. Nackte Menschenleiber erdulden schrecklichste Höllenqualen, hängen umgekehrt an Kreuzen oder müssen unter Peitschenhieben Mühlräder drehen. Eine Rock N Roll Party hipper Teens findet inmitten eines Arsenals billigster Riesenspinnen statt, gegen die selbst die in Luigi Batzellas NUDA PER SATANA (1974) wie ein Meisterstück des Spezialeffekthandwerks wirkt. Adolf Hitler, Genghis Khan und Napoleon sitzen um eine Erdkugel herum und berauschen sich an Allmachtsphantasien. Letztlich verschlägt es Haji Jabar und Ahmad, die freilich die ganze Zeit über ihre Blödeleien konsequent weitergeführt haben und durch die Hölle mehr gestolpert und gepurzelt als aufrecht gegangen sind, in einen himmlischen Palast, dessen langbärtiger Herrscher wohl tatsächlich Gott sein soll. Ein Gericht wird einberufen, dessen Urteil zumindest für Haji Jabar wenig erfreulich ausfällt: Zum Geist geworden muss er in einer irdischen Hölle, nämlich einer des Spiels, zusehen wie sein Erbe von seinem missratenen Sohn an der Roulette verprasst wird. Worte hinken, wie man merkt, hinter dem her, was SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM in aller Freimütigkeit und Freizügigkeit abbrennt, sobald die Verantwortlichen den Film sämtlicher Vernunftzügel entledigt haben. Mit seinen an Méliès und den Zauber des frühen Kinos gemahnenden ökonomisch extrem sparsamen und dadurch extrem innovativen Kulissen, mit seinem kruden, nur selten wirklich zusammenpassenden Potpourri aus Ideen aller erdenklichen Genres und Kontexten, mit dem ununterbrochen lächerlichen Gebaren seiner beiden Hauptdarsteller und nicht zuletzt dem meist reichlich deplatzierten Score gelingt es SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM eine Hölle zu präsentieren, die irgendwo zwischen lupenreinem Trash, entzückendster Avantgarde, himmelschreiendstem Unsinn und begnadetester Filmkunst hin und her oszilliert, und alles zugleich und nichts wirklich ist. Ich wiederhole: Adolf Hitler! Rock N Roll! Brodelnde Unterweltgewässer! Haushohe Felsen in Drachengestalt! Flammenzuckende Wüsteneien! Ekstatische Tänzerinnen! Das alles in einem iranischen Film von 1956!

Zum Glück für jeden orthodoxen Gläubigen, der dieses schlicht unbegreiflichen Werks seinerzeit ansichtig wurde, findet der Film zu guter Letzt dann doch noch die Kurve hin zur moralischen Fabel. Nachdem Haji Jabar von Gott höchstpersönlich in einen Hund verwandelt worden ist, schreckt er aus seinen Kissen hoch. Ja, es war alles nur ein Traum, und den nutzt unser orientalischer Ebenezer Scrooge, um sein Leben von Grund auf umzukrempeln. Sein schnöder Mammon ist ihm auf einmal nichts mehr wert, das Wohlergehen seinem Töchterchen ihm auf einmal dringendstes Herzensbedürfnis. Sie darf den Mann, den sie liebe, heiraten, verspricht er ihr, während er den um sie feilschenden Freier in altbekannter Wutanfallmanier aus dem Haus jagt. Danach stirbt Haji Jabar geläutert und mit beiden Beinen auf dem rechten Gottespfad. Die letzte Szene zeigt ihn bestens gelaunt in einem von Putten gezogenen Gefährt über die bedrohliche Unterwelt gen Himmel fahren. Die Moral von der Geschichte: Geiz und Raffgier lasse sein, sonst stürzt Du in die Hölle rein! Ohne Spaß: es muss schon viel passieren, um mich nach einer Filmsichtung stundenlang in einen Zustand der nahezu vollständigen Besinnungslust zu versetzen, doch diesem wahnsinnigen Werk ist das spielerisch gelungen. Wer glaubt, schon alles gesehen zu haben, der dürfte in SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM noch etwas finden können, dessen schiere Verrücktheit für mindestens fünf bis zehn Delirien ausreicht.

Bei den achten Internationalen Filmfestspielen ging Khachikians Film übrigens leer aus. Den Goldenen Bären nahm stattdessen Ingmar Bergman mit nach Hause - für SMULTRONSTÄLLET, dem exakten Gegenteil von SHAB-NESHINI DAR JAHANNAM.
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