Gertrud - Carl Theodor Dreyer (1964)

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Salvatore Baccaro
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Gertrud - Carl Theodor Dreyer (1964)

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Originaltitel: Gertrud

Produktionsland: Dänemark 1964

Regie: Carl Theodor Dreyer

Darsteller: Nina Pens Rode, Bendt Rothe, Ebbe Rode, Baard Owe, Axel Strøbye
Dass die Reaktionen auf Carl Theodor Dreyers Finalfilm seinerzeit gemischt ausfielen, kann ich nachvollziehen: Mitte der 60er, als überall auf der Welt bereits die kinoreformerischen Bewegungen aus dem Boden sprießen, muss GERTRUD wie ein befremdlicher Anachronismus angemutet haben. Ein halbes Jahrhundert später wiederum erscheint er indes bereits schon wieder modern in seiner Vorwegnahme dessen, was man heutzutage unter „Slow Cinema“ versteht: Kontemplative Einstellungen, strenge Bildkompositionen, unterkühlte Schauspieler, die Dialoge aufsagen, bei denen das am wichtigsten ist, was die Lippen gar nicht erst verlässt, eine statische Kamera, die emotionslos menschlichen Dramen zuschaut, als würden sie in ein Terrarium hineinspitzeln. Dass Dreyer neben Geistesverwandten wie Yasojiro Ozu oder Robert Bresson von zeitgenössischen Filmemachern wie Michael Haneke, Carlos Reygadas oder Abbas Kiarostami immer wieder als Referenz aufgerufen wird, wundert jedenfalls nicht, wenn man mit dem Asketismus konfrontiert wird, den der Däne in seiner Adaption eines 1906er Bühnenstücks von Hjalmar Söderberg zelebriert – ein Asketismus, der gar noch den seines vorangegangenen Meisterwerks ORDET von 1955 über- bzw. unterbietet.

Unsere Titelheldin, eine Frau in den besten Jahren, eröffnet ihrem Ehemann, einem renommierten Anwalt, zu Beginn des Films, dass sie ihn verlassen wird. Grund seien ihre hehren romantischen Liebesideale: Wenn sie geliebt werden wolle, dann kompromisslos, ungeteilt, mit ganzem Herzen. Ihr Gatte aber habe seine Karriere immer über ihre Liebe gestellt. Für Dich bin ich doch nur ein Zeitvertreib zwischen Kanzleiarbeit und freizeitlichen Havanna-Zigarren, sagt sie zu ihm. Auch dass sie einen Liebhaber hat, bleibt nicht lange verborgen: Einem jungen Pianisten hat Gertrud so lange den Hof gemacht, bis dieser endlich ihre Hand ergriffen hat. Was unsere Heldin allerdings nicht weiß: Ihr Lover hat längst eine andere geschwängert. Mehr noch prahlt er in Herrensalons mit seiner neusten Eroberung, die Ehefrau eines stadtbekannten Juristen ist. Das muss Gertrud von dem Mann erfahren, mit dem sie vor ihrer Ehe zusammen gewesen ist, einem Dichter, der just an selben Tag von der örtlichen Universität mit Ehren überhäuft wird. Das regelrecht tödlich nach Nostalgie, Melancholie und Abschiednahme schmeckende Gespräch zwischen den Beiden könnte ich mir nicht nur immer wieder anschauen, es bringt auch relativ gut die Ästhetik Dreyers auf den Punkt: In einer bald zehnminütigen Plansequenz blicken wir frontal auf die zentralperspektivisch auf einem Sofa angeordneten Schauspieler, die die schmerzhaftesten Wahrheiten mit einer äußeren Ruhe äußern, die man beinahe als Lethargie bezeichnen könnte. Nur einmal wird Gertruds Ex-Freund von seinen Gefühlen derart übermannt, dass sich sein Gesicht zu einer Grimasse verzieht: Wie hätte denn Dein Leben verlaufen sollen?, hat Gertrud ihn zuvor gefragt, und statt langer Tiraden sehen wir einfach nur diese verzerrte Miene voller unerfüllter Sehnsüchte. Was unausgesprochen bleibt: Ich hätte mein Leben an Deiner Seite verbringen sollen! Die Kamera bewegt sich nur minimal. Die Musik, die wir hören, gehört zur Diegese, denn nebenan fiedelt ein Orchester. Dieses Bild, und alle anderen, aus denen GERTRUD kompiliert ist, wirkt karg, schmucklos, reduziert aufs Allernötigste. Unser Auge soll nicht abgelenkt werden. In Dreyers Film sind die Worte wichtiger als die Bilder. Von einer Meditationsübung hat es auch etwas: Als sollten wir aufgefordert werden, das, was die Dialoge verschweigen, und das, was die Kamera nicht einfängt, vor unserem eigenen inneren Auge entstehen zu lassen.

Es wird niemanden wundern, dass Gertrud ihr Liebes- und Lebensglück nicht findet. Der Pianist brennt mit seiner Zweitfreundin durch; der Dichter sagt ihr auf immer Lebewohl; ihren Mann verlässt sie, obwohl der ihr sogar anbietet, ihren Ehebruch vergessen zu lassen. Gertrud zieht nach Paris, um Psychologie zu studieren. Dreißig Jahre später sehen wir sie als weißhaarige Frau. Sie lebt bescheiden, ohne nennenswerten Kontakt zur Außenwelt. Nur ihr bester Freund besucht sie zu ihrem Geburtstag. Noch so eine tiefbewegende Szene, wenn man fähig ist, die Töne zu vernehmen, die so leise sind, dass man eigentlich Luchsohren braucht: Gertrud und ihr engster Vertrauter winken einander zweimal zu, als der schon jenseits der Schwelle ihrer Wohnung ist. Auch Dreyer selbst, der nach GERTRUD kein weiteres Projekt mehr realisieren und vier Jahre später sterben wird, winkt uns zu, als wolle er mit diesem Film eine bestimmte Form des Kinos zu Grabe tragen, ein elliptisches Kino, das Schauwerte, visuelle Fülle, Geschwätzigkeit ersetzt durch Leerstellen, blanke Räume, beredetes Schweigen. Dass die nachfolgende Bilderstürmer-Generation den Film teilweise gar ausgebuht haben soll, verwundert wirklich nicht bei der hingebungsvollen Weihe, bei der unironischen Erhabenheit, bei der kein bisschen verspielten Klarheit, mit der Dreyer seine Geschichte über eine Emanzipation konsequent bis in die Einsamkeit erzählt. Augen, die noch nicht ganz blind sind von den schalen Feuerwerken, mit denen das Kino uns leider oft genug beschießt, wird aber gerade dieser fast schon heilige Ernst Dreyers ein zündender Funken sein können.
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