Im Frühling - Michail Kaufman (1929)

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Salvatore Baccaro
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Im Frühling - Michail Kaufman (1929)

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Originaltitel: Vesnoi / Navesni

Produktionsland: Sowjetunion 1929

Regie: Michail Kaufman

Cast: Menschen und Tiere der Stadt Kiew und der umliegenden Landstriche


Abt.: Bonner Stummfilmtage 2023

Dziga Vertovs TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM aus dem Jahre 1929 gilt gemeinhin als eines großen Meisterwerke des nicht nur sowjetischen Stummfilms, eine Querschnittsymphonien kompiliert aus Alltagsaufnahmen, die Vertov und sein Team in den Metropolen Kiew, Charkow und Odessa geschossen haben: Sport-Events, Beerdigungen, Hochzeiten, Lohnarbeit, Feierabendvergnügen – und dazwischen immer wieder der titelgebende „Mann mit der Kamera“, den wir bei seiner Bilderjagd begleiten, bis diese am Ende des Films in einer letzten meta-reflexiven Volte zur Aufführung in einem Lichtspielhaus kommen. Beim Kameramann von TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM handelt es sich um Vertovs eigenen jüngeren Bruder Michail Kaufman, der sich quasi selbst spielt; Vertovs Gattin, die Schnittmeisterin Jelisaweta Swilowa wiederum ist mehrmals dabei zu sehen, wie sie die Berge an Material im Montageraum in Form bringt.

Für die Filmgeschichte ist TSCHELOWE S KINOAPPARATOM gerade wegen seiner technisch-ästhetischen Faktoren von kaum zu überschätzender Bedeutung: Fast wirkt der Film wie ein Lexikon all dessen, was Ende der 20er an Trickeffekten möglich gewesen ist. Es gibt rasante Kamerafahrten, Zeitraffer- und Zeitlupensequenzen, Split Screens, Stop-Motion-Animationen, wenn der Kameraapparat sich in einer besonders ikonischen Szene vermeintlich selbst aufbaut und von allein zu kurbeln beginnt, ungewöhnliche Bildkompositionen, dazu die erwähnte Reflexionsebene, auf der Vertov, Kaufman und Swilowa – wohlgemerkt rein visuell, ohne ergänzende Zwischentitel – über Fragen des Kinos sinnieren. Gerade innerhalb dessen, was später Experimentalfilm genannt werden sollte, bedeutet TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM einen Meilenstein – und für Vertov und Bruder Michail die letzte gemeinsame Zusammenarbeit, denn danach folgt ein künstlerisches Zerwürfnis. Primär soll Kaufmans Kritik gewesen sein, dass das von Vertov signierte Endresultat viel zu chaotisch sei, dass ihm eine geschlossene künstlerische Vision fehlen würde, dass in ihm zwar pausenlos Dinge geschehen würden, diese aber weitgehend entkoppelt voneinander seien: Neben seiner formalen Brillanz sei TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM vor allem Ausdruck reiner Konfusion.

Was tut man, wenn man an einem Film mitgewirkt hat, von dem man dann, als er fertiggestellt ist, nicht sagen kann, dass er so geworden ist, wie man ihn sich ursprünglich vorgestellt hat? Michail Kaufman jedenfalls beschließt, einfach einen eigenen Kompilationsstreifen auf den Weg zu bringen,für den sich gleich auch Aufnahmen verwenden lassen, die Vertov ablehnte, eine direkte Response auf Vertovs „Kameramann“, einen Film diesmal mit klarem Thema, der das, was Kaufman TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM als Fehler ankreidete, großräumig umschiffen soll. Das Ergebnis hört auf den Namen VESNOI (im Russischen) oder NAVESNI (im Ukrainischen), wird, wie Vertovs Film, von der „Vse-Ukrainske Foto Kino Upravlinnia“ produziert, und gelangt 1930 in die Kinos, wo ihm Publikum und Kritik generell wohlwollend begegnen.

Tatsächlich ist VESNOI wesentlich weniger wild als TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM – sowohl, was seine Montage wie auch was seine Bildinhalte betrifft. Im Vergleich mit Vertovs Film, bei dem der atemlose Strudel der Großstädte im Fokus steht, trägt Kaufmans Vision deutlicher pastorale Züge, interessiert sich mehr für Flora und Fauna, verschreibt sich stärker poetischen Tönen, die die technologische Moderne zwar nicht komplett ausblenden, aber mindestens genauso viel Freude daran haben, Bauernhoftiere, schmelzende Winterlandschaften oder das bäuerliche Landleben zu bebildern wie stampfende Fabrikrhythmen, rauschenden Verkehrstrubel, den Arbeitsalltag in den Städten.

Grundlegendes Thema von VESNOI ist, wie sein Titel schon andeutet, die Jahreszeit des Frühlings: Zu Beginn ist der sowjetische Boden noch von pudrigem Weiß bedeckt; allmählich bringt die Frühlingssonne den Schnee zum Schwitzen; es tröpfelt von Eiskristallen, die an Baumzweigen baumeln; kleine Rinnsale werden zu Flüsschen; die Menschen kommen langsam aus ihren Häusern, als hätten sie die vergangenen Monate im Winterschlaf verbracht.

Ähnlich lyrisch geht es weiter: Auf einem Friedhof versammelt sich eine Gruppe Frauen, Männer, Kinder, um ein traditionelles Fest zu begehen, das das Ende des Winters ankündigt; zwischen den Gräbern geliebter Toter werden Wodkaflaschen geköpft, tummeln sich die Halbwüchsigen, breitet man die Picknickdecken aus. In den Parks und Gärten der Städte schälen sich die jungen Leute aus ihren Winterpelzen, Pärchen bilden sich, verliebt wie die Turteltäubchen. Auch die Tierwelt wird von Amors Pfeil durchbohrt: Eine der schönsten Szenen, die ich in letzter Zeit in einem Film gesehen habe, zeigt zwei Schnecken, die sich auf einem Blatt treffen, sich kokett umgarnen, schließlich den Beischlaf vollziehen.

Erst im letzten Drittel gewinnt der bis dato eher kontemplative Film zunehmend an Tempo, wenn er Demonstrationen, Sportevents wie ein Fahrradrennen und Volksfeste mit viel Tanz und Akkordeonmusik in den Fokus rückt – und in diesen pulsierenden Sektionen dann doch ein bisschen an TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM erinnert. Kaufmans Perspektive freilich ist aber eine ganz andere: Selbst wenn er in einer Sequenz mehrere Großaufnahmen diversen industriellen Produktionsprozessen widmet, steht diese doch recht isoliert in einem Film, der ansonsten auffallend unberührt bleibt von dem Geschwindigkeitsinferno, mit dem wir bei Vertov konfrontiert werden. Auch VESNOI ist durchdrungen von einer Aufbruchstimmung, jedoch wirkt diese wesentlich, wenn man so will, natürlicher, organischer, zeitloser als diejenige in TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM – was VESNOI dann auch zwangsläufig etwaige politische Subtexte viel subtiler einschreibt. Ja, auch VESNOI kann man die Botschaft unterjubeln, dass das Ganze allegorisch gemeint sei - auf den langen Winter, den die Zarenherrschaft bedeutete, folgt die Schneeschmelze der Revolution, worauf die nunmehr freien Menschen jetzt unter dem roten Bolschewistenstern eine Utopie Wirklichkeit werden lassen -, jedoch trifft einen diese niemals derart mitten ins Gesicht wie bei Vertovs Pendant.

Als zwei Seiten ein und derselben Medaille bieten sich TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM und VESNOI eigentlich perfekt als Double Feature ein, zumal beide Filme sich bei Laufzeiten von gerade mal 70 Minuten einpendeln – und ich muss mich wundern, dass Kaufmans Film gegenüber dem Vorgänger seines älteren Bruders anscheinend derart in Vergessenheit geraten ist: Während TSCHELOWEK S KINOAPPARATOM fast 27.000 Bewertungen einheimsen konnte, haben VESNOI demgegenüber insgesamt nicht mal 200 Personen bewertet.
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