La casa lobo - Joaquín Cociña, Cristóbal León (2018)
Moderator: jogiwan
- Salvatore Baccaro
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La casa lobo - Joaquín Cociña, Cristóbal León (2018)
Originaltitel: La casa lobo
Produktionsland: Chile 2018
Regie: Joaquín Cociña, Cristóbal León
Cast: Animierte Mädchen, Schweinchen, Wölfe
…puh, und das dürfte dann wohl einer der verstörendsten Animationsfilme sein, die ich jemals gesehen habe.
Entstanden über mehrere Jahre hinweg erzählt das chilenische Duo Joaquín Cociña und Cristóbal León in seinem ersten abendfüllenden Spielfilm weniger eine Geschichte, sondern uns werden vielmehr einzelne Bruchstücke hingeworfen, die man sich zwar durchaus dergestalt zu einem Plot zusammenbauen kann, wie es die offizielle Story nahelegt, die aber auch ganz anders interpretierbar werden können. Cociña und Cristóbal erklären jedenfalls, sie haben von einer jungen Frau namens Maria berichten wollen, die aus der berühmt-berüchtigten „Colonia Dignidad“ geflohen sei, jenem befestigten Siedlungsareal im Herzen Chiles, wo deutschstämmige Auswanderer ihre eigene christliche Endzeitsekte gegründet haben, und mit ihren Mitgliedern, vor allem den minderjährigen, auf grausamste Weise verfahren sein sollen: Etliche Berichte von Aussteigern, die es wie Maria geschafft haben, dem Terror zu entkommen, schildern sexuellen Missbrauch, psychische Torturen, Elektroschock-Exzesse. Unsere Heldin indes gerät gewissermaßen vom Regen in die Traufe: Schon bald nach ihrer Flucht heftet sich ein sprechender Wolf an ihre Fersen, der ebenfalls nichts Gutes mit ihr vorzuhaben scheint. Einen sicheren Anker findet Maria erst in einer einsamen Waldhütte, wo sie auf zwei Schweine trifft, in deren Gesellschaft sie zum ersten Mal so etwas wie emotionale Wärme erfährt: Sie tauft die Schweine auf die Namen Pedro und Ana, übernimmt die Rolle ihrer Mutter, die sie Stück für Stück zu Menschen erzieht – und zwar durchaus in handfestem Sinne: Pedro und Ana verwandeln sich alsbald in einen kleinen Jungen und seine etwas größere Schwester. Das Grauen schleicht allerdings nach wie vor ums Haus herum: Immer wieder versucht die sonore Wolfsstimme unsere Heldin auf Deutsch über die Schwelle zu locken, während das riesige Wolfsauge das Hütteninnere permanent zu überwachen scheint. Aber auch die Hütte selbst wirkt zunehmend lebendig: Die Dinge in ihr durchleben ständige Metamorphosen; die Wände und Möbel werden durchlässig; schließlich beginnen selbst die Körper von Pedro, Ana und Maria zu zerfasern und zu formbarer organischer Materie zu werden…
Die Stop-Motion-Animationen von LA CASA LOBO sind schlicht beeindruckend zu nennen: Als einzige Referenz fiele mir höchstens noch das Frühwerk Walerian Borowczyks ein, der in seinen animierten Kurzfilmen wie RENAISSANCE (1963) auf ähnliche Weise tradierte Sekuritäten der Objektwelt außer Kraft setzt, und in Werken wie LES JEUX DES ANGES (1964) sich beseelende Gegenstände nutzt, um alptraumhafte Bildwelten zu evozieren. Doch LA CASA LOBO wirkt demgegenüber noch viel abstrakter, noch viel amorpher: Im Sekundentakt zerfließen hier die Grenzen zwischen Dingen und Körpern; im Sekundentakt schälen sich Bilder aus vorherigen Bildern heraus; im Sekundentakt werden etablierte Konstellationen in tausend Fetzen gesprengt – und während beispielweise RENAISSANCE noch ein gewisser surrealer Humor innewohnt, hat man bei LA CASA LOBO nun wirklich nichts zu lachen, wenn sich die Wände plötzlich mit schauderhaften Wandmalereien überziehen, wenn die Kinderaugen auf Gemälden blutige Tränen zu weinen beginnen, wenn an Händen Stigmata aufplatzen, wenn Körper unvermittelt mit ihrer Umwelt verschwimmen, wenn das überdimensionale Wolfsauge durchs Fenster hereinspäht und das zugehörige Raubtier den Wunsch äußert, die Insassen bei lebendigem Leib verschlingen zu wollen.
LA CASA LOBO wirkt tatsächlich zu keinem Zeitpunkt anders als ein Schlüssellochblick mitten hinein in die Vorstellungswelt eines zutiefst traumatisierten Verstandes: Maria, unfähig, nach ihrer Flucht aus der deutschen Kolonie ein „normales“ Leben zu beginnen, überträgt ihre seelischen Narben auf ihre Schütz- und Zöglinge Pedro und Ana, während der deutschsprechende Wolf natürlich unmissverständlich all die Dämonen verkörpert, die sie seit ihrer Kindheit verfolgen und die sie nicht verlassen werden, selbst wenn sie sich der Sekte, in die sie hineingeboren worden ist, rein physisch entzogen haben mag. Viel schwerer als etwaiger visueller Horror wiegen in LA CASA LOBO all die Machtmissbräuche und Martyrien, die der Film lediglich zwischen den Zeilen andeutet, oder die er gleich ganz völlig im Unsichtbaren bleiben lässt. Ein besonderer metareflexiver Kniff ist es übrigens, dass uns LA CASA LOBO mit authentischem Dokumentarmaterial begrüßt, in dem die „Colonia Dignidad“ sich selbst repräsentiert, und die nachfolgende Animationshandlung als Propagandafilm modelliert, der vermeintlich über das wahre Gesicht der Siedlung aufklären möchte, sprich, zeigen will, wie schön es in der Siedlung wirklich zugeht, und welch perfide Lügen die internationalen Medien über den dortigen Alltag in die Welt gesetzt haben: In Wirklichkeit lacht man doch den ganzen Tag und beschenkt die Welt mit feinstem Bio-Honig!
Was den Filmemachern in jedem Fall gelungen ist, das ist, mich nach knapp achtzig Minuten zutiefst zerschmettert zurückgelassen zu haben: In dieser audiovisuellen Hölle aus Fetzen deutscher Volkslieder, sich Body-Horror-artig auflösender Leiber und grausigsten Märchenmotiven wird selbst ein harmloses Objekt wie ein roter Luftballon zum Anlass für einen Kloß im Hals, Gänsehaut auf den Armen und einem unangenehmen Kribbeln ganz unten an der Wirbelsäule…