Stop the Pounding Heart - Roberto Minervini (2013)

Moderator: jogiwan

Antworten
Benutzeravatar
Salvatore Baccaro
Beiträge: 3072
Registriert: Fr 24. Sep 2010, 20:10

Stop the Pounding Heart - Roberto Minervini (2013)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

MV5BNTk0ODU4MDA1Ml5BMl5BanBnXkFtZTgwMzkxMTE1MjE@._V1_.jpg
MV5BNTk0ODU4MDA1Ml5BMl5BanBnXkFtZTgwMzkxMTE1MjE@._V1_.jpg (371.15 KiB) 373 mal betrachtet
Originaltitel: Stop the Pounding Heart

Produktionsland: Belgien/Italien/USA 2013

Regie: Roberto Minervini

Darsteller: Sara Carlson, Colby Trichell und herdeweise Ziegen

Längst überholt ist die Ansicht der frühen Filmgeschichtsschreibung, bereits in den Jahrmarktskinozeit haben sich zwei diametral entgegengesetzte Zugriffe auf das neue Medium herausgebildet: Zum einen den Dokumentarfilm, zu dessen Gründervätern man die Lumiére-Brüder mit ihren Ansichten von Straßen, Plätzen, Passanten oder ihren Aktualitäten von gesellschaftlich-politisch relevanten Ereignissen erklärte; zum andern der narrative Film, den man auf die phantastischen Zaubereien Georges Méliès zurückzuführen versucht hat. Heute ist es indes ein ebensolcher Gemeinplatz, dass Méliès (zumindest in seinen Anfangstagen) ebenfalls rein beobachtende Aufnahmen von alltäglichen Vorgängen geschossen hat, und dass sich auch bei den Lumières erste Ansätze von (rudimentären) Erzählungen finden lassen. Trotzdem divergieren sich Dokumentarfilm und Erzählkino spätestens in den 20ern zunehmend auseinander: Der eine gibt vor, einen vermeintlich objektiven, unverstellten, wahrhaftigen Blick auf die Welt zu werfen; das andere begnügt sich demgegenüber damit, erfundene Figuren in erfundene Situationen zu stecken, wo diese erfundene Sätze zum Besten geben. Während man diese Unterscheidung, meiner Meinung nach, zumindest in den 30ern bis 60ern einigermaßen plausibel finden kann, haben sich inzwischen etliche Grenzregionen gebildet, in denen es schlicht keinen Sinn macht, auf Kategorien wie Spielfilm oder Dokumentarfilm zu rekurieren – Grenzregionen, in denen beispielweise die Filme Werner Herzogs siedeln, oder diejenigen Abbas Kiarostamis, oder die Ulrich Seidls. Auch der gebürtige Italiener Roberto Minervini darf für sich in Anspruch nehmen, Bewohner eines Gebiets zu sein, in der Dokumentation und Fiktion, Inszenierung und unverfälschte Beobachtung, Schauspiel und Selbstspiel auf eine Weise miteinander verschmelzen, dass man die vermeintlichen Oppositionspaare sinnvoll nicht mehr voneinander zu lösen vermag – und STOP THE POUNDING HEART, der letzte Teil einer Trilogie, in der Minervini sich mit dem Leben im ruralen Texas auseinandersetzt, ist ein exzellentes Beispiel dafür, wie aus solchen Ambivalenzen und Uneindeutigkeiten ein ganz eigener poetischer Reiz gewonnen werden kann.

Sara ist vierzehn, und lebt mit ihren Eltern und insgesamt elf jüngeren Geschwistern im texanischen Hinterland. Ein orthodoxer christlicher Glaube wölbt sich wie eine Käseglocke über der Bauernfamilie, die ihren Lebensunterhalt mit der Zucht von Ziegen bestreitet: Vor jeder Mahlzeit wird gebetet; in öffentliche Schulen haben die Kinder, um sie von schädlichen Einflüssen fernzuhalten, noch nie einen Fuß gesetzt, und werden stattdessen von der Mutter zu Hause unterrichtet; der von harter körperlicher Arbeit, Askese und Selbstdisziplin geprägte Alltag unterscheidet sich fundamental von dem, den Saras Altersgenossen führen: An weltliche Vergnügungen – oder gar ein Date mit einem Jungen! – darf die älteste Tochter im Traum nicht denken. Aber das titelgebende wildpochende Herz hat nichtsdestotrotz natürlich seinen ganz eigenen Rhythmus, - und der lässt Sara eines Tages Bekanntschaft mit Colby machen, der auf einer benachbarten Farm lebt. Auch Colbys Familie führt zwar Bibelworte im Munde, doch hält die waschechten Rednecks ihr ostentativer evangelikaler Glaube beispielweise nicht von gemeinsamen Schießübungen ab, davon, sich die Körper mit Tattoos der Marke „Texas Boy“ zu verzieren, oder – wie im Falle Colby – alles daranzusetzen, Karriere als Rodeo-Reiter zu machen. Regelmäßig schwingt sich der Jüngling auf die Rücken von Stieren, um sich sodann so lange wie möglich oben zu halten, während eine johlende Menge ihn mit Zurufen und Applaus übergießt. Auch Sara befindet sich bald unter den Zaungästen. Es kommt zu kurzbemessenen Treffen zwischen den beiden Teenagern, bei denen sowohl Draufgänger Colby sich zunehmend von seiner weichen, verletzlichen Seite zeigen darf, und Sara wiederum auf einmal einen ganz anderen Zuspruch genießt als den, den sie zeitlebens nahezu ausschließlich von ihrer Familie erhalten hat. Dieser wiederum sind die pubertären Allüren der Tochter freilich ein Dorn im Auge: In einer uferlosen Predigt versucht Saras Mutter, ihr den Kopf zu waschen, ihr klarzumachen, dass eine Liebe nicht nur wachsen müsse, sondern auch den Rahmen eines gottgewollten Ehegelöbnisses brauche, und dass sie sich von flüchtigen Verlockungen nicht vom rechten Pfad abbringen lassen solle…

Ein Blick in die Stabangaben zeigt: Offenkundig spielen sich alle beteiligten Personen selbst. Sara heißt in Wirklichkeit Sara Carlson; Colby heißt in Wirklichkeit Colby Trichell. Daraufhin, dass es sich bei STOP THE POUNDING HEART um eine Dokumentation handelt, für die Minervini eine bestimmte Zeitspanne lang die beiden Familien Carlson und Trichell hat begleiten dürfen, sprechen ebenso all die Momente, die ganz sicher keinem Drehbuch entspringen, sondern Sara und Colby sowie deren Eltern und Geschwistern bei ihren Alltagsverrichtungen zeigen: Sara melkt die Ziegen; Colby trainiert für seine halsbrecherischen Rodeo-Auftritte; Sara übernimmt das Homeschooling der kleinsten Geschwister; Colby und seine Kumpels lauschen einem Laienprediger; ein Vater möchte seinem halbwüchsigen Sohn abgewöhnen, dass er spreche wie ein Baby; Saras Vater wiederum platzt der Kragen, als die völlig in ihren eigenen Gedanken versunkene Sara keinen einzigen der Pflöcke, die zur Errichtung eines neuen Ziegenzauns dienen sollen, ordentlich ins Erdreich gehämmert hat. Dass jede dieser unaufgeregten, wie zufällig aufgezeichneten, im besten Sinne banalen Beobachtungen Ergebnis eines sorgfältig konstruierten Skripts sein sollte, kann ich mir kaum vorstellen. Aber andererseits: Wenn Sara und Colby sich kennenlernen, wieso ist dann Minervini mit seinem Kamerateam zur Stelle?, und wenn wir es mit einer Dokumentation zu tun haben, wieso wirft keiner der Protagonisten jemals einen Blick ins Objektiv, um uns darüber in Kenntnis zu setzen, dass ihm die Präsenz der Kamera die ganze Zeit bewusst ist?, und wieso stören sich auch Sara und ihre Schwestern nicht daran, dass sie bei recht intimen Gesprächen über ihre Zukunftsvorstellungen von Ehe, Sexualität, Mutterschaft gefilmt werden – eine Szene im Übrigen, bei der die Mädchen ein Waldpicknick in viktorianischen Kostümen abhalten, dass mir unweigerlich Peter Weirs märchenhafter PICNIC AT HANGING’S ROCK in den Sinn gekommen ist, immerhin ebenfalls ein Film, der von autoritären, durchaus religiös verbrämten Systemen handelt, die junge Frauen nach Vorgaben der Gesellschaft formen sollen. Doch handelt denn STOP THE POUNDING HEART überhaupt hiervon? Bei Minervinis nüchternem Tonfall, seiner entschlackten Bildsprache, seiner undramatischen Mise en Scene fällt es schwer, dem Film irgendeine Agenda zu oktroyieren. STOP THE POUNDING HEART bewertet nicht, kommentiert nicht, führt einfach vor, und zwar so zurückgenommen wie möglich.

Aber, wie gesagt, sind das Haarspaltereien. Ob man Minervinis Ausflug ins ländliche Texas mit seinen repressiven Moralvorstellungen, seiner Freude an Rodeo und Schusswaffen, seinen biblischen Ziegenherden und unerfüllten Mädchensehnsüchten nun für ein Coming-of-Age-Drama im Gewand eines Dokumentarfilms halten möchte oder für einen Dokumentarfilm, der sich unverblümt der einen oder anderen geskripteten Komponente bedient – herausgekommen ist ein sehr kontemplativer Film, der mich gerade dadurch berührt hat, dass er so tut, als läge ihm nichts ferner, als aus mir irgendwelche Emotionen hervorzulocken, die über ein bloßes registrierendes Schauen hinausgehen würden.
Antworten