Tatort Hauptbahnhof Kairo - Youssef Chahine (1958)

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Salvatore Baccaro
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Tatort Hauptbahnhof Kairo - Youssef Chahine (1958)

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Originaltitel: Bab El Hadid

Herstellungsland: Ägypten 1958

Regie: Youssef Chahine

Darsteller: Youssef Chahine, Hind Rostom, Farid Shawqi, Hassan el Baroudi, Naima Wasfy

Am Kairoer Hauptbahnhof herrscht Tag und Nacht reges Treiben. Kaum jemand bleibt hier länger als er braucht, einem Zug zu entsteigen oder einen Zug zu besteigen. Am Kairoer Hauptbahnhof prallen Welten aufeinander. Aus unterschiedlichsten Ländern, unterschiedlichsten sozialen Milieus, unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten, unterschiedlichsten kulturellen Kontexten stammen die Reisenden, deren Wege sich hier flüchtig kreuzen, vernetzen oder nie berühren. Am Kairoer Hauptbahnhof gibt es jedoch auch eine kleine Gruppe von Menschen, die immer dort sind: die Zeitungsverkäufer, die Schaffner, die Beamten an den Schaltern, eben all die Berufsgruppen, die wegen des Verdienstes ihres täglichen Brotes auf den Hauptbahnhof angewiesen sind, der für sie nährende Mutter, schnaubender Moloch und eine Welt für sich ist. Zu diesen gehört Kenawli, der vor Jahren, als Halbwüchsiger noch, von dem Kioskbesitzer Madbuli halbverhungert auf der Straße aufgefunden und als Zögling aufgenommen worden ist. Kenawli hat es nicht leicht: er ist Waise, weiß nichts über seine Herkunft, seine Familie, er hinkt außerdem und ist geistig ein wenig zurückgeblieben, sodass er jetzt, schätzungsweise Ende Zwanzig, etwa auf dem geistigen Stand eines pubertierenden Jugendlichen angekommen scheint. Madbuli ist seine einzige Bezugsperson, außer der er im Grunde einzig Photos von Pin-Up-Girls als ständige Begleiter hat, mit der er seine kleine Bude ausstaffiert und sich bei ihrem Anblick feuchten und sehnsüchtigen Träumen eines gesegneten Ehelebens, in dem er endlich von einer Frau so geliebt wird wie er ist, hingibt. In der wirklichen Welt heißt diese Sehnsucht Hanuma, ihres Zeichens Limonadenverkäuferin am Hauptbahnhof, ein äußerst laszives Weibsstück, das genau weiß wie es seine Reize einsetzen muss, um die Männerwelt um den Finger zu wickeln. So hat sie auch den Gewerkschaftler Abu Seri als Verlobten gewonnen, von dem als Gatte sie hofft, endlich ein weniger schweißtreibendes, mühseliges Leben in Wohlstand führen zu können. Kenawli, bis über beide Ohren in die personifizierte Sinnlichkeit verschossen, umschwärmt Hanuma schon eine Weile bis er es endlich wagt, ihr ganz offen und unverblümt einen Heiratsantrag zu machen. Für Hanuma ist das alles indes bloß ein Spiel, sie neckt Kenwali, verspottet ihn, erklärt ihm schließlich in harten Worten, dass es für sie beide nie eine Zukunft geben wird, nicht nur, weil er lahmt und nicht ihrem Idealbild von Mann entspricht, sondern vor allem, da er ihren materiellen Bedürfnissen rein gar nichts zu bieten hat. Dass für Kenawli eine Welt zusammenbricht, ist klar. Tief gekränkt zieht der Verletzte sich in Einsamkeit und Wunschträume zurück bis er in der Zeitung von einer seit Kurzem Ägypten in Atem haltenden Mordserie hört. Ein Irrer, scheint es, überfällt junge Mädchen, zerhackt sie und verstaut sie an Bahnhöfen in Kisten. In Kenawli beginnt sich ein grausiger Racheplan zu regen…

Es sind, meine ich, zwei große Bezugspunkte, auf die BAB EL HADID, ein Frühwerk des ägyptischen Regisseurs Youssef Chahine aus dem Jahre 1958, ganz bewusst ausgerichtet ist: einmal der (nicht nur italienische) Neorealismus wie er Ende der 40er, Anfang der 50er seine größten Triumphe gefeiert hat, andererseits das (nicht nur amerikanische) Genrekino in den Bereichen Krimi, Thriller bis hin zum blanken Horror, wobei das Interessante an BAB EL HADID seine strukturelle Zweiteilung ist, die in der ersten Hälfte eher das eine, in der zweiten Hälfte eher das andere Element betont. So fängt der Film dann auch so neorealistisch oder naturalistisch wie möglich an. Einziger Schauplatz ist der originale Kairoer Hauptbahnhof, keine einzige Aufnahme wurde in einem Studio erstellt, wir befinden uns sozusagen live an den Gleisen, in den Hallen, auf den Vorplätzen, mit echten Reisenden als unfreiwilligen Statisten, die im Hintergrund das Bild bevölkern oder es durchwandern, und einem durchweg dokumentarischen Flair, das so tut, als würde es die Realität höchstens minimal verfremden, ansonsten alles dafür aufbieten, sie eins zu eins abzubilden. Helden im klassischen Sinne gibt es keine – wie im italienischen Neorealismus sind einfache Figuren Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, die – ebenfalls wie im italienischen Neorealismus – zunächst gar keine Geschichte zu sein scheint, sondern ein Ineinanderfließen vieler unterschiedlicher Eindrücke und Charaktere, von denen jeder seinen persönlichen Akzent in den Film hineinträgt. So überwiegen die politischen Töne, wenn Abu Seri das Bild betritt und mit Kollegen oder Feinden über die Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten der Arbeitsbedingungsverbesserungen seiner Gewerkschaftsmitglieder debattiert, so kippt der Film ins Rührend-Sentimentale, wenn ein Liebespaar von Kenawli heimlich dabei beobachtet wird, wie es sich am Bahnsteig voneinander trennen muss, so wird es schwül und sexy, wenn Hanuma, von ihren Freundinnen aus Spaß mit Limonade vollgespritzt, sich in ihrem am Körper klebenden Kleid räkelt. BAB EL HADID besitzt zunächst keinen Fokus, nicht mal eine eindeutige Hauptfigur, vielmehr ist der Film ein Kaleidoskop disparatester Elemente, in denen nicht mal einige wenige humoristische negativ auffallen, da sie eben einfach hinzugehören zum Leben in diesem Bahnhof, der inszeniert wird wie ein Mikrokosmos nicht nur des Nasser-Ägyptens der späten 50er, sondern, wenn man so möchte, der menschlichen Gesellschaft per se. Eine orthodoxe Muslima ereifert sich darüber, dass Kenawli sie angeblich begafft, kaum hat sie den Schleier einmal kurz gehoben, ein Arbeiter erleidet einen Unfall und wird von seinem Vorgesetzten dafür noch gerügt und mit Rausschmiss bedroht, illegale Limonadenverkäuferinnen flüchten, es für einen großen Spaß haltend, vor der sie jagenden Polizei, Reisende versuchen verzweifelt einen Zug zu bekommen und stürzen damit ihre Umwelt ins Chaos. Alles ist vereint, alles gehört irgendwie zusammen, und Chahine illustriert das mit den Augen eines von weit oben auf Menschen wie auf Insekten herabblickenden Gottes, der weder wohlwollend noch bösartig, sondern letztlich lediglich indifferent ist.

Nach und nach kristallisiert sich dann aber doch Kenawli als der eigentliche Mittelpunkt des Films heraus. Kongenial dargestellt wird er von Regisseur Chahine selbst, und lange schon habe ich es nicht mehr erlebt, wie großartig ein normalerweise wenig im Schauspielfach beheimateter Regisseur sich darin hervortut, seine eigene Hauptfigur zu verkörpern – das letzte Mal wohl in Truffauts LA CHAMBRE VERTE – und nein, nicht nur das: Regie und Schauspiel gehen hier Hand in Hand, ergeben eine unzertrennliche Einheit wie in einer meiner liebsten Szenen deutlich wird, als Hanuma in einem wartenden Zug auf eine Rock-N-Roll-Kapelle stößt, zu deren westlichen Vibes sie regelrecht ausflippt. Draußen, vor dem Zug, beobachtet sie Kenawli erst verliebt, dann beginnt er, obwohl durch ein Fenster von ihr getrennt, selbst in ihr Tanzen einzustimmen, genauso ausgeflippt und verrückt wie sie, in der einen Hand eine Cola-Flasche, in der anderen sein Gewand wie ein Nachtclubröckchen. So spielerisch und leicht die Welt den beiden Figuren in diesem Moment erscheint, so spielerisch und leicht ist auch die Regie Chahines auf einmal, genauso wie beides gleich darauf ins Gegenteil kippt, als der entsetzte Abu Seri der Ungehörigkeiten seiner Verlobten ansichtig wird, sie aus dem Zug zerrt und in einen Schuppen schleppt, wo er sie erst verprügelt und dann mit ihr schläft, während der arme Kenawli hilflos vor der Türe stehen muss. Spätestens hier, wo das Schicksal dieses herzensguten Ausgestoßenen physisch greifbar für den Zuschauer ist, wird klar, dass Chahine mit der Figur des Kenawli nichts weniger als ein ägyptisches Pendant zu neorealistischen Anti-Heroen wie Vittorio de Sicas UMBERTO D. geschaffen hat. Wobei Kenawli aber freilich nicht nur herzensgut und bemitleidenswert genannt werden kann, da er, und nun werde ich einiges verraten, was man sich, sollte man den Film völlig unvoreingenommen genießen wollen, besser nicht liest, im Laufe der Zeit die Verwandlung zum ägyptischen Norman Bates durchlebt – was umso erstaunlicher ist, da Hitchcock seinen PSYCHO-Thriller, mit dem BAB EL HADID in seiner zweiten Hälfte tatsächlich einiges gemein hat, bekanntlich erst zwei Jahre später in die Lichtspielhäuser geschickt hat.

Ein Bindeglied, das mir gerade spontan einfällt und das neorealistische Sozial- und Zeitkritik mit einfachen, oftmals gutmütigen, zumindest einfältigen Exemplaren der menschlichen Gattung als Protagonisten und handfestes Genre-Kino um Mord, Totschlag, Wahnsinn und Liebesrausch eindrücklich miteinander verknüpft, wäre beispielweise Jean Renoirs Zola-Adaption LA BÊTE HUMAINE von 1938, die, sollte das ein Zufall sein?, ebenfalls vor dem Hintergrund von Bahnhöfen und Zügen angesiedelt ist. Ein Unterschied indes: Chahine verweigert dem Wahn, der Kenawli befällt, weitgehend jegliche psychologische Begründung, außer eben die, dass er sozial immer der Benachteiligte war, Zielscheibe von Spott und Witz, und nun auch noch in seiner goldensten Illusion enttäuscht, nämlich einem idyllischen Landleben an der Seite von Hanuma und einer zahlreichen Kinderschar. Fakt ist: Kenawli tickt aus, steigert sich nach und nach in die Mordgeschichten von einem frei umherlaufenden Frauenschlächter hinein, und plant trotzdem, oder gerade deswegen, ganz sachlich, ganz akribisch die Tötung und Zerstückelung der Frau, die ihn zurückgewiesen hat, lauert ihr in einer verlassenen Lagerhalle auf und merkt nicht einmal, dass es nicht Hanuma, sondern eine Freundin von ihr ist, auf die er da wie von Sinnen einsticht. Zurückgefahren ist die Dokumentation, die scheinbar natürliche Erfassung einer Welt zwischen den Kulturen und Klassen, in dieser Phase bereits fast völlig, es herrschen Schattenspiele vor wie sie Fritz Lang aus dem deutschen Stummfilmexpressionismus in seine US-amerikanischen Film noirs übersetzt hat, eine bedrohliche Grundspannung, reichlich nervenzerreißend, sowie gar relativ deutliche Poe-Zitate, wenn Kenawli in seinem Wahn irgendwann gar ein Kätzchen für Hanuma hält und nun diesem den Garaus zu machen versucht. In den letzten zwanzig Minuten überschlagen sich die Ereignisse dann in einer Weise, dass BAB EL HADID auf einmal all die unzähligen Subplots und Nebenschauplätze, die er zuvor wie beiläufig vorgestellt und gestreift hat, höchstgenial doch noch miteinan-der kollidieren lässt. Schon lange habe ich kein derart spannendes Filmfinale mehr gesehen, zumal es ein echtes Grausen verursacht zu sehen wie der übergeschnappte Kenawli Hanuma mit erhobenem Schlachtermesser durch ein leeres Zugab-teil hetzt, nicht nur, weil Chahine diese Szenen, obwohl freilich kein Splatter oder dergleichen zu erwarten ist, ungemein harsch in Szene gesetzt hat, sondern vor allem dadurch, dass es sich bei dem Verfolger eben nicht bloß um irgendeinen schnöden Wahnsinnigen ohne Profil handelt, es ist der Kenawli, den wir im Laufe der vergangenen Stunde ins Herz geschlossen haben, was es für den Zuschauer, meine ich, schlicht unmöglich macht, hier noch Opfer und Täter voneinander trennen zu können, sie sind genauso in eins geflossen wie die beiden unterschiedlichen filmästhetischen Ansätze, die Chahine sich zum Ausgangspunkt gesucht hat.

Ach, was soll ich noch mehr schreiben? BAB EL HADID ist ein Meisterwerk, nicht nur des arabischsprachigen Kinos, sondern, behaupte ich, generell des Kinos der 50er Jahre. Weshalb? Weil er alles zugleich ist und dabei nichts aus den Augen verliert: ein politische Statement, eine tragische Liebesgeschichte, ein Horrorthriller allererster Güte, eine naturalistische Studie, ein Film voller Einstellungen und Bilder, die mich als Cineasten zutiefst beglückten, da man in jeder Minute all das Herzblut spürt, mit dem sie sich vollgesogen haben. Weil er eine Brücke schlägt zwischen Massentauglichkeit und Subversion, zwischen Unterhaltsamkeit und wichtigen Diskursen, zwischen Genre-Welt und der sogenannten Welt an sich. Weil er mich in meiner persönlichen heiligen Dreifaltigkeit zutiefst berührt hat, d.h. ästhetisch, intellektuell und vor allem emotional. Klare Empfehlung, keine Frage!
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