The Other Side of the Wind - Orson Welles (1970-76)

Moderator: jogiwan

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Prisma
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The Other Side of the Wind - Orson Welles (1970-76)

Beitrag von Prisma »


[center]THE OTHER SIDE OF THE WIND


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● DE L'AUTRE CÔTÉ DU VENT / THE OTHER SIDE OF THE WIND (F|IRN|US|1970-76) [2018]
mit John Huston, Oja Kodar, Peter Bogdanovich, Susan Strasberg, Robert Random, Edmond O'Brien, Norman Foster,
Mercedes McCambridge, Cameron Mitchell, Dennis Hopper, Paul Stewart, Gregory Sierra, Peter Jason und Lilli Palmer
eine Produktion der Royal Road Entertainment | Les Films de l'Astrophore | SACI | Americas Film Conservancy
ein Film von Orson Welles
[/center] [td=][size=145][b][color=#000000][font=Comic Sans MS][center]»Wenn die Kamera einen Schauspieler nicht mag, starrt sie nur...«[/center][/font][/color][/b][/size][/td]
Die Regie-Legende Jake Hannaford (John Huston) plant sein großes Kino-Comeback und kehrt nach Hollywood zurück. Kurz vor seinem siebzigsten Geburtstag will er sein neustes Werk einem ausgewählten Publikum vorstellen, das aus Bekannten aus der Filmbranche, Fans und Kritikern besteht, von denen nicht wenige bereits die Messer wetzen. Der überaus experimentelle Film trägt den Titel "The Other Side of the Wind". Die Vorführung soll während der Geburtstagsparty stattfinden, doch es kommt immer wieder zu technischen Problemen, sodass der Film mehrmals unterbrochen werden muss. Hannaford diskutiert in diesen unfreiwilligen Pausen mit seinen Freunden und Feinden, und fällt beim permanenten Alkoholkonsum durch zahlreiche Selbstinszenierungen auf. Am Ende floppt der Film bei einer Vielzahl der Gäste. Einerseits weiß jeder, dass Hannaford seine beste Zeit längst gesehen hat, doch andererseits ahnt niemand, das die Nacht noch in einer Tragödie gipfeln wird...

[center]»Filme und Freundschaften sind geheimnisvoll.«[/center]
Es ist immer als etwas ganz Besonderes anzusehen, wenn ein Film, der über Jahrzehnte als verloren geglaubt war, doch noch ans Tageslicht gefördert wird. Orson Welles' "The Other side of the Wind" wurde zwar zwischen 1970 und 1976 mit langen Unterbrechungen abgedreht, jedoch nie vollendet. Als Welles' eigene Produktionsfirma im Jahr 1971 in finanzielle Schieflage geraten war, lag das Projekt zwei Jahre lang auf Eis, bis es schließlich weitergehen konnte. Dank der jahrelangen Aufarbeitung und letztlichen Vollendung kommt der ungeduldige Zuschauer durch den Vertrieb des Streaming-Dienstes Netflix nach über vierzig Jahren auf seine Kosten und man kann auf ein Ergebnis blicken, das erst einmal geordnet werden muss. Der überaus progressive Inszenierungsstil von Regisseur Orson Welles versucht gleich zu Beginn, sich gegen konventionelle und sogar progressive Sehgewohnheiten zu stellen, um diese streckenweise beliebig auszuhebeln. In abwechselnden Schwarzweiß- und Farbsequenzen sind bekannte Stars in einer Melange aus dokumentarisch gefärbter Satire und Film-in-Film-Experiment zu sehen, das dem Zuschauer mit verbalen Peitschenhieben, bizarren Bildern, irritierenden Farbgebungen und fahrlässigen Gedankensprüngen um die Sinne geworfen wird. Das Konzept bietet daher zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten, doch beim einmaligen Ansehen schlägt man sich wahrscheinlich zunächst einmal auf die sichere Seite, nämlich die visuelle Ebene, die aufgrund ihrer komplexen Architektur absolut verblüfft. Die zugegebenermaßen originell erscheinende Schnitttechnik wirkt auffällig stakkatoartig, arbeitet sich dabei beinahe durch den kompletten Verlauf. In den Farbsequenzen strahlen kräftige, virtuose Bilder, die nicht nur einmal wundervollen Dekors gleichen. Orson Welles' inszenatorische Asymmetrie wirkt unterm Strich fordernd, provokant und teilweise richtiggehend anstrengend, doch die zunächst augenscheinliche Auster kann im Inneren eine wertvolle Perle preisgeben, vorausgesetzt man lässt sich ohne schablonenartige Erwartungen auf diesen vielschichtigen Film ein.
[center]»Mr. Hannaford, ist das Kameraauge ein Spiegelbild
oder ist die Wirklichkeit ein Spiegelbild des Kameraauges?
Oder ist die Kamera ein Phallus?«[/center]
[center]»Ich will einen Drink.«[/center]
Auf zahlreichen Abhandlungsebenen wirkt "The Other side of the Wind" vielleicht um einiges moderner als viele Beiträge, die nach diesem Beitrag herausgekommen sind - vom Zeitfenster der langen Entstehung ganz zu schweigen, und Welles' einmalige Handschrift ist trotz all der angewandten Tarnung deutlich zu sehen. Und genau hier entsteht entgegen aller Verschachtelungen, sowie Irrungen und Wirrungen, eine überdimensional große Faszination. Der Verlauf scheint ohne größere Strukturvorgaben dahinzulaufen; atemberaubend schnell und bei der Identifikation scheinbar ziellos. Da in der Story so gut wie nur eine Nacht progredient abgehandelt wird, ist es erstaunlich, wie sich lose wirkendes Füllmaterial zu einem roten Faden mobilisiert, den man als Zuschauer selbst aber nicht immer zu fassen bekommt. Von außen beobachtet man als innocent bystander, daher nur eine manchmal seltsam anmutende Clique mit all ihren Spleens, Launen und Unzulänglichkeiten, und all dies wirkt manchmal wie ein Blick auf einen Hamster, der pausenlos in einem Rad läuft. Die Abhandlung rund um eine alternde Hollywood-Legende kümmert sich nicht nur intensiv um Nicht-Aufklärung, sondern hofiert in beinahe unanständiger Manier die Oberflächlichkeit als Ganzes. Man begleitet fortan einen Star, den nur noch der alte Ruhm am leben hält. Selbstgefällig, überheblich, aber auch charmant, beantwortet er die Fragen der Journalisten. Nicht. Auf dem Weg zur Party des Jahres, die bei einer gewissen Zarah Valeska stattfindet, erwartet man das ultimative Happening. Permanent laufen Kameras, ständig werden Mikros und Aufnahmegeräte gezückt, die aufdringlichen und sensationsgierigen Fragen der Presse wirken genau wie die darauf folgenden Phrasen wie leeres Gequatsche. Aber man amüsiert sich. Interessant ist die Tatsache, dass die Regie gleich mehrere Expertisen der Inszenierungskunst im Film transparent darstellt,und als Zuschauer ertappt man sich nicht nur einmal dabei, dem Klatsch und Tratsch und den Worthülsen wie gebannt zuzuhören. Immer wieder folgen Sequenzen, in denen die Aufmerksamkeit rapide schwindet, da man es nur mit Fremden zu tun hat, deren Gespräche man obendrein oft nicht begreifen will, da Hintergrundinformationen gänzlich Fehlen, wie übrigens auch eine konsequente Vorstellung der Charaktere.
[center]»Wenn das Publikum es nicht rafft, wozu dann ins Kino gehen?«[/center]
Aber trotzdem fasziniert dieses ungeordnet erscheinende Spektakel ungemein, obwohl nicht nur die Sonnenseiten beleuchtet werden, sondern auch Eindrücke wie Langeweile, Verwirrung, Abscheu und Resignation ganz offen in die Waagschale geworfen werden. Das absolute Happening dieses Beitrags ist und bleibt der Film, der in Intervallen gezeigt wird und in der Geschichte eine zentrale Rolle spielt. Solch erlesene Eindrücke ohne teils direkt erkennbare Handlung waren vermutlich niemals so schön und intensiv; Bilder die man bestimmt nicht mehr vergisst. Hier zu erwähnen ist die bemerkenswerte Interaktion der atemberaubend schönen und amazonenhaft wirkenden Kroatin Oja Kodar mit Robert Random, die in ihren Film-in-Film-Sequenzen eine unheimlich intensive, sexuelle Hochspannung aufbauen werden. Generell ist zu sagen, dass "The Other side of the Wind" über einen exzellenten Cast verfügt, der so weit das Auge reicht Stars über Stars anbietet. Die einzelnen Darbietungen abzuhandeln, würde der geballten Macht, die im Kollektiv von den DarstellerInnen ausgeht, vermutlich nicht gerecht werden. Die Charakterisierungen zehren von einer Spontanität und Flexibilität, die kaum eine enge Bindung an vorgefertigte Dialoge erkennen lassen will. Zahlreiche Selbstinszenierungen, zur Schau getragene Eitelkeiten, dekadente Anwandlungen und direkte Harpunenschüsse bringen diese Hollywood-Clique nicht auseinander, zumal dieser Umgang sie fest zusammengeschweißt hat. Man braucht sich, um im Gerede zu bleiben oder einfach Konversation zu haben, die man sonst womöglich mit der Wand oder einem Glas Whisky abhalten würde. Diese teils bissigen und oft kaum relevant erscheinenden Gespräche zwischen den Hauptakteuren, in die vornehmlich ein exzellent auftrumpfender John Huston verwickelt ist, spielen sich bestimmt obligatorisch ab, doch hier jeweils in den langen Sequenzen, in denen der Vorführfilm aufgrund technischer Probleme zum Abbruch kommt. Eigentlich ist es so, dass der Zuschauer stets ungeduldig auf den von Jake Hannaford inszenierten Coup wartet, da es sich wegen der offensichtlichen Bildgewalt, bizarren Farbgebung, pornographisch angehauchten und verschachtelt wirkenden Handlung ohne Dialog, wie das tatsächliche Meisterwerk dieser Produktion anfühlt.
[center]»Wir werden alle vom Wind beherrscht.«[/center]
Dieser heißt geistreicherweise "The Other side of the Wind", und schließlich kommt es einem so vor, als habe Orson Welles den Zuschauer in Parallelwelten entführt, von denen die eine paradiesisch wirkt, die andere jedoch unbehaglich. Unter diesen Voraussetzungen kommt die Regie immer wieder zur Realität zurück, die zugegebenermaßen oft bis zur Unkenntlichkeit entstellt ist. Bei allen Lobliedern bleibt es natürlich nicht aus, dass Orson Welles hier und da auch ordentlich Wasser in den Wein geschüttet hat, denn er nimmt sozusagen keinerlei Rücksicht auf die entstehenden Verluste. Nicht jeder wird sich von "The Other side of the Wind" blenden lassen wollen, da es sich kaum um einen Film handelt, der seine Aufklärung in Form von Filetstücken servieren möchte. Die Geschichte leistet sich daher ganz unverblümt wie selbstverständlich den Luxus, ihre Geheimnisse nicht umsonst preiszugeben, um den interessierten oder faszinierten Zuseher förmlich dazu zu zwingen, ihnen erneut auf den Grund gehen zu wollen. Der Verlauf ist somit angelegt wie ein Labyrinth, in dem man von Szene zu Szene springt. Die Entschlüsselung des Gezeigten erweist sich oft als schwierig, da kaum Zeit zum Nachdenken, Überlegen oder Interpretieren eingeräumt wird. Das Charaktere-Karussell erweist sich zusätzlich als Welles'sches Roulette, da innerhalb dieser offenkundigen Hierarchieverhältnisse nie wirklich gesagt werden kann, wer etwas Wichtiges zu sagen hat, oder wer ein profitables Bindeglied zum Außenseiter Zuschauer herstellen kann. Insgesamt gesehen beweist dieser unterm Strich jedoch sehr faszinierende Beitrag eine enorme intrinsische Stärke, sodass man letztlich zu dem Schluss kommen mag, wenig Vergleichbares gesehen zu haben. Versehen mit Schauspielern, von denen nicht wenige ihr bekanntes Terrain für fordernde zwei Stunden verlassen haben, und einer Invasion an bestimmt schon dagewesenen Informationen und Einfällen, die allerdings vollkommen neuartig erscheinen, darf "The Other side of the Wind" mit gutem Recht einen ab sofort ewigen Platz im Olymp derjenigen Filme beanspruchen, die nicht nur anders sein wollten, sondern es tatsächlich geworden sind. Vielleicht kann nach Beendigung nicht genau beschreiben werden, wo man eigentlich war, aber sicherlich, dass es sich um ein Filmerlebnis der ganz besonderen Art gehandelt hat.
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