The Secret of the Mummy - Ivan Cardoso

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Salvatore Baccaro
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The Secret of the Mummy - Ivan Cardoso

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: O Segredo da Múmia

Herstellungsland: Brasilien 1982

Regie: Ivan Cardoso

Darsteller: Wilson Grey, Felipe Falcao, Jardel Filho, Leovegildo Cordeiro, Regina Casé, Evandro Mesquita, Clarice Piovesan, Anselmo Vasconcelos

Schaut man sich heute jene Filme aus der Frühzeit des Kinos an, die in ihrer Entstehungszeit technisch und formal neue Maßstäbe setzten und damit völlig zu Recht den Orden der Avantgarde umgehängt bekamen, wird man schnell feststellen, dass sie diesen Anspruch rein inhaltlich nicht unbedingt einzulösen imstande waren. Irgendwie ist das aber auch verzeihlich, da der stumme Film allein durch die ihm fehlenden Worte wohl überhaupt nicht prädestiniert dafür ist, hochkomplexe, sich ständig verzettelnde und konfuse, d.h. realistische Geschichten zu erzählen, sofern man ihn nicht mit unzähligen Texttafeln beschweren will, die dann aber zwangsläufig auf Kosten von Rhythmen und Bildsprache gehen. Nichtsdestotrotz ist es auffällig, dass gerade die heute als wegweisend geltenden Stummfilme hinter ihren ausgefallenen Ideen und Effekten meist ziemlich triviale Geschichtchen verbergen. So fällt beispielweise Ewald Andre Dupont in VARIETÉ von 1925 drehbuchtechnisch nichts Besseres ein als Karl Freunds wahrhaft entfesselte Kamera im Rahmen eines altbekannten Dreiecksehedramas einzusetzen., so erweist sich Griffith in seinem 1915 entstandenen Meisterwerk BIRTH OF A NATION als regelrechter Reaktionär und Rassist, so könnte man die simplifizierende Schwarzweißhandlung von Eisensteins PANZERKREUZER POTEMKIN von 1925 in einem einzigen Hauptsatz zusammenzufassen und so ist Abel Gances NAPOLEON-Epos von 1928 eine reichlich propagandistische Arbeit, deren bedenken- und geistlose Diktatorenverehrung einem heutigen Betrachter allein deshalb nicht das Gruseln lehrt, weil er so erschlagen und verzückt ist von der technischen Brillanz, mit der allein sich Gance seinen Platz im Olymp der Filmvisionäre erkauft hat.

Diese Gesetzmäßigkeit, dass die Revolution des frühen Kinos fast allein die formalen, ästhetischen Aspekte betraf, während man inhaltlich weiterhin in gutbürgerlichen Konventionen steckenblieb oder diese zuweilen gar noch übergipfelte, scheint der brasilianische Regisseur Ivan Cardoso ebenfalls verinnerlicht zu haben. Bereits in meiner Kurzkritik zu seinem Debutfilm mit dem klangvollen Namen NOSFERATU ON BRASIL habe ich dem Werk bescheinigt, dass es für mich aussieht wie ein vergessener Streifen aus den Jahren vor 1920, ein Überbleibsel des Jahrmarktskino, in dem, ohne dass man sich mit psychologisch nachvollziehbaren, logischen Handlungsabläufen abmühen müsste, einfach eine Vampirsaugeszene an die nächste geheftet wurde, das alles ohne Ton und umgesetzt mit primitivsten, teilweise gar archaischen Mitteln. War also NOSFERATU ON BRASIL Cardoso Kommentar zu den ersten unsicheren Gehversuchen des Mediums Film, so ist er, über zehn Jahre später, mit seinem ersten Langspielfilm O SEGREDO DA MÚMIA mitten in den 20ern angelangt, in einer Zeit, in der das Kino, das mittlerweile seine ersten Theoretiker vorbrachte, das Bürgertum und den einen oder anderen Intellektuellen für sich gewann und durchaus bereits als eigenständige Kunstwerk angesehen werden konnte, sich abseits von Mainstream und Massengeschmack neuer und neuster Möglichkeiten bediente, um zu einer eigenen, nicht von Literatur oder Bildender Kunst abhängigen Sprache zu finden. Sicher, O SEGREDO DA MÚMIA ist ein Tonfilm, dennoch erinnert mich die Art und Weise, wie Cardoso hier, scheinbar frei von jeglichem Schematismus, seine Bilder bunt und wild zusammenwürfelt, durchaus an die überschäumende Kreativität von Regisseuren wie Eisenstein, Gance oder Bunuel, die einen mit ihren Ideen zuweilen im Sekundentaxt erschlagen. Die Geschichte, die Cardoso indes für seine Zuschauer bereithält, liest sich wie die Zusammenfassung eines oder mehrerer Pulp-Romane der übelsten Sorte, wessen sich der Regisseur voll und ganz bewusst ist, indem er seinen Film zur einen Hälfte als Genre-Hommage und zur andern als Genre-Potenzierung ins Groteske versteht.

Schon allein die Exposition, die mit dem eigentlichen Film nicht wirklich etwas zu tun hat und in der José Mojica Marins als verscheidender Ägyptenforscher auftreten darf, der an seine nicht näher spezifizierten Erben Stücke einer zerrissenen Landkarte abtritt, die denjenigen, der alle Teile wieder zusammenführt, zum sagenumwobenen Grab eines sagenumwobenen Pharaos führen soll, worauf ein gesichtsloser Killer in Rekordgeschwindigkeit all diese Erben vom Leben in den Tod befördert, um in den Besitz besagter Landkarte zu gelangen, ist ein Kunstwerk für sich und unterstreicht recht deutlich, was ich meine, wenn ich von Cardoso extremer Stummfilmbesessenheit rede. Gerade die Mordszenen funktionieren wie Lehrstücke einer assoziativen, unkonventionellen Montage, wenn Cardoso beispielweise die Hand des Mörders filmt, die Gift in ein Glas Milch rührt, nach einem Schnitt einen Mann zeigt, der dieses Milchglas in seinem Garten leert und sich anschließend in Krämpfen windend zusammenbricht, oder aber ein anderes Opfer, das ein Treppenhaus hinaufsteigt, worauf Cardoso flüchtig zeigt, wie irgendeine Tür sich öffnet und ein Fuß sich durch den Spalt schiebt, um dann Ausschnitte aus einem alten Cary-Grant-Film dazwischen zu schneiden, in denen das Wort Murder demonstrativ aufleuchtet, gefolgt von einem Pistolenschuss aus dem Off und dem Anblick des die Treppe herabstürzenden Erschossenen. In O SEGREDO DA MÚMIA erweist sich Cardoso, der in NOSFERATU ON BRASIL nun nicht wirklich mit großer Brillanz aufgefallen ist, als hervorragender Stilist und Handhaber einer faszinierenden, unterhaltsamen und doch durchaus künstlerischen Filmsprache. Scheinbar wahllos wechselt der Film zwischen tristen Schwarzweißbildern und knalligen Farbaufnahmen, viele Schnitteinfälle dienen offenbar nur dazu, die Kategorien von Raum und Zeit aufzulösen, wenn Cardoso zwei räumlich sowie zeitlich völlig unabhängig voneinander stattfindende Ereignisse in seiner Montage zusammenbringt, sein Material schließlich schöpft er aus den verschiedensten Quellen, bringt Szenen eines Schönheitswettbewerbs ebenso unter wie vergilbte Photographien aus dem Kairo der 50er oder seltsame Rückblenden in das Leben des nun mumifizierten Pharaos, der sich in einem minimalistischen Orient-Setting vornehmlich mit nackten Sklavinnen vergnügt. Gesten und Minen seiner Akteure sind für Cardoso dabei alles, und, gänzlich wie zu Stummfilmzeiten, schreckt er nicht davor zurück, sie maßlos bis zur Selbstparodie übertreiben zu lassen. Da wird bedeutungsschwanger mit den Augen gerollt, da wird geschmachtet und geseufzt, und gestorben wird traditionell nur mit realitätsfernster Theatralik.

So innovativ Cardoso damit auf der technischen Ebene ist, so naiv ist sein Schauerstück inhaltlich, wenn sich ein gewisser Professor Expedito Virtus (!) als Drahtzieher der Morde entpuppt, der, gemeinsam mit seinem glatzköpfigen Diener Igor (!), den er einst von den Toten zurückholte, in seinem abgeschiedenen Landhaus die aus Ägypten herbeigeschaffte Pharaonenmumie mit einem von ihm kreierten Lebenselixier füttert, ihr somit neues Leben aushaucht und sich alsbald mit einem Reporterpärchen konfrontiert sieht, das sich auf seine Spur setzt, um mehr über Mädchenmorde in seiner unmittelbaren Nachbarschaft herauszufinden, die freilich auf Kosten der Amok laufenden Mumie gehen. Da die Schauspieler sich, wie gesagt, vornehmlich im exaltierten Bereich bewegen, viel schreien und toben und sich zudem in geradezu gehirnzersetzenden Sexszenen verlieren, ist O SEGREDO DA MÚMIA dem hysterischen Performance-Theater eines Christoph Schlingensief oder den irgendwo zwischen Trash und Arthouse pendelnden Irrenhausserenaden eines John Waters wesentlich näher als einer beliebigen 80er Horrorkomödie oder gar schmuddeligem Bahnhofskinoschund. Eben die Kombination zwischen purem Dilettantismus, vernebelten Dialogen, einer Story voller Logiklöcher und schräger Sinnlosigkeiten und einer sich über alle Filmhochschulregeln hinwegsetzender Form, in der es vorkommen kann, dass ein Moment größter Schönheit mit einem größten Wahnsinns kollidiert, ist es, die Cardosos Werk für mich eindeutig zur Kunst stempelt. NOSFERATU ON BRASIL war zwar kein guter Film, aber einer, in den man durchaus eine antikapitalistische, antikolonialistische Botschaft hineininterpretieren konnte. O SEGREDO DA MÚMIA demgegenüber ist ein sehr guter Film, der seine Agenda offen vor sich her trägt, und die lautet nicht anders als den völligen Umsturz verstaubter Filmformalismen. Wie die Geschichte lehrt, kennt diesen Film heute jedoch kein Mensch mehr.
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