Unruh - Cyril Schäublin (2022)

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Salvatore Baccaro
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Unruh - Cyril Schäublin (2022)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Unrueh

Produktionsland: Schweiz 2022

Regie: Cyril Schäublin

Cast: Clara Gostynski, Alexei Evstratov, Monika Stalder, Hélio Thiémard, Li Tavor, Valentin Merz, Laurence Bretignier


Uhren, Photos, Anarchismus

Inszenatorisch kann von Unruhe im neusten Streifen Cyril Schäublins keine Rede sein. Geschwänzt scheint der Schweizer Regisseur selten bei den Lehrstunden der Berliner Schule zu haben: Extradiegetische Musik und Kamerabewegungen fehlen (bis auf die allerletzte Einstellung) genauso wie irgendwelche dramatischen Zuspitzungen oder dramaturgische Engführungen der episodenhaften, beinahe skizzen- und schemenhaften Handlung; es dominiert ein distanziert-dokumentarischer Gestus, der uns die Figuren aus kühler Ferne beäugen lässt wie Insekten, die zum Studium in den engen Glasbehältern akkurat kadrierter, strenger, minimalistischer Bildkompositionen eingeschlossen sind; die Stimmung bleibt von Anfang bis Ende gleich, sodass UNRUEH mehr einer betont unaufgeregten Zustandsbeschreibung ähnelt statt einer sich über mehrere Stationen entfaltenden und einem konkreten Zielpunkt entgegenstrebenden Handlung. Die Unruhe, die kommt stattdessen vielmehr im Subtext von Schäublins Film vor, versteckt zwischen den Zeilen, wo mehr über sie gesprochen wird, statt dass man sie ausagiert: Die Unruhe, die sich ergibt, wenn in einem Schweizerischen Gebirgsdorf in den späten 1870er Jahren die politischen Ideologien Anarchismus und Nationalismus aufeinandertreffen und einen ungleichen, ziemlich stillen Kampf miteinander führen.

Der Begriff „Unruh“ verweist aber noch auf etwas anderes. Auf Wikipedia kann man lesen: „Unruh ist die Kurzbezeichnung für ein Unruh-Feder-Schwingsystem, wie es in vielen mechanischen Uhrwerken verwendet wird. Die Unruh ist ein drehbar gelagertes Rad und die Feder meist eine Spiralfeder (kurz Spirale genannt). Dieses Schwingsystem dient als Gangregler für Kleinuhren, also vor allem für Armbanduhren und Taschenuhren, aber auch für Wecker, Wanduhren, Chronometer usw.“ Eine ähnliche Erklärung kann man auch in UNRUEH hören, wenn auch mit anderen, ein bisschen leidenschaftlicheren Worten. Abgegeben wird sie von Josephine, einer jungen Frau, die in der örtlichen Uhrenfabrik über die Unruh wacht. Adressat ihrer wortreichen Erläuterungen wiederum ist ein junger Russe namens Pyotr Kropotkin, den seine Tätigkeit als Geograph und Landvermesser in das entlegene Örtchen verschlägt, und der später in seinen Memoiren feststellen wird, dass ihn sein Aufenthalt genau dort endgültig zum waschechten Anarchisten hat werden lassen.

Kropotkin ist natürlich eine historisch verbürgte Figur, und seine retrospektiven Schilderungen dienen Schäublin als Grundlage des Panoramas, das er in UNRUEH vor uns ausbreitet: Die katastrophalen Arbeitsbedingungen der Frauen, die in der Uhrenfabrik unter massivem Zeitdruck Akkordleistungen vollbringen müssen; der Fabrikdirektor, der als einziger ernstzunehmender Kandidat für die Bürgermeisterwahl antritt, und dementsprechend auch den Sieg davonträgt; die allgegenwärtige Gendarmerie, bereit, jedwede subversiven Elemente sofort ins nächstgelegene Gefängnis zu eskortieren; die untergründigen Beziehungen, die die Arbeiter und Arbeiterinnen alsbald zu einer kleinen Gruppe Anarchisten unterhalten, die wiederum in Kontakt mit der internationalen Arbeiterbewegung steht; kleine revolutionäre Aktionen wie das Aufhängen eines dezidiert anarchistischen Kalenders im Wirtshaus, oder Arbeitssabotage, wenn Josephine mit ihren Kolleginnen verabredet, ab heute langsamer zu schuften als zuvor; die Gegenbewegung des Nationalismus, der sich vor allem in den Festivitäten manifestiert, die zum Jubiläum einer Mittelalterschlacht zwischen der unabhängigen Schweiz und den Truppen Burgunds abgehalten werden, inklusive Tombola, bei der man feinste Gewehre gewinnen kann; die fristlose Kündigung einiger Arbeiterinnen, die es mit ihren anarchistischen Umtrieben zu weit getrieben haben; der Versuch der Fabrikleitung, die Arbeit noch effizienter zu organisieren, was reichlich absurde Blüten treibt – und über all diesen meist zusammenhanglosen, rein personell miteinander verbundenen Vignetten: Eine Obsession für das Medium der Photographie, das einmal den Behörden dazu dient, ihre Umwelt permanent im Bild festzuhalten und somit gleichsam inklusive ihrer Machtansprüche zu fixieren, und die andererseits privaten Knipsern dazu dient, Photos von Berühmtheiten wie überteuerte Starschnitte an die Arbeiterschaft zu verkaufen, darunter nicht zuletzt Portraits bereits hingerichteter Anarchisten, die wie Popsänger verehrt werden; eine Obsession für das Medium der Zeit, denn ständig müssen zu langsam laufende Uhren justiert werden, müssen neuartige Taschenuhren zusammengeschraubt werden, muss unterschieden werden, in welcher der vier Zeitzonen des Ortes man sich gerade bewegt, der Fabrikzeit, der Gemeindezeit, der Kirchenturmuhrzeit oder aber der Telegraphenzeit – wobei es sein kann, dass man sich schon mal um einen Stundenlohn bringt, weil man versehentlich zur Gemeindezeit in der Fabrik ankommt, und damit zu spät zum Arbeitsbeginn erscheint.

UNRUEH vereint in sich sämtliche Vorzüge und Nachteile dessen, was man als zeitgenössischen Arthaus-Mainstream bezeichnen könnte: Die statischen Bilder sind wunderschön, manchmal allein aufgrund ihrer Kadrage zum Schreien komisch, wenn Schäublin breite Baumstämme in die Bildmitte rückt, und seine Schauspieler links oder rechts in die Ecke zwängt, oder wenn er ständig jemanden im Bildvordergrund ganz dicht vor der Kameralinse herumwuseln lässt, sodass das eigentliche Geschehen von unscharfen Köpfen verdeckt wird, oder wenn er seine Figuren so platziert, dass ihre Körper nie vollständig im Kader erscheinen. Das kann man als prätentiösen Manierismus furchtbar finden, als eine plakative Art, sich vom traditionellen Filmemachen loszueisen, oder aber man schmunzelt, wie ich, vergnügt in sich hinein. Wirklich warm wird man mit den Charakteren bei einem solch verbissenen Stilwillen freilich nicht: Die Männer und Frauen bleiben uns fremd wie die Insekten, die sie für Schäublins Objektiv sind, und selbst die angedeutete Romanze am Ende ist nicht mehr als ein vager Hauch. Subtil verhandelt UNRUEH zahlreiche Themen: Einen Clash von Weltanschauungen; Schattenseiten der Industrialisierung; Aspekte der aufkeimenden Arbeiterbewegung; wir erfahren, wie im Jahre 1877 Nachrichten quer über den Globus versandt wurden, wie man große und kleine Uhren konstruiert hat, wie der Alltag in einer Fabrik ablief – das alles lose Partikel eines Materialhaufens, den UNRUEH ganz bewusst nicht zu einem homogenen, runden, ausgefeilten Ganzen verbinden möchte. Stattdessen: Spröde Splitter, aus denen wir uns das heraussuchen sollen, was uns taugt, und von dem wir das beiseiteschieben dürfen, was uns nicht weiter kümmert. Kino quasi als Angebot, das man annehmen kann oder eben nicht: In UNRUEH wird man nicht hineingesaugt, man fiebert nicht mit den Figuren mit, man wartet nicht auf die nächste Plot-Volte, sondern betrachtet den Film eher wie ein Wimmelbild, klebt an Details, die einem gefallen, vergisst den Rest, kaum hat man den Lichtspielsaal verlassen.

UNRUEH ist ein Film, auf den man abends beim Rumzappen zufällig auf ARTE stößt, an ihm hängenbleibt, oder weiterschaltet. Ich bin zu zwei Dritteln hängengeblieben und bei einem Drittel, nämlich dem mittleren, konnte ich nicht anders, als mit meinen Gedanken abzuschweifen und den Film nurmehr Film sein lassen.
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Maulwurf
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Re: Unruh - Cyril Schäublin (2022)

Beitrag von Maulwurf »

Vielen Dank für die Unterstützung bei der Entscheidungsfindung, Salvatore! Ich wollte den Film heute Abend mit meiner Frau im Kino sehen, aber für meine Holde ist das definitiv nichts, wenn ich nach Deiner Besprechung gehe. Hausfrieden gerettet, Mission erfüllt :D
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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Salvatore Baccaro
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Re: Unruh - Cyril Schäublin (2022)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Maulwurf hat geschrieben: Do 19. Jan 2023, 10:23 Vielen Dank für die Unterstützung bei der Entscheidungsfindung, Salvatore! Ich wollte den Film heute Abend mit meiner Frau im Kino sehen, aber für meine Holde ist das definitiv nichts, wenn ich nach Deiner Besprechung gehe. Hausfrieden gerettet, Mission erfüllt :D
Da hoffe ich doch, dass Du Dich nicht entschieden hast, als Alternative einen Heimkinoabend mit VASE DE NOCES oder NUDA PER SATANA zu veranstalten... :shock:
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