Von etwas anderem - Věra Chytilová (1963)
Moderator: jogiwan
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Von etwas anderem - Věra Chytilová (1963)
Originaltitel: O něčem jiném
Produktionsland: Tschechoslowakei 1963
Regie: Věra Chytilová
Cast: Eva Bosáková, Vera Uzelacova, Josef Langmiler, Jirí Kodet, Luboš Ogoun, Milivoj Uzelac, Vladimír Bosák
Seit vielen Jahren zählt Věra Chytilovás SEDMIKRÁSKY zu meinen absoluten Lieblingsfilmen. Dementsprechend begeistert bin, dass ARTE sich kürzlich dazu entschieden hat, das Langfilm-Debüt der tschechischen Regisseurin ins Programm zu nehmen – und derzeit kostenlos in ihrer Mediathek feilzubieten.
Rein ästhetisch trennen den poppig-bunten, anarchistisch-ungestümen SEDMIKRÁSKY und den in schlichten, semi-dokumentarischen Schwarzweißbildern gehaltenen O NECEM JINÉM tatsächlichen Welten: SEDMIKRÀSKY hat für sich die Abstraktion, die Allegorie, die Avantgarde gepachtet, während O NECEM JINÉM sich über weite Strecken anfühlt wie eine nüchterne Reportage, die ihr Sujet nicht ungestüm verzerrt, sondern zunächst einmal weitgehend emotionslos zur Kenntnis nimmt. Inhaltlich indes scheinen mir beide Filme gar nicht allzu weit voneinander getrennt zu sein.
In beiden Filmen nämlich verweben sich zwei Frauenschicksale miteinander: In SEDMIKRÁSKY sind es die (Anti-)Heldinnen Marie 1 und Marie 2, die im Fokus stehen und sich in eine wahre Männerverführungs-, Zerstörungs- und Wettfress-Orgie stürzen, um am Ende gar die ganze Welt und den Film, in dem sie mitspielen, wortwörtlich in die Luft zu jagen; in O NEVEM JINÉM bekommen wir fragmentarisch anmutende Episoden aus den Leben zweier Frauen serviert, die sich im gesamten Film nie begegnet werden, und die allein Chytilovás manchmal assoziative, manchmal abrupte Parallelmontage miteinander in Beziehung setzt: Zum einen Vera, ihres Zeichens Hausfrau und Mutter, die ihre Tage, während der Gatte die Brötchen verdient, damit zubringt, den aufmüpfigen Sohnemann zur Raison zu rufen oder die Wohnung in einem steten Zustand vorzeigbarer Sauberkeit zu halten; zum andern Eva, eine Turnerin auf dem Weg zu Olympia, die ihre Tage damit zubringt, sich von ihrem ehrgeizigen Trainer zu immer neuen Hochleistungen anspornen zu lassen, denn eine Goldmedaille gewinnt man schließlich nicht durch Rumsitzen. Dass Eva von der tatsächlichen übererfolgreichen Kunstturnerin Eva Bosáková verkörpert wird, die sich damit quasi selbst spielt und der wir teilweise minutenlang einfach nur bei ihrem tagtäglichen Training zuschauen, trägt genauso zum veristischen Anstrich von O NEVEM JINÉM bei wie die schnörkellosen Bilder, die unaufgeregte Kameraarbeit, die wohl bewusst zuweilen grobschlächtige Montage, die dazu führen, dass dem Film keinerlei Artifizielles anhaftet, er vielmehr wirkt, als seien seine Impressionen nach Zufallsprinzip und Spontanentscheidungen aus einem kalten Steinbruch gehauen, - wobei die wenigen Male, dass Chytilová extradiegetische Musik einsetzt, diese aus leichtfüßigem Party-Jazz besteht, der sich oft genug auf ironische Weise stark mit den tristen, im besten Sinne profanen Bildern beißt.
Wir erleben mit, wie schwer es Vera fällt, sich gegen ihren halbwüchsigen Sohn durchzusetzen, der ihr droht, er würde sie beim Papa verpetzen, wenn sie ihm Verbote auferlege; wir erleben mit, wie Eva bei all ihrer Körperoptimierung kaum eine Nische für ihr Privatleben findet; wir erleben mit, wie Veras Ehemann sich nach Feierabend vor dem Fernseher fläzt und Fußballspiele kommentiert, und seine Frau völlig linksliegenlässt; wir erleben mit, wie sich Evas Leben anscheinend zu großen Teilen in einer sterilen Turnhalle abspielt, wo sie einzig und allein mit Menschen zu tun hat, die ihren eigenen Erfolg an den ihren knüpfen, darunter ihr Ehemann und ihr Trainer; wir erleben mit, wie Vera sich einen Liebhaber nimmt, ihn schließlich in den Wind schießt, weil sie ihre Familie nicht verlieren will, nur um dann von ihrem Gatten hören zu müssen, dass er sich selbst anderweitig verguckt habe und die Scheidung einreichen werde; wir erleben mit, wie Evas Trainer seinen Schützling dazu bringen möchte, einen Purzelbaum rückwärts zu schlagen, wie sie es nicht fertigbringt, aus Angst, sich zu verletzen, und wie er ihr ganz beiläufig eine Ohrfeige verpasst, die das gewünschte Resultat erzielt - (die heftigste Ohrfeige übrigens, die ich schätzungsweise seit Pietro Germis IL TESTIMONE in einem Film gesehen habe.)
Während ich zunächst den Eindruck hatte, die Schicksale Veras und Evas würden in einer plakativen Dichotomie gegeneinander ausgespielt werden, - auf der einen Seite die sich dem bürgerlichen Diktat ergebene Hausfrau, die allein für ihren Mann und ihren Sohn lebt; auf der andern Seite die ruhmesblattbedeckte Sportlerin, die sich in einer männerdominierten Welt bis zur Goldmedaille durchkämpft -, erweist sich doch schnell, dass beide Frauen auf ihre ganz eigene Weise unterm Patriarchat leiden, - und wie Chytilová diesen Punkt macht, das wirkt zumindest auf mich zu keinem Zeitpunkt prätentiös, niemals über Gebühr belehrend, in keinem Moment angestrengt, - stattdessen viel eher zuweilen tragikomisch, meist deprimierend, und völlig durchdrungen mit einen Sinn dafür, wie man gänzlich ohne große Knalleffekte einen Zelluloidhaufen voller Emotionen generieren kann. Sie ist schon beeindruckend, die Bandbreite an Stilmitteln, Erzählpositionen, Ästhetiken, die Chytilová allein in ihrem Frühwerk aufs Tableau bringt, - und es macht Lust darauf, noch viel tiefer ins Oeuvre dieser Ausnahmeregisseurin einzutauchen…
Gemeinfrei besehen werden kann dieses Meisterwerk noch bis Ende September 2022:
https://www.arte.tv/de/videos/107810-000-A/von-etwas-anderem/