Zare - Amo Bek-Nazaryan (1927)

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Salvatore Baccaro
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Zare - Amo Bek-Nazaryan (1927)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Zare

Produktionsland: Sowjetunion 1927

Regie: Amo Bek-Nazaryan

Darsteller: Maria Tenazi, Hrachia Nersisyan, Avet Avetisyan, M. Garagash

Der Kaukasus im Jahre 1915: Ein kurdisch-jesidischer Stamm, der fernab der Errungenschaften der sogenannten Moderne mit seinen Schafs- und Ziegenherden Ostanatolien durchstreift, ächzt unter dem despotischen Regime, das ihm von Timur-bek, dem Sohn des nominellen Anführers Mejid Agha, auferlegt wird. Der nämlich besitzt eine wilde, gewalttätige, raffgierige Natur, die ihn sich gerade an den Ärmsten der Armen zu bereichern versuchen lässt: Wenn jemand aus dem Stamm stirbt, fordert Timur-bek gemäß altüberlieferter Traditionen dessen Kleidung für sich; wenn eine Hochzeit ansteht, erklärt er für sich das Privileg, vom Bräutigam einen Stier geschenkt zu bekommen, selbst wenn der nicht mal einen im Stall stehen hat. Natürlich ist Timur-bek auch der Frauenwelt nicht abgeneigt. Insbesondere auf Zare, die eigentlich bereits dem Hirten Saydo versprochen ist, hat er ein Auge geworfen. Da indessen sowohl Zares Eltern Timur-bek als Schwiegersohn in spe ablehnen, und sich diplomatisch damit herausreden, dass ihre Mitgift doch viel zu gering für einen stattlichen Kerl wie ihn sei, wie auch Saydo nicht den Anschein erweckt, tatenlos dabei zuzusehen, dass seine Liebste dem verhassten Nebenbuhler ins Netz gerät, greift unser Schurke zu einer List: Weil derzeit der Erste Weltkrieg tobt, werden von der zaristischen Regierung unter den Kurden Freiwilligenverbände ins Leben gerufen, deren junge, starke Mitglieder sodann an der Front verheizt werden sollen. Timur-bek sorgt dafür, dass auch Saydo zwangsweise rekrutiert, von den Feldjägern abgeholt und zum nächstbesten Schlachtfeld transportiert wird, um nunmehr freie Bahn bei Zare zu haben. Dabei hat er seine Rechnung aber ohne unseren willens- und körperstarken Helden gemacht: Saydo gelingt die Flucht. Zurück im Dorf verwickelt er sich in einen Kampf mit Timur-beks Dienerschaft, die gerade dabei ist, Zare aus ihrem Elternhaus zu verschleppen. Bei dem Scharmützel wird Saydo jedoch schwer verwundet, und muss, zumal das Militär ihm auf den Fersen ist, sich erst einmal in einer Felsenhöhle verstecken. Derweil hat Timur-bek Zare doch in seine Gewalt gebracht, und stellt ihr in Aussicht, sie so schnell wie möglich vor den Traualtar zu zerren, ob sie will oder nicht…

Seinen Platz in der Filmgeschichte hat ZARE aus zweierlei Gründen sicher: Zum einen handelt es sich um den zweiten armenischen Spielfilm überhaupt, nachdem Regisseur und Drehbuchautor Hamo Beknasarjan 1925 bereits mit NAMUS einen Streifen inszeniert hat, der als die Geburtsstunde des Kinos Armeniens gilt; zum andern soll ZARE der erste (und lange Zeit einzige) Film sein, der sowohl innerhalb der Lebenswelt nomadischer Kurden wie der Religionsgemeinschaft der Jesiden angesiedelt ist. Bis in die 90er soll es anschließend gedauert haben bis diese marginalisierte Volksgruppe erneut zur Sichtbarkeit auf der Kinoleinwand gelangte. Einmal abgesehen von solchen filmhistorischen Anekdoten, mit denen man beim kinematographischen Stammtisch den ultimativen Nerd heraushängen lassen kann – („Ach, übrigens: Ich habe gestern den zweiten armenischen Spielfilm gesehen, der zufällig auch der erste Film ist, der vorurteilslos das kulturelle Leben nomadischer Kurden im Kaukasus abbildet.“) –, ist ZARE aber auch ein ziemlich kurzweiliger und hochinteressanter Film, der sich relativ geschmeidig zwischen den Genres Liebesmelodrama, Abenteuergeschichte, politischer Propaganda und Dokumentarfilm bewegt.

Erste beiden Punkte konnte man schon meiner Inhaltsangabe entnehmen: Herzschmerz trifft auf Hetzjagden im Dunkel der Nacht, Dolchduelle, Entführungen und Erschießungen, wenn ein Keil getrieben werden soll zwischen die unschuldige Liebe unserer Turteltäubchen, wobei die Schmachtmomente allerdings nie allzu exzessiv ausarten, und die Spannungsmomente stellenweise wirklich spannend in Szene gesetzt wurden. Bei der mitternächtlichen Entführung Zares durch Timur-beks Handlanger aus ihrer elterlichen Hütte oder einer Szene, in der Zares Mutter kurz davor zu stehen scheint, ihre Tochter mit einem Dolch zu entleiben, damit sie nicht gegen ihren Willen Timur-bek heiraten muss, kann ich Montage, Kameraführung, Lichtsetzung jedenfalls nicht das Geringste vorwerfen. Freilich, mit zeitgleich zum kinematographischen Ruhm der frisch gegründeten Sowjetunion beitragenden Bilderstürmern wie Eisenstein, Vertov, Pudovkin oder Dovzhenko hat die vergleichsweise konventionelle Mise en Scène wenig zu tun. Dafür teilt ZARE aber deren ideologische Plakativität, die bei Beknasarjan indes vielleicht etwas mehr hinter der im Vordergrund stehenden Erzählung zurücktritt. Wohlgemerkt, wir befinden uns im Jahre 1927 und natürlich bekommt die Zarenherrschaft gehörig ihr Fett weg: Als das angebliche „Freiwilligenregiment“ ausgehoben werden soll, wohnen wir bei, wie jeder Beamter, der seine Unterschrift unter das besagte Dekret setzen soll, sich ein bisschen etwas von dem Haufen Rubel abzwackt, der durch die unterschiedlichen Institutionen wandert bis am Ende nichts mehr von ihm übrig ist, und wenn Timur-bek zur Hochzeit lädt, macht sich der Film über die geladenen Gäste aus dem höheren Beamtentum lustig, über einen weltfremden Naturforscher, über einen bis ins Mark korrupten Polizeichef, über seinen tölpelhaften Adjutanten – und schreckt dabei nicht mal vor ein paar zarten Slapstick-Einsprengseln zurück. Besonders gefallen haben mir die dokumentarischen Aufnahmen, mit denen der Film eröffnet, und die auch später immer wieder in die Fiktion einbrechen werden: Da schauen wir den Kurden bei alltäglichen Verrichtungen zu, beim Melken ihrer Ziegen, bei der Zubereitung von Fladenbrot, bei religiösen Riten, bei den Vorbereitungen für das große Hochzeitsfest, wobei all diese Schlüssellochblicke in eine zumindest mir reichlich fremde Kultur durchaus so wirken, als hätten sie Beknasarjan und sein Team jenseits ihrer von professionellen Schauspielern getragenen Handlung unverstellt exakt so vor ihre Kameralinsen bekommen. Zum hohen Authentizitätseffekt trägt nicht zuletzt sicher auch bei, dass ZARE an Originalschauplätzen gedreht worden ist, und ich eine Szene, die definitiv im Studio entstanden sein dürfte, nicht benennen könnte.

Eine weitere Lücke innerhalb der Filmgeschichte wurde für mich geschlossen und zu meiner vollsten Zufriedenheit verriegelt…
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