Originaltitel: Blancanieves
Produktionsland: Spanien/Frankreich 2012
Regie: Pablo Berger
Darsteller: Macarena García, Daniel Giménez Cacho, Maribel Verdú, Sofía Oria
Es gibt einen Fakt, der wohl immer als Erstes genannt wird, wenn es um Pablo Bergers BLANCANIEVES geht, und deshalb will ich ihn ebenfalls nicht bis zuletzt aufsparen: Obwohl im Jahre 2012 veröffentlicht, handelt es sich um einen im wahrsten Sinne des Wortes stummen Film. Bergers Verbeugung vor dem frühen Kino reicht so weit, dass er seinem zweiten Langfilm komplett das gesprochene Wort genommen und durch Zwischentitel bzw. Texttafeln ersetzt hat. Originalton gibt es in BLANCANIEVES überhaupt nicht, stattdessen werden die Schwarzweißbilder permanent musikalisch von einem Score kommentiert, der kein Pathos scheut. Trotzdem begeht Berger nicht etwas, was möglicherweise ein Fehler wäre, weil es ihn in seinen künstlerischen Ausdrucksmitteln eingegrenzt hätte: nämlich zu versuchen, BLANCANIEVES, insofern das technisch überhaupt möglich gewesen wäre, tatsächlich eins zu eins so aussehen zu lassen wie ein Artefakt aus den 1910er oder 1920er Jahren. Zu jeder Sekunde sieht man diesem wundersamen Film zwei Dinge an: zum einen, dass Berger die Jahre, in denen die Kinematographie zahnte, laufen lernte und zum ersten Mal kleine Geschichtchen erzählte, in einer Weise umarmt, dass das Endergebnis für weniger aufgeschlossene Filmfreunde beinahe schon sperrig wirken könnte, und zum andern, dass BLANCANIEVES nichtsdestotrotz keinen Hehl daraus macht, ein Werk der 2010er Jahre, d.h. voller Großaufnahmen, Kamerafahrten, Bildkompositionen zu sein, die so niemals einhundert Jahre zuvor hätten verwirklicht werden können. Auf formaler und ästhetischer Ebene meistert BLANCANIEVES den Spagat mit Bravour zwischen Replik und Individualerzeugnis, zwischen Hommage und Eigenständigkeit, zwischen dem augenzwinkernden Aufkochen alter Ideen und modernen Innovationen.
Es gibt einen zweiten Fakt, der wohl immer als zweites genannt wird, wenn es um Pablo Bergers BLANCANIEVES geht, und deshalb will ich ihn ebenfalls bis zuletzt aufsparen: Obwohl im Spanien des Jahres 1910 angesiedelt, handelt es sich um einen im wahrsten Sinne des Wortes Märchenfilm. Bergers Spiel mit Märchen und Mythen Europas geht so weit, dass er seinen zweiten Langfilm durchgängig als Adaption des bekannten Schneewittchen-Stoffes konzipiert hat. Nahezu jede Wendung der Story und jeder Punkt des Plots lässt sich zurückführen auf die, in ihrer berühmtesten Fassung, 1812 von den Gebrüdern Grimm erstmals publizierte Geschichte von bösen Königinnen, sieben Zwerglein, vergifteten Äpfeln und gläsernen Särgen. Trotzdem begeht Berger nicht etwas, was möglicherweise ein Fehler wäre, weil es ihn in seinen künstlerischen Ausdrucksmitteln eingegrenzt hätte: nämlich zu versuchen, BLANCANIEVS, insofern das aus der Postmoderne heraus überhaupt möglich gewesen wäre, tatsächlich eins zu eins so aussehen zu lassen wie einen völlig ironiebefreiten, todernsten Neuaufguss einer Geschichte, die wohl noch immer die meisten Kinder im Schlaf nachsprechen können. Zu jeder Sekunde sieht man diesem wundersamen Film zwei Dinge an: zum einen, dass Berger die naive Welt des Märchens mit seinen vielen Zufällen, schablonenhaften Charakteren, großen Gefühlen in einer Weise umarmt, dass das Endergebnis für Filmfreunde, die ohne einen gewissen Realismus nicht auskommen, beinahe schon nervig wirken könnte, und zum andern, dass BLANCANIEVES nichtsdestotrotz keinen Hehl daraus macht, ein Werk aus einer Zeit zu sein, in der noch jeder kindliche Glaube ironisch gebrochen wird, indem man ihn der aktuellen Gegenwart angleicht, wenn böse Stiefmütter sich, statt in Zauberspiegeln, in Blitzlichter von Modephotographenkameras suhlen, und sieben Zwerge als Schausteller von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehen müssen, um ihr täglich Brot zu erspielen. Auf inhaltlicher Ebene meistert BLANCANIEVES den Spagat mit Bravour zwischen wundervollen Begebenheiten und gesellschaftskritischem Biss, zwischen entrückter Zauberwelt und spanischer Alltagsrealität um 1920, zwischen dem vertrauten Hervorkramen geliebter Kindheitserinnerungen und unerwarteter Ansätze, die diese in einen völlig neuen Kontext rücken.
Es mag sein, dass ich mir BLANCANIEVES manchmal noch etwas mutiger und verrückter gewünscht hätte, und auch mag es sein, dass dem Film zwischenzeitlich einmal die Überraschungen ausgehen und sich die eine oder andere Länge einschleicht, dennoch bin ich, wie man hört, ziemlich begeistert von dieser merkwürdigen, verwunschenen Mischung aus Stummfilm, Jodorowsky-Familiengeschichten, Tod Brownings FREAKS, Stierkämpfermelodram, Märchenzauber und coming-of-age-Drama.