Blancanieves - Pablo Berger (2012)

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Salvatore Baccaro
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Blancanieves - Pablo Berger (2012)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Blancanieves

Produktionsland: Spanien/Frankreich 2012

Regie: Pablo Berger

Darsteller: Macarena García, Daniel Giménez Cacho, Maribel Verdú, Sofía Oria
Der 21.April 1910 ist ein schwarzer Tag für die Familie Villalta. Antonio, der gefeierte Stierkämpfer, verfehlt zum ersten Mal in seiner Karriere sein Ziel und endet schwerverletzt und mit der Diagnose, für den Rest seines Lebens querschnittsgelähmt zu sein, im Krankenhaus. Carmen, seine hochschwangere Frau, die den Unfall ihres Mannes in der mit Zuschauermassen vollgepfropften Arena hat mitansehen müssen, erleidet durch diesen Anblick einen derartigen Schock, dass sie ihr gemeinsames Kind zu früh zur Welt bringt, und in Folge dessen, nur ein Zimmer weiter von dem, in dem die Ärzte um Antonios Leben kämpfen, verstirbt. Carmencita, so heißt das unter solchen schicksalsschweren Umständen geborene Töchterchen, verbringt ihre Kindheit recht unbeschwert bei der Großmutter. Grund dafür, dass sie nicht bei ihrem verbliebenen Elternteil aufwächst, ist die Krankenschwester Encarna, die Antonio während seiner Rekonvaleszenz vorgeblich aufopferungsvoll gepflegt hat, um letztlich zur Gattin und Erbin des durch die Stierkämpferei reich gewordenen Volkshelden zu werden. Unter Encarnas Ägide ist Antonio, seelisch und körperlich gebrochen, und zudem von der Angst geplagt, der Umgang mit Carmencita würde ihm den Verlust seiner über alles geliebten Carmen permanent schmerzlich bewusst werden lassen, wie Wachs und er fügt sich jeder ihrer Anordnungen, fristet sein Dasein zurückgezogen in einer weitläufigen Villa, lässt sich nach außen hin ausnahmslos von seiner gestrengen Ehefrau vertreten. Doch dann stirbt Carmencitas Großmutter am Tage der Erstkommunion des Mädchens und unsere Heldin hat keine anderen Verwandten mehr als eben ihren Vater und ihre Stiefmutter. Die muss sie nun zähneknirschend bei sich aufnehmen, verbietet ihr aber jeden Kontakt zu Antonio, behandelt sie wie eine Magd, schneidet ihr die Haare kurz wie die eines Jungen, und lässt selbst Carmencitas einzigen Freund, einen drolligen Hahn, im Kochtopf landen. Jahre vergehen und aus Carmencita wird eine junge Frau. Was Encarna nicht ahnt: schon lange haben Antonio und seine Tochter zueinander gefunden. Heimlich treffen sie sich im zweiten Stock der Villa, wo er ihr das Stierkämpfen beibringt, ihr von ihrer Mutter erzählt, ihr die lange vermisste väterliche Liebe zukommen lässt. Doch auch diese Idylle zerbricht bald. Encarna, die längst einen Liebhaber gefunden hat, ist Antonios endgültig überdrüssig, und außerdem schielt sie auf das satte Erbe. Antonio stürzt mit dem Rollstuhl aus dem Fenster, und Carmencita soll es nicht besser ergehen, wenn Genaro, Encarnas Lover, sie zu einem Fluss lockt, um sie dort zu ertränken. Als sie nach dem Sturz ins Wasser jedoch wider Erwarten die Augen aufschlägt, findet sie sich in seltsamer Gesellschaft: Es sind sechs Kleinwüchsige, die sie vor dem Ertrinken gerettet haben, mit einem Jahr-marktwagen durch die Lande ziehen, und ihr anbieten, sie als siebtes Mitglied in ihrer Mitte aufzunehmen. Carmencita stimmt zu, findet treue Freunde in den gesellschaftlichen Außenseitern, und avanciert zudem schnell zu einer gefeierten Stierkämpferin, ähnlich wie ihr Vater. Doch als das die Stiefmutter hört, kann sie nicht anders als einen Apfel mit Gift zu präparieren, der Carmencita endgültig aus der Welt schaffen soll…

Es gibt einen Fakt, der wohl immer als Erstes genannt wird, wenn es um Pablo Bergers BLANCANIEVES geht, und deshalb will ich ihn ebenfalls nicht bis zuletzt aufsparen: Obwohl im Jahre 2012 veröffentlicht, handelt es sich um einen im wahrsten Sinne des Wortes stummen Film. Bergers Verbeugung vor dem frühen Kino reicht so weit, dass er seinem zweiten Langfilm komplett das gesprochene Wort genommen und durch Zwischentitel bzw. Texttafeln ersetzt hat. Originalton gibt es in BLANCANIEVES überhaupt nicht, stattdessen werden die Schwarzweißbilder permanent musikalisch von einem Score kommentiert, der kein Pathos scheut. Trotzdem begeht Berger nicht etwas, was möglicherweise ein Fehler wäre, weil es ihn in seinen künstlerischen Ausdrucksmitteln eingegrenzt hätte: nämlich zu versuchen, BLANCANIEVES, insofern das technisch überhaupt möglich gewesen wäre, tatsächlich eins zu eins so aussehen zu lassen wie ein Artefakt aus den 1910er oder 1920er Jahren. Zu jeder Sekunde sieht man diesem wundersamen Film zwei Dinge an: zum einen, dass Berger die Jahre, in denen die Kinematographie zahnte, laufen lernte und zum ersten Mal kleine Geschichtchen erzählte, in einer Weise umarmt, dass das Endergebnis für weniger aufgeschlossene Filmfreunde beinahe schon sperrig wirken könnte, und zum andern, dass BLANCANIEVES nichtsdestotrotz keinen Hehl daraus macht, ein Werk der 2010er Jahre, d.h. voller Großaufnahmen, Kamerafahrten, Bildkompositionen zu sein, die so niemals einhundert Jahre zuvor hätten verwirklicht werden können. Auf formaler und ästhetischer Ebene meistert BLANCANIEVES den Spagat mit Bravour zwischen Replik und Individualerzeugnis, zwischen Hommage und Eigenständigkeit, zwischen dem augenzwinkernden Aufkochen alter Ideen und modernen Innovationen.

Es gibt einen zweiten Fakt, der wohl immer als zweites genannt wird, wenn es um Pablo Bergers BLANCANIEVES geht, und deshalb will ich ihn ebenfalls bis zuletzt aufsparen: Obwohl im Spanien des Jahres 1910 angesiedelt, handelt es sich um einen im wahrsten Sinne des Wortes Märchenfilm. Bergers Spiel mit Märchen und Mythen Europas geht so weit, dass er seinen zweiten Langfilm durchgängig als Adaption des bekannten Schneewittchen-Stoffes konzipiert hat. Nahezu jede Wendung der Story und jeder Punkt des Plots lässt sich zurückführen auf die, in ihrer berühmtesten Fassung, 1812 von den Gebrüdern Grimm erstmals publizierte Geschichte von bösen Königinnen, sieben Zwerglein, vergifteten Äpfeln und gläsernen Särgen. Trotzdem begeht Berger nicht etwas, was möglicherweise ein Fehler wäre, weil es ihn in seinen künstlerischen Ausdrucksmitteln eingegrenzt hätte: nämlich zu versuchen, BLANCANIEVS, insofern das aus der Postmoderne heraus überhaupt möglich gewesen wäre, tatsächlich eins zu eins so aussehen zu lassen wie einen völlig ironiebefreiten, todernsten Neuaufguss einer Geschichte, die wohl noch immer die meisten Kinder im Schlaf nachsprechen können. Zu jeder Sekunde sieht man diesem wundersamen Film zwei Dinge an: zum einen, dass Berger die naive Welt des Märchens mit seinen vielen Zufällen, schablonenhaften Charakteren, großen Gefühlen in einer Weise umarmt, dass das Endergebnis für Filmfreunde, die ohne einen gewissen Realismus nicht auskommen, beinahe schon nervig wirken könnte, und zum andern, dass BLANCANIEVES nichtsdestotrotz keinen Hehl daraus macht, ein Werk aus einer Zeit zu sein, in der noch jeder kindliche Glaube ironisch gebrochen wird, indem man ihn der aktuellen Gegenwart angleicht, wenn böse Stiefmütter sich, statt in Zauberspiegeln, in Blitzlichter von Modephotographenkameras suhlen, und sieben Zwerge als Schausteller von Jahrmarkt zu Jahrmarkt ziehen müssen, um ihr täglich Brot zu erspielen. Auf inhaltlicher Ebene meistert BLANCANIEVES den Spagat mit Bravour zwischen wundervollen Begebenheiten und gesellschaftskritischem Biss, zwischen entrückter Zauberwelt und spanischer Alltagsrealität um 1920, zwischen dem vertrauten Hervorkramen geliebter Kindheitserinnerungen und unerwarteter Ansätze, die diese in einen völlig neuen Kontext rücken.

Es mag sein, dass ich mir BLANCANIEVES manchmal noch etwas mutiger und verrückter gewünscht hätte, und auch mag es sein, dass dem Film zwischenzeitlich einmal die Überraschungen ausgehen und sich die eine oder andere Länge einschleicht, dennoch bin ich, wie man hört, ziemlich begeistert von dieser merkwürdigen, verwunschenen Mischung aus Stummfilm, Jodorowsky-Familiengeschichten, Tod Brownings FREAKS, Stierkämpfermelodram, Märchenzauber und coming-of-age-Drama.
Zuletzt geändert von Salvatore Baccaro am Do 21. Apr 2016, 19:24, insgesamt 1-mal geändert.
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jogiwan
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Re: Blancanieves - Pablo Berger (2012)

Beitrag von jogiwan »

den hatte ich schon so oft in Händen... jetzt werde ich wohl zugreifen! :nick:
it´s fun to stay at the YMCA!!!



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Adalmar
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Re: Blancanieves - Pablo Berger (2012)

Beitrag von Adalmar »

Vielen Dank für den Thread (die Rezension lese ich mal noch nicht, um mir nicht zu viel vorwegzunehmen). Wollte mir den auch schon öfters besorgen, jetzt ist es wohl bald mal so weit.
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Salvatore Baccaro
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Re: Blancanieves - Pablo Berger (2012)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Adalmar hat geschrieben:Wollte mir den auch schon öfters besorgen, jetzt ist es wohl bald mal so weit.
jogiwan hat geschrieben:den hatte ich schon so oft in Händen... jetzt werde ich wohl zugreifen! :nick:
Ich bin gespannt auf eure Meinungen...!
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