Ere erera baleibu izik subua aruaren - J. A. Sistiaga (1970)

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Salvatore Baccaro
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Ere erera baleibu izik subua aruaren - J. A. Sistiaga (1970)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Originaltitel: ...ere erera baleibu izik subua aruaren...

Produktionsland: Spanien 1970

Regie: José Antonio Sistiaga

Darsteller: Eine handbemalte 35mm-Filmrolle
Erster Sichtungseindruck: Wie lange werde ich das wohl aushalten? Siebzig Minuten dauert der Film. Komplett ohne Ton. An der Abstraktion nicht nur kratzend, sondern sie mit beiden Armen umfangend. Ein Schneegestöber ist nichts dagegen. Der Regisseur José Antonio Sistiaga ist eigentlich Maler. Deshalb hat er sich, wahrscheinlich inspiriert von Experimentalfilmemachern wie Stan Brakhage, dazu entschieden, die Leinwand gegen 35mm-Zelluloid einzutauschen. Frame für Frame hat er dem Filmmaterial eine ganze Palette von Farben und Formen tätowiert. Die Frage, die sich mir stellt: Was genau ist denn nun dann das Kunstwerk? Der Filmstreifen selbst, wenn er in der Vitrine irgendeiner Kunstgalerie liegen würde? Oder der Filmstreifen, wenn er durch den Projektor jagend zum Leben erwacht?

Zweiter Sichtungseindruck: Puh, diesmal versuche ich es mal mit Sound. Zwar hat Sistiaga ausdrücklich verlangt, sein Werk solle als Stummfilm genossen werden. Aber dabei schweifen meine Gedanken zu sehr ab. Ein paar Minuten geht es gut, dann drifte ich weg, konzentriere mich nicht mehr auf das Farbgewitter, sondern denke an alles und damit an nichts. Siebzig Minuten, das ist eine lange Zeit, wenn man ein chaotisches Gewitter aus blauen Punkten, roten Steifen, weißen Blitzen auf schwarzem Grund anstarrt. Der Künstler möge es mir verzeihen. Ein passender Soundtrack sollte es jedoch schon sein: Raw Black Metal? Power Noise? Ambient Techno? Sistiagas Befürchtung scheint gewesen zu sein, dass der Rhythmus einer Begleitmusik den unleugbar vorhandenen Rhythmus seines Films ruiniere. Die Frage, die sich mir stellt: Ist das nun ein einziges Gemälde, das man nur dadurch in seiner ganzen Pracht genießen könnte, indem man den Filmstreifen in einer Kunstgalerie ausbreiten würde? Oder ist es eine sekundenbruchschnelle Abfolge einer Myriade von Einzelgemälden, die man einzig dadurch ansatzweise zu fassen kriegt, indem man den Filmstreifen durch einen Projektor jagt und zum Leben erweckt?

Dritter Sichtungseindruck: Irgendwas ist anders. Diesmal fällt es mir leicht, meine Aufmerksamkeit zu bündeln. Ich kann mich auf die Farbdramaturgie einlassen. Sie weckt Assoziationen in mir, teilweise welche von sehr weit weg. Der violette Nebel einer brodelnden Alchemistenküche. Eine knallig betupfte 70er-Tapete, in die man kopfüber stürzt und verschlungen wird. Detailaufnahmen von Zellen, Blättern, Insektenflügeln. Eine gigantische Sonne, die von innen heraus verbrennt. Das spröde Schwarzweiß eines defekten Fernsehapparats. Eine Reise quer durchs Unterholz eines Waldes; die Welt vor ihrer eigenen Geburt; die bunten Fenster von Kathedralen, wenn mehrere Scheinwerfer sie durchbrechen, und permanent an- und ausgeknipst werden; das glühende Rot der Hölle; umherwirbelnde Bernsteinkristalle. Weit entfernt ist das nicht von Brakhages Ansatz, ein Universum zeigen zu wollen, das von einem noch ungeschulten, unverdorbenen, unschuldigen Auge betrachtet wird. Meine Augen fangen allerdings spätestens nach einer Dreiviertelstunde fürchterlich zu brennen an, als haben die fordernden und überfordernden Bilder ihnen dann doch zu viel aufgebürdet.

…ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN… soll übrigens phonetisches Nonsens-Baskisch sein, eine Sprache, die unter der Diktatur General Francos in Spanien derart verpönt war, dass es schon einem Affront gleichkommt, wenn Sistiaga seinen einzigen Langfilm einen solchen Titel gibt. Andererseits: Was an einem Film ist kein Affront, der einzig und allein aus einem Schneesturm von Farben und Formen besteht, die die Künstler direkt auf den 35mm-Streifen gepinselt hat? Für mich wird jedenfalls nach drei Anläufen immer klarer, dass …ERE ERERA BALEIBU IZIK SUBUA ARUAREN… zu den schönsten Experimentalfilmen gehört, die ich jemals gesehen habe. Noch zwei, drei weitere Sichtungs(-versuche), und ich erkläre ihn vielleicht zum besten Film aller Zeiten!
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