’A Santanotte - Elvira Notari (1922)
Moderator: jogiwan
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’A Santanotte - Elvira Notari (1922)
Originaltitel: ’A Santanotte
Produktionsland: Italien 1922
Regie: Elvira Notari
Cast: Rosè Angione, Alberto Danza, Elisa Cava, Antonio Palmieri, Eduardo Notari
Die 1875 in Salerno geborene Elvira Notari gilt als erste Filmregisseurin Italiens. Zusammen mit ihrem Mann Nicola gründet sie 1906 in Neapel die Produktionsfirma „Dora Films“, die sich alsbald zu einer der profiliertesten und profitabelsten unabhängigen Filmfirmen des südlichen Italiens auswächst. Als waschechtes Familienunternehmen besorgt Notari Regie, Schnitt und die Drehbücher, während Nicola vorrangig für die Kameraarbeit zuständig ist; auch der gemeinsame Sohn Eduardo mausert sich zum Kinder- und Teenagerstar, der in vielen Filmen seiner Eltern unter dem Namen „Gennariello“ in Erscheinung tritt. Nicht grundlos werden Notaris Werke als entscheidenden Vorläufer des in den 40er Jahren virulent werdenden Neorealismus gehandelt: So unterrichtet Notari in einer eigenen Schauspielschule ihre Zöglinge darin, sich vom vorherrschenden pathetisch-theatralen Bühnenstil zu lösen, und setzt in ihren Filmen ausschließlich Laien ein; mit Vorliebe sucht sie sich Freilichtschauplätze in Neapel oder im neapolitanischen Umland für malerische Außenaufnahmen; ebenso konsequent verortet sie ihre Dramen nicht etwa im Milieu der Oberschicht, unter den Schönen und Reichen, in der von der Lebensrealität des „gemeinen Volkes“ losgekoppelten Kunst- und Kulturszene, sondern macht zu den Helden ihrer Filme vielmehr die gerade so über die Runden kommende Mittelschicht, wenn nicht gar die Ärmsten der Armen, Tagelöhner, Hafenarbeiter, Prostituierte. Mit Fug und Recht kann man Notaris Kino als Anti-These zur überaus erfolgreichen Mode der Diven-Filme in den 1910er und 1920er Jahre begreifen: Deren großspurige Gesten, opulente Kostüme, üppigen Kulissen, opernhafte Inszenierungen, überladende Herzschmerzplots werden bei Notari vertauscht gegen eine schlichte Bildsprache, gegen den ambitionierten Versuch, das Proletariat so realistisch wie möglich auf Zelluloid zu bannen, gegen einen volksnahen Ton, der sich letztlich auch darin zeigt, dass Notari viele ihrer Werke auf den Lyrics populärer zeitgenössischer Canzones basieren lässt, gegen eine bewusste, beinahe schon minimalistische Reduktion in allen die Mise en Scéne betreffenden Belangen.
Das Aufkommen des Faschismus sowie des Tonfilms besiegelt Anfang der 30er Jahre das Ende der „Dora Films“: Ersterem schmeckt Notaris Vorliebe für die Schattenseiten der italienischen Gesellschaft nicht; letzterer bedeutet technisch-ästhetische Umwälzungen in der Filmproduktion, bei denen die Notaris, wie viele andere Stummfilmschaffende, nicht mehr mithalten können. Das Ehepaar Notari verlässt Neapel gen Salerno, um ein Fachgeschäft für Fotoausrüstungen zu betreiben. Der nagende Zahnzeit wiederum hat Notaris Oeuvre weitgehend aus der italienischen Filmgeschichte herausgeknabbert: Von ihrem Oeuvre aus sechzig Spielfilmen und zahllosen Dokumentarstreifen sind heute nicht mal eine Handvoll vollständig erhalten. Immerhin kann man sich von den beiden 1922 gedrehten und primär für eine Auswertung bei italienischen US-Emigranten produzierten Melodramen E' PICCERELLA und ‘A SANTANOTTE, die in restaurierter Fassung einst auf ARTE liefen, einen Eindruck von dem sozial engagierten, abgründig leidenschaftlichen, volkstümlichen Kino dieser vergessenen Filmpionierin machen lassen.
Im Mittelpunkt von ‘A SANTANOTTE steht Nanninella, ein junges Mädchen, das sich und ihren alkoholabhängigen Vater mit einem schlecht bezahlten Job als Kellnerin über Wasser hält. Ihr Erzeuger sieht keinen Grund darin, selbst einen Finger dafür krumm zu machen, die Familie zu ernähren, und wird stattdessen zum prügelnden Wüterich, wenn Nanninella mit zu wenig Geld nach Hause kommt, als dass es für einen Vollrausch reicht. Zwei Männer buhlen derweil um die Gunst der herzensreinen jungen Frau: Tore Spina und sein bester Freund Carluccio. Unmissverständlich gilt Nanninellas Zuneigung Tore, der eines Tages gar seine greise Mutter mit in das Café nimmt, wo sein Augenstern kellnert, um diese (erfolgreich) davon zu überzeugen, dass es sich bei Nanninella trotz ihrer Profession und ihrer Familienverhältnisse um alles andere als einen zweifelhaften Umgang handelt. Carluccio freilich ist die zu knospen beginnende Liebe zwischen Tore und Nanninella ein Dorn im Auge: Heimlich tut er sich mit Nanninellas Vater zusammen, um ihm einen Deal zu unterbreiten: Sollte er ihm die Hand seiner Tochter überlassen, wird Carluccio dafür sorgen, dass dem alten Saufbold jeden Tag genügend Wein in die Kehle plätschert. Nanninellas Vater ist begeistert: Einen besseren Schwiegersohn kann man sich nicht wünschen!, und gemeinsam beschließen die beiden Männer das weitere Schicksal Nanninellas, als ginge es darum, ein Stück Vieh den Besitzer wechseln zu lassen. Als die ganze Sache ans Tageslicht kommt, geraten Carluccio und Tore verständlicherweise in Streit. Mehr noch: Als Tore das Gespräch mit Nanninellas Vater sucht, ist dieser einmal mehr derart vollgesoffen, dass er von der Anhöhe hinabstürzt, auf der die Unterredung stattfinden sollte, und sich das Genick bricht. Carluccio nutzt seine Chance, und bezichtigt Tore, Nanninellas Vater absichtlich in die Tiefe geschubst zu haben – ein Vorwurf, den die neapolitanischen Behörden vorbehaltlos als bare Münze nehmen: Tore wandert als mutmaßlicher Mörder hinter schwedische Gardinen, - und Nanninella, die von seiner Unschuld überzeugt ist, fasst einen Racheplan: Zum Schein möchte sie mit Carluccio die Ehe eingehen, um dahinterzukommen, wie ihr Vater wirklich zu Tode gekommen ist. Während nun also Nanninella Carluccio gegenüber Liebe heuchelt, um aus ihm das Geständnis herauszupressen, er habe Tore zu Unrecht ins Gefängnis gebracht, gelingt dem vor Wut kochenden Tore die Flucht aus seiner Zelle, und bewaffnet mit einem Messer möchte er seinem ehemaligen Freund und der vermeintlich untreu gewordenen Geliebte ihren Verrat blutig vergelten…
Welch fatalistisches Werk ‘A SANTANOTTE doch ist, das mit radikaler Konsequenz davon erzählt, wie seine Figuren erbarmungslos auf einen Abgrund zurasen, wie viel er scheinbar beiläufig über Geschlechter- und Gesellschaftsverhältnisse im Neapel der frühen 1920er Jahre zu Protokoll gibt, und wie betont schnörkellos Notari inszeniert, darauf bedacht, keine emotionalen Exzesse auf die Leinwand bringen, sondern den Rhythmus der leidenschaftlich pochenden Herzen ihrer Figuren quasi knapp außerhalb der Greifbarkeit zwischen den Zeilen ihrer wunderschön kadrierten Bildern zu verstecken. Mit seiner Laufzeit von gerade mal knapp einer Stunde zeigt ‘A SANTANOTTE nie zu viel, nie zu wenig, ist außerordentlich glorreich darin, ohne große Worte ein eindrucksvolles Bild seiner aus prekären Verhältnissen stammenden Heldin zu zeichnen, schafft es dramaturgisch außerordentlich packend, das Finale aus sich gegenseitig bedingenden, parallel verlaufenden Handlungen – Nanninellas Hochzeit auf der einen Seite; Tores Gefängnisausbruch auf der anderen Seite – zu kompilieren. Besonders interessant ist die Figur des Gennariello, wie üblich verkörpert von Notaris Sohn Eduardo: Dieser fungiert als Helferlein Nanninellas, das ihr fortwährend mit Rat und vor allem Tat beiseite steht, um zum Beispiel verdächtige Gespräche zu belauschen, die Carluccio mit Nanninellas Vater führt, oder aber, um Tore eine Waffe ins Gefängnis zu schmuggeln. Gennariello schwebt wie eine Art Schutzengel über Nanninella, ohne jedoch letztendlich verhindern zu können, dass es mit ihr ein schlimmes Ende nimmt. Dieses Ende übrigens wurde in der New Yorker Importfassung genauso der Zensurschere überantwortet wie manch andere angeblich zu gewalttätige Einstellung, darunter eine Aufnahme Tores, wie er, sein Messer in der Faust, dem Nebenbuhler Carluccio tödliche Rache schwört. Der ‘A SANTANOTTE zugrundeliegende gleichnamige Canzone thematisiert exakt diesen Moment: Aus der Ich-Perspektive eines Ex-Lovers wird erzählt, wie dieser seine ehemalige Geliebte, die sich inzwischen vermeintlich einem anderen Mann zugewandt hat, aufsucht, um sie zur Rede zu stellen. Wie sich herausstellt, ist sie in den Armen des Neuen nicht ansatzweise so glücklich wie in denen ihres vorherigen Partners, weswegen sie sich durchaus begeistert darüber zeigt, dass ihr Verflossener erneut bei ihr auf der Schwelle steht, - Grund genug für ihren aktuellen Freund, sie kurzerhand niederzustechen. Sterbend schleppt sich das Mädchen hinaus zu unsrem Ich-Erzähler, der ihr das Sterben bloß noch erleichtern kann, indem er sie in seine Arme schließt. Genau diese Szene bildet dann auch den Abschluss von ‘A SANTANOTTE: Elvira Notari hat den Canzone visuell aufbereitet an das Ende ihres Films gestellt, und die knapp sechzig Minuten zuvor damit zugebracht, die finale Mordtat psychologisch und narrativ zu grundieren. Die allerletzte Einstellung zeigt uns Carluccio, der nach seinem Mord an Nanninella dem Wahnsinn verfallen ist: Sein hysterisch in die Kamera lachendes Gesicht ist ein Schluss, wie ihn dieses wundersame Melodram sich nicht besser hätte wünschen können…
- Salvatore Baccaro
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Re: ’A Santanotte - Elvira Notari (1922)
Hier gibt's die restaurierte Fassung, die seinerzeit auf ARTE lief, in ihrer ganzen Glorie zu bewundern: Wundervoller Soundtrack!