Regie: Marcel Fabré
Produktionsland: Italien 1914
Obwohl das Oeuvre des Marcel Perez laut Internetangaben sage und schreibe einhundertfünfzig Titel umfassen soll, dürfte der gebürtige Spanier heutzutage nur den wenigsten Filmfreaks ein Begriff sein. Sein unermesslicher Output an Filmen klingt wohl auch bloß auf dem Papier derart erschlagend. Seine meisten Regiearbeiten sind nämlich, der Frühzeit des Kinos gemäß, Kurzfilme, größtenteils Slapstick-Komödien, unter denen besonders jene einen gewissen Bekanntheitsgrad erreicht haben, in denen er selbst als Hauptakteur agiert und der clownesken, seinerzeit außerordentlich erfolgreichen Clownsfigur Robinet seinen Körper leiht. Zumindest ein bisschen bekannt als Kuriosität innerhalb der Ahnentafel des phantastisch-surrealen Films mag vielleicht außerdem noch sein leider weitgehend verschollenes, in Italien realisiertes opus magnum LE AVVENTURE STRAORDINARISSIME DI SATURNINO FARANDOLA sein, in dem die wahrlich wilden Abenteuer eines Buben erzählt werden, der als einziger Überlebender eines Schiffunglücks als Säugling von Affen aufgezogen worden ist und es, aufgrund seines fehlenden Schwanzes von deren Inselkönigreich verstoßen, im Folgenden mit Piraten, Luftschiffen und seine Liebste verschlingenden Walen zu tun bekommt. AMOR PEDESTRE teilt mit letzterem Film sein Entstehungsland. Auch dieser knapp sechs Minuten lange Film wurde von Perez unter dem Pseudonym Marcel Fabré in Italien realisiert, und zwar offenbar kurz nach Beendigung der Dreharbeiten zu SATURNINO FARANDOLA. Dass der heute leider komplett in Vergessenheit geratene AMOR PEDESTRE zu einem Lieblingsfilm der Surrealisten avancierte, verwundert mich überhaupt nicht.
Die Geschichte, die AMOR PEDESTRE erzählt, ist keine, für die nicht mal im Jahre 1914 irgendein Drehbuchautor einen Preis für kreative Leistung gewonnen hätte. Ein Mann lernt auf der Gasse zufällig eine Frau kennen, der er dabei behilflich ist, ihre zu Boden gefallene Handtasche aufzuheben. Er findet Gefallen an ihr, folgt ihr bis in die nächste Straßenbahn, wo die beiden sich zaghaft anzunähern beginnen. Die Frau ist indes liiert und als ihr Gatte eine ihr von ihrem Liebhaber zugesteckte Nachricht findet, ist er von ihrem heimlichen Umgang mit fremdem Mannsvolk freilich kaum begeistert. Es endet wie es zu dieser Zeit noch in Kino und Literatur und Bühnenkulissen zwangsläufig enden muss: der gehörnte Ehemann fordert den Liebhaber zum Degenduell. Doch obwohl letzterer offenkundig verliert, wirft sich ihm seine Holde dennoch an den Hals. Erneut endet alles wie es enden muss, nämlich in heißem Sex zwischen den vereinten Verliebten. Man sieht: im Prinzip entfaltet Fabré in den sechs Minütchen, die ihm zur Verfügung stehen, sozusagen die absolute Basis jeglichen Liebesmelodrams. Eine Frau, zwei Männer, ein Duell, ein verstecktes Briefchen, das alles sind keine Ingredienzien, die nicht jeder, der nicht fernab von der menschlichen Zivilisation, beispielweise unter Inselaffen, aufgewachsen ist, schon dutzendmal gesehen oder gelesen hätte. Was führt mich in Nachfolge der Surrealisten also dazu, AMOR PEDESTRE zu einem echten Meisterwerk des frühen Experimentalkinos auszurufen?
Es ist die Art und Weise, mit der Fabré seinen Klischeestoff in Bilder übersetzt. AMOR PEDESTRE, sein Name deutet das schon mehr als an, handelt nämlich ausschließlich von Füßen. Im Klartext: die ganze Tragödie wird über die Füße der drei in ihr involvierten Personen erzählt. Kaum sonst etwas bekommen wir von den Schauspielern zu sehen als eben das, was sich unterhalb ihrer Kniescheiben abspielt. Jede ihrer Emotionen wird im Verhalten ihrer Füße gespiegelt und dem, was sie mit ihren Schuhen anstellen. So lässt der frisch verliebte Galan sich nach der Begegnung mit der mutmaßlichen Schönen erstmal ausgiebig von einem Schuhputzer die Schuhe zum Glänzen bringen. Als die Liebenden in der Straßenbahn sitzen, zeigt Fabré uns ihre hochkochende Leidenschaft mittels dem, was man gemeinhin füßeln nennt: schüchtern und doch fordernd schieben sich die Schuhe des Mannes zu denen der Frau herüber und lassen keinen Zweifel daran, dass die Luft zwischen den Zehen regelrecht knistert. Am Ende lässt die Frau für ihren Liebsten das Röckchen fallen, das natürlich herab auf ihre Schuhe sinkt, die lasziv aus ihm heraussteigen.
Zwei Dinge sind es wohl gewesen, die die Surrealisten – und mich – bei Betrachten von AMOR PEDESTRE vor allem mit Begeisterung erfüllten. Zunächst: Fabrés Experiment ist einfach und brillant. Man spürt: wäre die Kamera nur ein Stückchen höher angehört, würde sich da eine völlig uninteressante, altbekannte Geschichte abspielen. Allein dass wir in eine derart ungewöhnliche Perspektive versetzt werden, transformiert das Klischee in eine neue Art des Sehens, die ohne das Kino niemals zugänglich gewesen wäre. Pars pro toto ist etwas, das man als Motto wohl über jeden Film schreiben könnte, da jeder Film damit operiert, ein Bruchstück einer vermeintlichen Realität zu zeigen und damit ein größeres, jedoch in seiner Gänze unsichtbar bleiben müssendes Ganze zu meinen. Fabré steigert diese dem filmischen Medium immanente Eigenart bis ins Extrem und beweist, dass eine Geschichte nur mittels Füßen vermittelt werden und dennoch verständlich bleiben kann. Damit belebt Fabré quasi nebenbei die Objektwelt, was wohl eine weitere Übereinstimmung mit den Prinzipien der späteren Surrealisten bedeutet. Seine Schuhe, seine Füße sind nicht bloß Schuhe und Füße, sie kommen in AMOR PEDESTRE wie eigenständige Lebewesen rüber, mit einer Persönlichkeit, sichtbaren Gefühlsausdrücken, einer gewissen Tragik oder Komik. Fabré inszeniert die Schuhe der Frau als erotisch, kokett, verführerisch, die des Liebhabers als charmant-lüstern, die des Ehemanns als herrisch, aufbrausend, besitzergreifend. Es ist nicht, dass etwas fehlt, sondern ganz im Gegenteil besteht die für mich größte Leistung von AMOR PEDESTRE eben darin, einen Status der Reduktion erreicht zu haben, in dem, obwohl kaum etwas vorhanden ist, dennoch alles spürbar bleibt, was man zum Verständnis des Films braucht. Dass AMOR PEDESTRE dabei ungemein witzig ist, tut sein Übriges, ihn von mir hiermit zu einem der besten Filme ausrufen zu lassen, die ich in letzter Zeit gesehen habe.
In seiner ganzen Glorie kann der Film in einer kolorierten Fassung, allerdings mit befremdlichem Soundtrack unterlegt und nicht der besten Bildqualität, unter folgendem Link bestaunt werden: