Originaltitel: Cainá
Produktionsjahr: Italien 1922
Regie: Gennaro Righelli
Darsteller: Maria Jacobini, Carlo Benetti, Ida Carloni Talli, Eugenio Duse
In seiner von 1910 bis 1947 andauernden Tätigkeit als Filmemacher hat Gennaro Righelli bei mehr als hundert Filmen Regie geführt, darunter beim ersten italienischen Tonfilm überhaupt, LA CANZONE DELL’AMORE von 1930. Verheiratet war er mit der italienischen Filmschauspielerin Maria Jacobini, die er, verständlicherweise, oft mit den weiblichen Hauptrollen in seinen Stummfilmen der 20er Jahre betraute – so geschehen bei CAINÁ von 1922, einem Melodram, das viel-leicht nicht die Welt bewegt, aber mit Sicherheit wenigstens ein bisschen das Herz jedes Cineasten, der sich nicht sattsehen kann an Filmen des frühen Kinos, die es verstehen, natürliche Landschaften mit – in vorliegendem Fall etwas einfältigen – Geschichten auf visuell überwältigende Weise zu verknüpfen. Wie die Inhaltsangabe schon andeutet: Anfangsakt und Schlussakt von CAINÁ spielen auf Sardinien, und wenn man Righellis Drehbuch auch vorwerfen kann, dass es im Grunde eine ziemlich ein-dimensionale Tragödie abspult, deren Moral letztlich ist, am heimischen Herd zu bleiben, und sich ja nicht in die große weite Welt hinaus zu sehnen, denn das bedeute für einen selbst und alle Beteiligten nur Unglück auf Unglück, so gehören einige der Bildkompositionen, die er mit Hilfe der archaischen Sardischen Landschaft kreiert, in jene Kategorie von Filmbildern, die ich mir problemlos umgeben von einem sie adelnden Rahmen vorstellen kann. Damit hat nicht nur zu tun, dass ich jeden Film – oder, generell, jedes Kunstwerk – schon mal von Grund aus sympathisch finde, wenn Ziegen darin vorkommen – und die sieht man zumindest zu Beginn von CAINÁ in Scharen (herzallerliebst ist eine Szene, in der unsere Heldin mit ihrer Lieblingsziege herumschäkert, als sei sie ihre Busenfreundin) -, sondern es ist auch und vor allem die irgendwie schlichte, selbstverständliche Art, mit der Righelli den Spagat schafft zwischen sorgsamem Arrangement und Einbeziehung der Zufälligkeiten und Gegeben-heiten des insularen Hinterlandes. Da befindet sich rechts im Bild ein ärmliches Bauernhaus, links ein riesiges Kreuz, und in der Mitte begeben sich die Dörfler mit Körben auf den Köpfen, auf Eseln reitend oder zu Fuß gehend zum Sonntagsgottesdienst, während Cainá zwischen ihnen allein schon durch ihren selbstbewussteren Gang und die Art wie sie mit ihrem Kleid spielt, aus der Reihe tanzt – und diese Szene sagt, ohne viele Worte bzw. Texttafeln verschwenden zu müssen, in einer einzigen Einstellung schon alles aus, was man über das Gemeinschaftsleben von Cainás Geburtsort und ihre eigene Stellung darin wissen muss. Später träumt ihr Verlobter von ihrer gemeinsamen Zukunft, und entsetzt blickt Cainá zur Seite, wo wir, nach einem Schnitt, zwei weidende Schafe sozusagen als die Verkörperung dessen sehen, was sie diese Zukunft zu werden fürchtet. Noch später, während ihr Fluchtschiff vom Sturm drangsaliert wird, sind es einige äußerst ungewöhnliche Kameraperspektiven, mit der Righelli die aus den Fugen geratene Ordnung unterstreicht (offenbar wurde teilweise horizontal vom Mast herab gefilmt, was einfach nur atemberaubend ausschaut.) Alles in allem muss man Righelli bescheinigen, dass er spezifisch filmische Mitteln des Ge-schichtenerzählens beherrscht, als bräuchte er sie sich bloß aus dem Ärmel zu schütteln: Montage und Kameraarbeit sind schön wie man nur sein kann.
Im Mittelteil, sobald Cainá im Hause ihres Kapitäns gestrandet ist und ihre Stimmung sich mehr und mehr trübt, verliert der Film leider die fast schon ethnographischen Qualitäten des Anfangs, und wird mit zunehmender Laufzeit zu einer etwas zu moralisch eingefärbten Parabel der Marke „Schuster bleib bei Deinen Leisten“ oder „Mädchen, bleib bei Deinen Ziegen.“ Der Schlussteil ist zwar apokalyptisch in seiner Dramatik, denn Righelli lässt wirklich keinen Schicksalsschlag aus, der die reuig zurückgekehrte verlorene Tochter treffen könnte, um ihr zu beweisen, wie fatal falsch ihr Davonlaufen gewesen ist, dazu konzentriert sich der Film aber nun mehr auf seine, wie gesagt inhaltlich für mich nicht besonders interessante, reine Geschichte, und verliert ein bisschen das aus den Augen, was mich seinem Auftakt so sehr begeistert hat: Die fast schon dokumentarischen Szenen, in denen das rurale Bauernleben Sardiniens geschildert wird, als befänden wir uns bereits im Neorealismus eines Viscont, die beeindruckenden Szenen, in denen die Naturgewalten der See losbrechen, als sollten die wundervollen Ozean-Loblieder Jean Epsteins vorweggenommen werden, und die malerischen Landschaftsbilder, die auch aus einem Stummfilm der Schwedischen Schule, von Stiller oder Sjöström, stammen könnten – und auch Maria Jacobini wirkt mit ihren immerhin dreißig Jahren auf einmal sichtlich zu alt dafür, ein Mädchen zu spielen, das, schätze ich, nicht älter als achtzehn sein sollte. Nichtsdestotrotz ist CAINÁ mit seiner knapp einstündigen Laufzeit Pflichtprogramm für jeden, der nicht genug von Ziegen bekommen kann, der sehen möchte, was das Italienische Kino der 10er und 20er neben historischen Monumentalepen und lasziven Divenfilmen zu bieten hatte, und dessen Mund ein etwas triviales Drehbuch nicht daran hindert, vor in ihrer Schlichtheit atemberaubenden Landschaftspanoramaaufnahmen entzückt auf- und dann nicht mehr zuzuklappen.