Cocullo - Nino Pezzella (2000)

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Salvatore Baccaro
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Cocullo - Nino Pezzella (2000)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Produktionsland: Deutschland/Italien 2000

Regie: Nino Pezzella
Nino Pezzellas COCULLO ist einer dieser Filme, die man wohl nur deshalb das Glück hat, auf großer Leinwand bewundern zu dürfen, weil man, seiner Intuition, seinem Schicksal, dem Zufall folgend, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gelandet ist. Meines Wissens wurde COCULLO niemals kommerziell veröffentlicht und, außerhalb des einen oder anderen Festivals, niemals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Nino Pezzella wurde 1961 in Westdeutschland geboren, wuchs in Italien auf, genoss eine künstlerische Ausbildung in Frankfurt, Chicago und San Francisco, schuf seinen ersten, konsequent auf 16mm gedrehten Film COCULLO wiederum am Herkunftsort seiner selbst und seiner Familie, dem kleinen Abruzzen-Dörfchen Cocullo.

Cocullo kennt der Religionswissenschaftler vor allem aufgrund einer kulturellen Eigenart. Dass ein italienisches Dorf seinen eigenen Heiligen hat, der dann, wenn das ihm gewidmete alljährliche Fest ansteht, die Kirche verlassen darf und durch die Gassen getragen wird, ist im Grunde freilich noch keine Besonderheit. Genauso geschieht es auch dem Heiligen Dominikus von Sora, der seine schützenden Hände über das Örtchen Cocullo hält. Geboren wurde er wohl Mitte des zehnten Jahrhunderts auf dem Berg Colfonaro nahe Foligno, gestorben ist er, sagt der Heiligenkalender, in der Benediktinerabtei der Stadt Sora, deren Namen er fortan trägt. Um den frommen Mönch ranken sich die üblichen Legenden: er soll Krankheiten geheilt, Unwetter abgewendet, generell den Glauben der Volksmassen durch entzückende Predigten gehoben haben. Vor allem soll seine Macht sich jedoch im Kampf gegen wilde Tiere gezeigt haben. Der Legende nach ist sogar ein unheilvoller Drache unter den Biestern gewesen, die ihn Gott hat zerschmettern lassen. Daher rührt auch der eigenwillige Brauch, der offensichtlich bis in das Cocullo der Jahrhundertwende überlebt hat – und, nehme ich an, selbst heute noch praktiziert wird: An jedem ersten Donnerstag im Mai zieht die Dorfbevölkerung los, um wilde Schlangen einzufangen. Die wiederum werden dann auf der Dominikus-Statue installiert, worauf diese, gekrönt von einem wahren Medusenhaupt, ihre Reise quer durch die Ortschaft antritt. Ursprünglich soll dieser Kult jedoch nicht christlich intendiert gewesen sein, sondern auf einem ähnlichen, der Fruchtbarkeitsgöttin Angizia geltenden Etruskerritus beruhen – wie so oft hat das Christentum sich als eine synkretistischen Tendenzen ungemein aufgeschlossene Religion erwiesen. Am Ende des Schlangenfests jedenfalls bringt man den Heiligen folgerichtig hinaus auf die Felder, die er einsegnen und mit einer hoffentlich baldigen und hoffentlich fruchtreichen Ernte versehen soll – ein archaischer Bodenkult wie aus einer anderen Zeit gefallen.

Sowieso sieht COCULLO aus wie ein Film wesentlich älter als 2000. An die 70er könnte man denken, allein wegen der spröden 16mm-Aufnahmen. Weitere Assoziationen meinerseits, eine säkulare und eine sakrale: Rossellinis VIAGGGIO IN ITALIA endet mit einer ähnlichen Prozession, diesmal inmitten der engen Gassen Neapels - und mit einem Wunder. In Alberto Cavallones L’UOME LA DONNA E LA BESTIA wird ein ähnlicher Heiligenkult kritisch beäugt: ein allgemeiner Wahn greift um sich, der Priester verteilt bzw. verkauft Heiligenkärtchen an die Kinder, jeder der scheinbaren frommen Prozessionsteilnehmer hat einen Keller voller Leichen.

Bloß ansatzweise ist COCULLO allerdings mit diesen Filmen vergleichbar. Zum einen, weil er keine Position bezieht. Zum andern – und das hängt damit eng zusammen -, weil es kein im klassischen Sinne narrativer Film ist. Er dauert dreißig Minuten. Er erzählt keine Geschichte, verfügt über keine Schauspieler, kein Drehbuch. Er bebildert aber auch nicht einfach nur dokumentarisch die Ereignisse wie das Schlangenfangen, das Melken von Kühen, das Pezzellas eigener Großvater besorgt, das Schlachten von Kaninchen, das Pezellas eigene Großmutter besorgt, das muntere Festtreiben mit Blaskapelle, lachenden Mütterchen und glatzköpfigen, selig lächelnden Alten.

Das Wort, das COCULLO vielleicht am besten beschreibt, ist assoziativ. Pezzella schneidet zusammen, was zusammengehört – jedoch nicht nach Gesetzen der menschlichen Logik. Wir sehen: einem der Kaninchen werden die Eingeweide entnommen. Schnitt zum Heiligen Dominikus, von Schlangen schon reichlich umwoben. Erneuter Schnitt: eine Autobahnbrücke, auf der sich die Fahrzeuge im Zeitraffer bewegen. Schnitt: Großaufnahme von gemolken werdenden Kuhzitzen. Schnitt: Schlangen, aufgespürt mit kleinen Stöckchen im hohen Gras, und: eine Landschaft wie aus einer anderen Zeit, und: das Herstellen von Festkäse in einem Weidekorb. Dazu der Ton: kleine Soundfetzchen, ornamenthaft zusammengesetzt, ein gackerndes Lachen an falscher Stelle, Ziegenmeckern, wenn die Blaskapelle im Bild ist, Satzfragmente, geloopt und völlig aus ihrem Kontext gerissen.

Und was für eine Montage das ist! Man stelle sich das vor, quasi kaderweise das 16mm Material neu zusammenzusetzen, lauter kleine Funken, die zusammen diesen Großbrand ergeben, zu dem COCULLO, meine ich, geworden ist. Eine Bildcollage, eine Soundcollage, irgendwie autobiographisch, irgendwie archaisch, irgendwie anstrengend, irgendwie meditativ.

Außerdem: Antworten auf die Fragen, die uns schon lange unter den Nägeln brennen: wie fängt man am besten Schlangen?, wie sieht das Leben im italienischen Hinterland aus, heute genauso wie vor hunderten von Jahren?, und, vielleicht am wichtigsten: wie kommt das Muster in den Käse?
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