Das 1. Evangelium - Matthäus - Pier Paolo Pasolini (1964)

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Salvatore Baccaro
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Das 1. Evangelium - Matthäus - Pier Paolo Pasolini (1964)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

Il Vangelo Secondo Matteo.jpg
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Originaltitel: Il Vangelo Secondo Matteo

Regie: Pier Paolo Pasolini

Entstehungsland: Italien 1964

Darsteller: Enrique Irazoqui, Susanna Pasolini, Alfredo Gatto, Enzo Siciliano, Giorgio Agamben, Ninetto Davoli

Möglicherweise ist Pier Paolo Pasolini derjenige Filmregisseur mit den meisten gegen ihn geführten Gerichtsprozessen. So ziemlich zu jedem seiner Filme, jedoch auch zu seinen Romanen und anderen künstlerischen Arbeiten, wurde die italienische Staatsanwaltschaft tätig. Knapp über 30 sollten es bis zum Ende seines Lebens sein, das wiederum genauso in einem Strafprozess wie in einem Knalleffekt mündete, ist doch bis heute nicht abschließend geklärt, wer genau es nun war, der den intellektuellen Päderasten mit seinem eigenen Auto überfuhr: sein jugendlicher Freier, gar die italienische Rechte, als mörderischer Protest gegen seinen letzten, nestbeschmutzenden Film SALÓ, oder unbekannte Dritte, die bis heute nicht haben demaskiert werden können? Ein Jahr vor seiner Bibelverfilmung IL VANGELO SECONDO MATTEO jedenfalls hatte er einen Prozess wegen des Kurzfilms LA RICOTTA am Hals. Orson Welles spielt dort einen Regisseur, der das Leben Jesu zu verfilmen gedenkt. Hauptperson ist ein Statist, seines Zeichens einer der beiden Diebe, die mit dem Messias zusammen ans Kreuz geschlagen werden sollen. Der Lumpenproletarier leidet unter Armut und Hunger, bekommt dann aber aufgrund einiger zufälliger Verwicklungen so viel Essen gereicht wie er nur verzehren kann. Sich im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode fressend, stirbt er schließlich, am Kreuz hängend, keinen Filmtod, sondern einen echten. Der Aufschrei war groß, als der Film im Rahmen des Episoden-Happenings ROGOPAG, zu dem unter anderem auch Jean-Luc Godard, Ugo Gregoretti und Roberto Rossellini wesentlich weniger subversive Beiträge beisteuerten, das Licht der Welt erblickte, und wurde noch größer, als Pasolini verkündete, sein nächstes Projekt tatsächlich eine Adaption des Matthäus-Evangeliums werden zu lassen. Bei den Filmfestspielen von Venedig brach dann jedoch die Menge, die eigentlich zusammengekommen war, um Pasolinis Jesus-Epos auszubuhen, spontan in frenetischen Beifall aus, die katholische Kritik überschlug sich mit Lob, die marxistische reagierte dann doch eher verhalten, und dass IL VANGELO SECONDO MATTEO schließlich gar in jene lesenswerte Liste aufgenommen worden ist, in der der Vatikan 45 Spielfilme sammelte, die es, nach Meinung der Diener Gottes auf Erden, wert seien, von jedem Christenmenschen besehen zu werden, deutet darauf hin, dass es mit der Blasphemie in Pasolinis Film, anders als erwartet, nicht allzu weit her sein kann.

Wirklich stellt IL VANGELO SECONDO MATTEO, nicht nur für mich, die wohl beste Verfilmung des Leben Christi dar. Weit entfernt von Hollywood-Kitsch wie KING OF KINGS oder neo-neorealistischen Ansätzen wie in Rossellinis IL MESSIA wirkt der Film nicht unbedingt wie ein Spielfilm, sondern eher wie ein Artefakt, ein Dokument, das, von irgendwie in die Zeit Christi geratenen Kameras aufgezeichnet, die Jahrhunderte überdauert hat und vom Zufall in die Hände Pasolinis gespielt worden ist, der dem Rohmaterial seine Unbehauenheit beließ und seine Rolle darauf beschränkte, es mit einem recht eigenen musikalischen Kommentar auszustatten. Das ist schon kein Neorealismus mehr, das ist ungeschminkter Realismus, ein Film im found-footage-Stil, der sich die Imperfektion als Leitsatz gewählt hat, vergleichbar vielleicht mit einem Avantgarde-Werk wie Mehriges BEGOTTEN, der ja ebenfalls den Eindruck vermittelt, ein Überbleibsel längst vergangener Tage, sprich: nicht inszeniert zu sein, eine Art kinematographisches Fossil. Pasolini verändert am Text, an der reinen Story des Matthäus-Evangeliums nichts. Wortgetreu arbeitet er die einzelnen Stationen ab, mischt sich nicht in die Monologe Jesu ein. Alles, was er tut, ist zu straffen, einige Dinge zu kürzen, die Bergpredigt beispielweise zu mehreren Großaufnahmen des Gesichts Christi zusammenzuraffen, in denen Zeit und Raum völlig ausgeschlossen, und wirklich nur die bedeutenden Sätze zählen, die da gesprochen werden. Vordergründlich wird da nichts neuinterpretiert, nichts modern gelesen, selbst die Engelserscheinungen sind intakt, und die Wunder, die Jesu wirkt. Wie genau IL VANGELO SECONDO MATTEO funktioniert, verdeutlicht vielleicht am besten die Szene, in der Jesus einen Aussätzigen heilt. Dieser schreitet mit entstelltem Gesicht auf den Heiland zu, im Gegenschnitt nähert sich Jesus mit seinen Jüngern, er fordert ihn auf, ihn von seinem Leid zu erlösen, und das geschieht dann auch, mittels eines Schnitts. Eben noch hat der Mann sein deformiertes Antlitz gehabt, Pasolini schneidet kurz zu Jesus, zurück zu dem Kranken, und dieser hat ein Gesicht ohne Makel. Im positiven Sinne primitiv, aufs Basalste reduziert, minimalistisch wie man nur sein kann, lässt Pasolini das Wunder Christi und das Wunder, das er selbst wie einen der Zaubertricks, mit denen noch Méliès sein Publikum sprachlos machen konnte, vollführt, ineinander verschmelzen. Klar, jeder durchschaut den angeblichen Trick, jeder Schnitt ist, wie Godard so schön sagt, per se eine Lüge, und dennoch, er hat Erfolg damit, und wir begreifen: diese Art und Weise, die Wunder Gottes nicht mittels Pathos und Schmelz zu transzendieren, sondern sie vielmehr auf die Ebene des Banalen und Alltäglichen herabzudrücken, ist vielleicht der einzige Weg, ihnen einen angemessenen Ausdruck zu verschaffen.

Für den gesamten Film gilt dieses Prinzip. Weniger ist mehr, weiß Pasolini, der IL VANGELO SECONDO MATTEO in grobkörnigem Schwarzweiß dreht, mit einer Montage, die holprig, teilweise gar dilettantisch wirkt, einer Tonspur, auf der man genau hört wie manchmal die Schallplattennadel nach Ende eines Stücks neu aufgesetzt wird, unsauberer Kameraarbeit und einem Ensemble aus Laiendarstellern in karger Kulisse, unter denen man nicht nur Pasolinis eigene Mutter als alte Maria finden kann, sondern auch den Philosophen Giorgio Agamben, den Schriftsteller Enzo Siciliano, den Poeten Alfonso Gatto in der Apostelschar, sowie, als Jesus, den komplett unbekannten Spanier Enrique Irazoqui, der witzigerweise ausgerechnet von Enrico Maria Salerno synchronisiert wurde, eben jenem Schauspieler, der in den Leone-Western Clint Eastwood seine Stimme lieh. Noch unprofessioneller wirkt das Ganze als Pasolinis beide vorherigen Spielfilme, ACCATTONE und MAMMA ROMA. In denen wurden Themen des Subproletariats Rom behandelt, ganz gemäß der Romane, die Pasolini zuvor verfasste, und arme Schlucker zu Heiligen stilisiert: man denke an die großartige Schlussszene von ACCATTONE, in der der titelgebende Held unter den Himmelsklängen Bachs zu einem verlumpten Christus wird. Bei IL VANGELO SECONDO MATTEO nun führt diese Bewegung in die exakt andere Richtung. Das Heilige wird zum Menschen. Christus ist aus Fleisch und Blut. Er steht über niemandem, er ist sozusagen ungeschminkt, führt Reden, die wahlweise verklärend, mahnend oder aber auch zuweilen offen aggressiv sind. Sozusagen entkleidet Pasolini die Jesusfigur. Er zieht ihm alle später hinzugefügten Kleidungsstücke aus und zeigt ihn so wie er im Matthäusevangelium tatsächlich vorliegt. Dadurch gibt er uns die Möglichkeit, Stellung zu beziehen. Wir lernen Jesus vielleicht zum ersten Mal so kennen wie ihn die Bibel, die die wenigsten von uns aufmerksam gelesen haben dürften, vorführt. Das ist nicht der Jesus irgendeiner Glaubensgruppe, irgendeines Papstes, irgendeiner politischen Ideologie, das ist der Jesus so wie ihn Matthäus verstanden und gesehen hat. Hochglanz wäre da genauso fehl am Platz wie jeder Wille zur Inszenierung. Pasolinis Film ist wie ein unbestellter Acker.

In den Schlussszenen nimmt die Kamera dann zu allem Überfluss Positionen ein, wie sie einem in jeder Filmschule ausgetrieben werden würden. Da passiert Bedeutendes, Jesus wird vor Pilatus geführt, der wäscht seine Hände in Unschuld, die jüdischen Hohepriester verkünden sein Todesurteil, und die wacklige Handkamera steht irgendwo in der Menge, filmt zwischen Köpfen hindurch, von denen so mancher gar die Ereignisse im Hintergrund verdeckt, sodass wir gar nicht genau erkennen können, was da genau passiert. Die biblischen Städte sind schmutzig, verwahrlost, in Stein gehauene Höhlen, völlig ohne Glanz und Prunk, die einzelnen Szenen beginnen abrupt, enden abrupt, monumentale Vorkommnisse wie die Berufung der Jünger werden wie nebenbei, wie selbstverständlich abgehandelt, andauernd wechseln extrem weite Landschaftsaufnahmen mit extrem Nahaufnahmen von Gesichtern, es scheint keinen einheitlichen Stil zu geben, genauso wenig wie irgendeine Form von Spannung, was zudem dem Umstand geschuldet ist, dass jeder sich das Ende des Films denken kann, oder Dramatik. Lesarten eröffnen sich, die individuell sein müssen. Der gläubige Katholik wird IL VANGELO SECONDO MATTEO anders aufnehmen als der gläubige Marxist oder der gläubige Atheist. Schlussendlich geht Jesus in der Menge auf, seine Stimme thront, seines Körpers sozusagen enthoben, am Himmelszelt. Von der Tonspur sind bis dahin religiöse Kompositionen unterschiedlichster Kulturkreise über uns gekommen, von Johann Sebastian Bach über Blind Willie Johnson bis hin zur kongolesischen Missa Luba. Pasolini macht alles richtig, weil es ihn nicht schert, was er aus technischer Sicht falsch macht. Ein Film wie ein Gebet, bei dem in einfachsten Worten das Größte überhaupt gefasst wird.
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Arkadin
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Re: Das 1. Evangelium - Matthäus - Pier Paolo Pasolini (1964)

Beitrag von Arkadin »

Ganz großartiger Film, dem alles Pathos vollkommen abgeht, und Jesus einfach als einen Menschen, im besten Sinne des Wortes, zeigt, welcher einfach nur Gutes tun will. Gerade dadurch wirkt der Film weit mehr als die großen Bibel-Schlachtplatten. Auch für Atheisten geeignet (ist ja auch von einem gedreht worden).
Früher war mehr Lametta
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Re: Das 1. Evangelium - Matthäus - Pier Paolo Pasolini (1964)

Beitrag von buxtebrawler »

Erscheint voraussichtlich heute bei Filmjuwelen auf Blu-ray und auch noch einmal auf DVD:

Bild Bild

Extras:
- Booklet, Schuber, Wendecover
- Erkundung in Palästina - Pasolinis Film über die Inspektion der Filmorte aus dem Jahr 1965 (ca. 54 Min.)
- Newsbericht aus 1963 (ca. 1 Min.), Outtakes (ca. 1 Min.)
- Originaltrailer, weitere Highlights

Quelle: OFDb-Shop
Onkel Joe hat geschrieben:Die Sicht des Bux muss man verstehen lernen denn dann braucht man einfach viel weniger Maaloxan.
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