Il buco - Ein Höhlengleichnis - Michelangelo Frammartino (2021)
Moderator: jogiwan
- Salvatore Baccaro
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Il buco - Ein Höhlengleichnis - Michelangelo Frammartino (2021)
Originaltitel: Il buco
Produktionsland: Italien 2021
Regie: Michelangelo Frammartino
Cast: Paolo Cossi, Jacopo Elia, Denise Trombin, Nicola Lanza, Antonio Lanza, Leonardo Larocca, Claudia Candusso, Mila Costi
Puh, ich frage mich ernsthaft, weshalb ich die Sichtung von Michelangelo Frammartinos drittem Langfilm IL BUCO aus dem Jahre 2011 derart lange hinausgeschoben habe, - zumal sein knapp eine Dekade zuvor entstandener Zweitling IL QUATTRO VOLTE zu meinen liebsten Filmen der 2000er Jahre überhaupt zählt.
Die Überschneidungen von Frammartinos Debüt IL DONO von 2004 und IL QUATTRO VOLTE von 2010 zu IL BUCO stechen sofort ins Auge: Erneut verschlägt es den 1968 in Mailand geborenen Regisseur ins süditalienische Kalabrien, wo er bereits IL DONO im Heimatdorf seiner Eltern gedreht hat, und wo er für IL QUATTRO VOLTE den Kreislauf aus Entstehen und Vergehen in pittoreske Bilder gekleidet (und nebenbei eine der amüsantesten Plansequenzen jenseits von Godards WEEK END inszeniert) hat; erneut schert Frammartino sich um gängige Kino-Konventionen wie pointierte Dialoge, ausgefeilte Figuren, dramatische Plot-Volten keinen Deut, sondern versammelt vor seiner Kamera stattdessen Laien, die kaum ein Wort sagen, die keinerlei psychologische Grundierung erfahren, die im Prinzip gar keine Charaktere im engeren Sinne, vielmehr bloße Typen sind, und er erzählt auch nichts, lässt seine Vision des Filmemachens stattdessen zu einem bloßen Zeigen werden, bei dem das Publikum aktiv gefordert wird, das, was es gezeigt bekommt, zu einem kohärenten Ganzen zusammenzuschließen; erneut überwältigt Frammartino mich mit seinen unfassbar schönen Landschaftsaufnahmen, mit seinem unaufgeregten, kontemplativen, nahezu introvertierten Montagefluss, damit, dass bei mir permanent der Eindruck entsteht, ich würde einen tiefschürfenden Philosophieessay lesen, der sich um einfach alles dreht, dabei aber vollkommen unprätentiös daher-, und, wohlgemerkt, komplett ohne Worte auskommt.
Wir befinden uns im Jahre 1961: Eine Gruppe Höhlenforscher reist zum Pollino, einem Gebirgszug an der Grenze zwischen Kalabrien und Basilikata. Ihr Ziel: Bislang unerforschte Höhlen hinabzusteigen, um ihre Gründe zu ergründen. Frammartinos Drehbuch beruht auf wahren Begebenheiten: Tatsächlich wurde Anfang der 60er in genau dieser Region der sogenannte „Abisso del Bifurto“ entdeckt, eine der tiefsten Höhlen der Welt. In dieser Hinsicht ist IL BUCO mehr Reenactment statt Spielfilm: Nach einjährigem Casting hat Frammartino eine zwölfköpfige Gruppe aus tatsächlichen Höhlenforschern zusammengestellt. Diese stattet er mit einer Ausrüstung aus, wie sie Anno 1961 hochmodern gewesen ist, und schickt sie in besagten „Abgrund von Bifurto“ hinab. An ihrer Seite: Frammartino und sein Kameramann Renato Berta, der zwar bereits mit Godard, Rohmer und Rivette drehte, jedoch sicherlich noch nie in seinem Leben mit seiner Analogfilmkamera durch die beengenden Gänge eines stockfinsteren Höhlensystems etliche Meter unterhalb der Erdoberfläche kriechen musste.
Dokumentarisch wirkt es, wenn wir minutenlang beiwohnen, wie sich die Forscher immer tiefer ins Erdinnere vortasten, wie sie an Seilen über Schlünden baumeln, wie sie klaustrophobische Schächte besteigen. Aber Frammartino belässt es nicht dabei, uns an den Mittelpunkt der Erde zu lotsen, - als Kontrast gibt es das Draußen, und das sind die Momente, die gerade in Kombination mit den tellurischen Erkundungstouren möglicherweise am affizierendsten wirken: Wie sich ein neugieriger Esel ins verlassene Camp der Forscher stiehlt und mit der Schnauze in den Zelten herumwühlt; wie ein alter Mann, der in der Nähe der Höhlen lebt und den Forschern anfangs als Führer diente, in seiner ärmlichen Hütte unter Beisein einiger weniger Verwandter seine letzten Atemzüge tut; wie der Kreislauf des Lebens rastlos voranschreitet, die Hirten morgens aus ihren Federn steigen, die Kühe sich abends in ihre Ställe zurückziehen, die Sonne ihre Strahlen auf Wiesen verteilt, die Sterne mit ihrem Funkeln die Nacht erhellen.
Ein bewegender Moment zudem ganz am Anfang: Zwischen die Aufnahmen, die die Forscher beim Aufbruch zu ihrer Reise zeigen, schneidet Frammartino Ausschnitte einer zeitgenössischen Reportage über das Pirelli-Hochhaus, das 1960 in Mailand eingeweiht wird, und bei dem es sich um das seinerzeit höchste Gebäude Italiens handelte. Der ökonomische Boom, der das Land (und die Filmindustrie) erfasst, materialisiert sich in diesem rund 128 Meter hohen Bürogebäude – und Frammartino zoomt von dem Statussymbol eines seinen wirtschaftlichen Aufschwung erlebenden Landes hinfort, um den Fokus auf den Süden zu legen, wo in kalabrischen Dörfern die Zeit stillzustehen scheint, die Menschen noch leben wie vor hundert Jahren, Schweine geschlachtet, Kühe gemolken, die Schlieren an den Händen nicht mehr gezählt werden, wo man misstrauische Blicke auf eine Gruppe von Höhlenforscher wirft, die in die rurale Gegend gereist sind, um ihr ihre letzten Geheimnisse aus dem Erdinnern zu entreißen - und wo die Dorfbewohner kollektiv vor dem einzigen Schwarzweißfernseher der Ortschaft sitzen, um sich anzuschauen, welche Wolkenkratzer im fernen Norden derzeit aus dem Boden gestampft werden...