Paranza – Der Clan der Kinder - Claudio Giovannesi (2019)

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Moderator: jogiwan

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Maulwurf
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Paranza – Der Clan der Kinder - Claudio Giovannesi (2019)

Beitrag von Maulwurf »

 
Paranza – Der Clan der Kinder
La paranza dei bambini
Italien 2019
Regie: Claudio Giovannesi
Francesco Di Napoli, Viviana Aprea, Mattia Piano Del Balzo, Ciro Vecchione, Ciro Pellechia, Artem, Alfredo Turitto, Pasquale Marotta, Luca Nacarlo, Carmine Pizzo, Valentina Vannino, Aniello Arena, Roberto Carrano, Adam Jendoubi, Renato Carpentieri, Luigi Chiocca


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Tagtäglich erlebt Nicola, wie die Gangster, die sein Viertel in Neapel beherrschen, Angst verbreiten. Seine Mutter muss in ihrer kleinen Wäscherei Schutzgeld zahlen, und eine Jacke, die einem Kunden gehört, wird auch gleich noch mitgenommen. Und in der Milchbar müssen ein paar Leute schnurstracks das Lokal verlassen, bloß weil sie die Söhne eines früheren Bosses sind. Nicola möchte seinem Viertel die Gerechtigkeit wiedergeben und steigt in das Geschäft ein. Zuerst als Haschischverkäufer, dann als Schutzgeldeintreiber, und schließlich fordert er einen benachbarten Clan auf, ihn mit Waffen zu beliefern, damit er die Macht im Quartier übernehmen kann. Nicola ist 15 …
Was ist die Hölle? Ein Augenblick, in dem man hätte aufpassen sollen, aber es nicht getan hat. Das ist die Hölle ...
Jack Grimaldi
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Maulwurf
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Re: Paranza – Der Clan der Kinder - Claudio Giovannesi (2019)

Beitrag von Maulwurf »

Auf den ersten Blick haben mir ein wenig die Bosheit und das Niederdrückende von GOMORRHA - EINE REISE INS HERZ DER MAFIA gefehlt. Beide Buchvorlagen sind von Roberto Saviano, und beide Bücher sind erschreckende Beispiele dafür, wohin unsere Welt steuert (wobei sie das ja eigentlich schon immer getan hat …). Aber PARANZA ist filmischer aufbereitet als GOMORRHA, ist flüssiger erzählt und mit Charakteren bestückt, mit denen man mitfühlen kann, und wirkt dadurch erst ein wenig später nach; es braucht etwas länger bis man begreift, was für ein böses Stück der Welt man da gerade erlebt hat.

Das soll aber beileibe nicht heißen, dass PARANZA schlecht ist, um Himmels willen. Der Film ist einfach nur … anders. Die Kamera klebt lange Zeit förmlich an Nicola und seinen Freunden, sämtliche Figuren sind einfach da und werden nicht eingeführt oder vorgestellt (was auch nicht nötig ist, da praktisch jeder Charakter sich mit wenigen Worten sofort selbst erklärt), eine musikalische Untermalung ist nicht vorhanden, und die Laienschauspieler, die in den ärmeren Vierteln Neapels gecastet wurden, stellen sich selbst als das Thema des Films perfekt dar: Es geht um das Ende der Unschuld.

15-jährige Jungs, die beschließen ihr Viertel vom Unrat der Kriminalität zu befreien und selber zu den lokalen Herrschern zu werden, Spaß zu haben, eine Menge Geld zu verdienen, und dabei so zu bleiben wie sie sind. Nein, das funktioniert so nicht, und als 15-jähriger kann man das auch noch gar wissen. Nicola muss irgendwann feststellen, dass diese Sache eben kein Spiel ist, und dass auch gute Freunde einen hintergehen können. Dass die aufrichtige und reine Liebe zu einem Mädchen in einem anderen Viertel daran scheitern kann, dass dieses andere Viertel nicht mehr betreten werden darf, andernfalls man eine Kugel in den Kopf bekommt. Und dass, wer mit Waffen arbeitet, auch entsetzliches Leid über die Seinen bringt.

Das alles wissen vielleicht 15-jährige aus Kabul oder Bagdad, aber in Neapel ist die Welt noch eine ein klein wenig andere. Ist sie das? Ist sie wirklich anders? Eine Welt, die zwar streng hierarchisch strukturiert ist, und in der jemand mit der nötigen Chuzpe und der dazugehörigen Waffengewalt durchaus die Möglichkeit hat, sich nach oben durchzuboxen und zu –schießen. Die Konsequenzen dieses Ehrgeizes sind aber nicht abzusehen, jedenfalls nicht für einen Halbwüchsigen, der sich wie ein König fühlt, wenn er über den Markt geht und alle ihn grüßen. Klar, in seiner eigenen Vorstellung hat er nur Gutes über die Menschen des Viertels gebracht und alle lieben ihn. Dass ihn jemand aus seiner eigenen Clique hintergehen könnte? Undenkbar. Dass die Freundin, nur weil sie in einem anderen Stadtviertel wohnt, so weit weg sein könnte wie auf dem Mond? Unvorstellbar.

Giovannesi skizziert mit wenigen Strichen nur, aber dafür umso genauer und grausamer, eine Jugend zwischen Unterdrückung und Gewalt. Nicht irgendwo in einem Bürgerkriegsland am Ende der Welt, sondern mitten in Europa, mitten in unserer Welt, und damit dann doch wieder sehr nah an GOMORRHA. Nur eben anders.

PARANZA wird uns dabei fast wie ein Mockumentary präsentiert. Gemeinsam mit und ganz eng bei Nicola und seinen Freunden ziehen wir durch die engen Gassen, erleben die Ungerechtigkeiten, den Wunsch nach Abenteuern mit Mädchen, Fortgehen, Spaß haben, in einer Umwelt aufzuwachsen, die nicht von rivalisierenden Clans beherrscht wird. Der Schritt dies zu ändern ist fast logisch, man übernimmt die Macht eben selber. Und immer sind wir hautnah dabei, erleben mit diesen echten Straßenkindern das Ende der Jugend und den Beginn unendlicher Gewalt. Dabei entsteht nie ein Gefühl der Peinlichkeit, nie schwebt dieses arthousige Flair von Betroffenheit durch die Luft. Die Schauspieler sind einfach sie selbst, und das dadurch entstehende Flair ist erschreckend, spannend, aber eben auch authentisch. PARANZA wirkt oft niederschmetternd, aber niemals inszeniert, und das ist glaube ich seine größte Stärke.

7/10
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