Solitudine - Renato Polselli (1961)

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Salvatore Baccaro
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Solitudine - Renato Polselli (1961)

Beitrag von Salvatore Baccaro »

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Originaltitel: Solitudine

Produktionsland: Italien 1961

Regie: Renato Polselli

Darsteller: Rosario Borelli, Anthony Steffen, Tina Gloriani, Franca Dominici, Ubaldo Granata, Tecla Scarano, Annamaria Ubaldi

Heutzutage ist der 1922 geborene und 2006 verstorbene italienische Regisseur Renato Polselli, (wenn überhaupt), am ehesten noch berühmt-berüchtigt für die hysterischen Feuerwerke, die er in seinen sich rücksichtslos dem Wahnsinn verschreibenden, zwischen Avantgarde- und Genre-Kino pendelnden Werke der frühen 70ern à la DELIRIO CALDO oder LA VERITÀ SECONDO SATANA abfackelt. Dass er bereits in den 60ern zwei Vorstöße in Gefilde des mehr sinnlichen statt sinnstiftenden Gothic-Horrors unternommen hat, gehört schon eher zum Insider-Wissen: L’AMANTE DEL VAMPIRO (1960) und IL MOSTRO DELL’OPERA (1964) sind zwei Filme, in denen bereits viel von Polsellis späteren Attacken gegen die Konventionen des Mainstream-Filmemachens luzide aufscheinen. Eingekeilt zwischen diese beiden Vorstudien zur Polselli'schen Psychotronik-Poetik findet sich mit SOLITUDINE aus dem Jahre 1961 indes ein Streifen, den kaum etwas vereint mit den ihn umlagernden Schauermärchen, in denen die Welt von Logik und Vernunft durch Vampire und Opernphantome gründlich aus dem Lot gebracht wird.

Die titelgebende Einsamkeit durchzieht das triste Leben des Fischers Alfredo: Aufgewachsen ist der Waisenknabe bei Adoptivmutter Rosa, von der er zeitlebens das Gefühl hat, dass sie ihren leiblichen Sohn Paolo ihm gegenüber stets bevorzugt; auch mit dem Stiefbruder ist das Verhältnis nicht allzu rosig, lässt dieser Alfredo doch immer wieder spüren, wie stärker in der mütterlichen Gunst steht. Seine introvertierte Art stempelt Alfredo zudem in dem Küstenort, wo er aufwächst, seit jeher zum Außenseiter: Er fühlt sich unverstanden von der eigenen Familie, der Gesellschaft, ach was, der gesamten Welt. Einziger Lichtblick ist Maria, die Alfredo mindestens freundschaftliches Interesse entgegenbringt, und in die unser Held heimlich verliebt ist. Weniger freudig gestaltet sich das Zusammentreffen mit dem zwielichtigen Muollo, der zum wiederholten Male Alfredos Boot mieten möchte. Da Alfredo indes Lunte riecht, Muollo sei in halblegale Geschäfte verwickelt, verweigert er ihm diesmal den Zugriff auf seinen Kahn: Es kommt zum Streit, die Fäuste fliegen, und Alfredo, der sich gegenüber dem gesellschaftlich auf wesentlich soliderem Fundament stehendem Muollo in der unterlegenen Position befindet, muss sich auf dem Polizeirevier für seinen Gewaltausbruch verantworten. Rosa nimmt dieser neuerliche Beweis für die missratene Ader ihres Ziehsohns entsetzlich mit. Als sie Alfredo auf der Straße trifft, wendet sie sich wortlos von ihm ab, was diesen wiederum nur noch mehr in seiner Absicht verstärkt, seinem bisherigen Leben den Rücken zuzukehren, sprich, seine sieben Sachen zu packen und irgendwo zusammen mit Maria neu anzufangen. Oder eben, wenn es sein muss, auch ohne Maria, denn abends belauscht er ein Gespräch zwischen Rosa und Paolo, in dem sein Stiefbruder der Mutter in Aussicht stellt, er könne alsbald eine Verlobte über ihre Türschwelle tragen, - nämlich niemand anderes als Maria, auf die Paolo ebenfalls längst ein Auge geworfen hat. Als Paolo beginnt, Alfredo vor Maria schlechtzureden – unter anderem, indem er behauptet, der Bruder sei ein Frauenheld, der mit Mädchenherzen ein böses Spiel treiben würde –, wird Alfredo noch seine letzte Vertrauensperson entzogen. Verbittert bereitet er sich darauf vor, endgültig seine Zelte abzubrechen -, doch dann wird er Zeuge von Muollos nächtlichem Treiben, der offenbar Schmugglerware an Land bringen lässt. Damit nicht genug: Paolo scheint doch tatsächlich Muollos Spießgeselle zu sein! Vor Alfredos Augen beginnen die Beiden über die Hehlerware zu zanken; Muollo zückt eine Pistole; Paolo kommt dem Schuss mit einem Messerstich zuvor; Muollo ist auf der Stelle mausetot – und natürlich gerät sofort Alfredo in Verdacht, da der gesamte Ort von seinem kürzlichen Konflikt mit dem Ermordeten weiß. Nicht mal das Alibi, das der um den eigenen Hals fürchtende Paolo ihm gibt, um sich selbst eins zu verschaffen, kann ihn vor der Untersuchungshaft bewahren. Soll er den Stiefbruder verpfeifen – und wird ihm überhaupt irgendjemand glauben?

Obwohl SOLITUDINE im Fischermilieu spielt, dürfte sicher niemand auf die Idee kommen, dem Film eine sozialkritische Agenda andichten zu wollen, die ihn als Erbe neorealistischer Tradition ausweisen würde. Nein, das von Polselli mitverfasste Drehbuch möchte einfach nur eine kurzweilige Außenseitergeschichte erzählen, in der Rosario Borelli als (zugegebenermaßen recht blasser) James-Dean-Verschnitt im Weltschmerz schwelgt und nach tausend Niederschlägen am Ende doch noch das große Lebens- und Liebesglück findet. Der den Großteil der Laufzeit wie ein geprügelter Hund umherschleichende Sündenbock, (der mit über dreißig Lenzen jedoch ein bisschen zu alt für seine Rolle wirkt); der Bruder, der nach außen hin eine reine Weste hat, in Wirklichkeit aber mit einem Bein im kriminellem Untergrund steht, und letztlich auch vor Mord nicht zurückschreckt, um seine Haut zu retten; die junge Frau, hin und hergerissen zwischen zwei Männern, ein Engelchen auf der einen Schulter, ein Teufelchen auf der andern – das alles sind natürlich Figuren aus dem Baukasten und im Grunde keine der Situationen, in die Polselli seinen Alfredo bringt, kann für sich in Anspruch nehmen, besonders originell zu sein. Dennoch hat mich SOLITUDINE wirklich prächtig unterhalten – was wohl vor allem an der dynamischen Inszenierung liegt, die keinen Leerlauf zulässt und stets die richtige Mischung findet aus anrührenden Szenen, (wenn sich Alfredos Mutter einmal mehr mit blutendem Herz darüber grämt, dass ihre Beziehung zum Adoptivsohn in eine solche Schieflage geraten ist), komischen Einsprengseln, (für die vor allem eine tratschende, neugierige, polternde Fischersfrau zuständig ist, die sich ständig in nachbarschaftliche Belange einmischt, die sie im Grunde gar nichts angehen), und, gegen Ende, dezenten Ausflüge ins Film-Noiresque, (wenn im mitternächtlichen Nebel die Schmugglerboote öde Kanäle entlangrudern.) Gedreht wurde übrigens in der Küstenstadt Portici am Fuße des Vesuvs, deren Gassen Polselli in stimmungsvollen Schwarzweißbildern einfängt. Außerdem gibt es eine wirklich putzige Kinderdarstellerin, zwei musikalische Einlagen im Rahmen eines Rummels, (darunter ein Schlager, der darüber belehrt, dass man die eigene Mama auf Händen tragen soll), den späteren Italo-Western-Dauergast Anthony Steffen (noch unter dem Namen Antonio De Teffè), der als Paolo schon mal das Schurke-Sein üben darf, und einen Drehbuch-Credit für einen ebenfalls noch am Anfang seiner Karriere stehenden Antonio Margheriti.

Wie schon für den vier Jahre vorher entstandenen SOLO DIO MI FERMERÀ gilt auch bei SOLITUDINE, dass ich bloß einen einzigen Moment finden konnte, der heraussticht aus dem gleichmäßigen Strom der Bilder, und den man mit viel Wohlwollen als Vorverweis auf die hysterischen Exzesse von Polsellis Hauptwerken interpretieren könnte: Um sich mit der Mutter zu versöhnen, beschließt Alfredo in einem letzten Versuch des Friedenstiftens, ihr zum Namenstag der Heiligen Rosa ein besonderes Geschenk zu kaufen. Auf dem Weg zum Laden begegnet ihm ein älterer Herr, der scheinbar vor vielen Jahren sein Erzieher im Waisenhaus gewesen ist. Man plaudert freundlich miteinander, als der Greis aus heiterem Himmel einen Schwächeanfall erleidet. Der Mann schreit, fasst sich an den Hals, sinkt in Alfredos Arme. Suggeriert wird zwar, dass Alfredo, weil er seinem alten Freund Erste Hilfe leisten muss, zu spät zum Mittagessen kommt, und damit den Zorn der Mutter, die annimmt, er habe sich herumgetrieben, nur noch mehr auf sich zieht; wirklich ausformuliert wird das aber im weiteren Verlauf des Films nicht, weswegen dieser wirklich auffallend inbrünstig inszenierte Kollaps dann doch als relativ seltsamer Fremdkörper innerhalb eines Streifens steht, in dem sich ansonsten jeder Moment homogen an den nächsten fügt. Aber, wie gesagt, das ist nur eine klitzekleine Explosion in einem Film, der ansonsten mehr einer italienischen Variante von Nicholas Rays REBEL WITHOUT A CAUSE mit Neorealismus-Optik, einer ordentlichen Dosis mütterlicher Wehmut und einem Kriminalplot gleicht.
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